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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1136–1139

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Xeravits, Géza G., Nicklas, Tobias, and Isaac Kalimi [Eds.]

Titel/Untertitel:

Scriptural Authority in Early Judaism and Ancient Christian-ity.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. VIII, 381 S. = Deuterocanonical and Cognate Literature Studies, 16. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-029548-1.

Rezensent:

Martin Vahrenhorst

Der Band vereint Beiträge, die im Rahmen der Konferenz »The concept of Authority in Early Judaism« im Mai 2010 in Budapest vorgetragen wurden. Sie werden im Folgenden vorgestellt.
Stefan Schorch beschreibt die materiale Verbreitung von Toratexten in Qumran und in Massada. Dabei stellt sich heraus, dass in Qumran unterschiedliche Texttypen nebeneinander verwendet wurden, während in Massada (200–300 Jahre später) nur noch der proto-masoretische Texttyp belegt sei (2). Inhaltlich weisen die Qumrantexte vielfältige Bezüge zur Tora auf, wobei sich eine Tendenz zum wörtlich scheinenden Zitat entwickelt, ohne dass der Text wirklich wörtlich zitiert werde (4). Die unterschiedlichen Textüberlieferungen in Dtn 12,5 ( רחב oder רחבי) bzw. Dtn 27,4 (Ebal oder Garizim) deuten ebenfalls darauf hin, dass im 2. Jh. v. Chr. der Wortlaut des Textes an Bedeutung gewann und darum in Judäa eine Korrektur provozierte (9). So lasse sich zwischen dem 2. Jh. v. und dem 2. Jh. n. Chr. eine Entwicklung von allgemein verbreiteten unterschiedlichen Textformen hin zu gruppenspezifischen Textformen beobachten (11). Damit verbunden sei das Aufkommen des Gedankens, dass Hebräisch die heilige Sprache sei (Jub 12,25 ff.; 4Q464; Sirach). Schorch fragt abschließend, was das für die LXX bedeutet habe, und weist auf Unterschiede in der Legende bei Aristeas und Philo hin. Erst Letzterer mache auch den LXX-Text zu einem wörtlich inspirierten Text. In Judäa habe sich dieses Konzept nicht durchgesetzt (das zeige die Wiedergabe der Legende bei Josephus). Auch die Verfasser des Neuen Testaments hätten sich nicht an die Textform ihrer griechischen Bibel gebunden gefühlt (13).
Benjamin G. Wright widmet sich dem einem nichtjüdischen Verfasser zugeschriebenen Arist. Bei ihm handele es sich um einen »myth of origins« (45) für die LXX, die inzwischen ohne Bezug zum hebräischen Text gelesen wurde. Der Arist. führe einen »discourse of authority« im Blick auf die Bedeutung der LXX für Griechisch sprechende Juden (46). Welche Funktion könnte die Zuschreibung an einen nichtjüdischen Autor gehabt haben? Wright gibt verschiedene Antworten: Zum einen gewinne die Geschichte, die der Text erzählt, an Plausibilität (55). Zum anderen werde den alexandrinischen Juden nicht nur vor Augen geführt, dass es sich bei der LXX tatsächlich um einen autoritativen Text handele, sondern auch, dass selbst die Nichtjuden verstanden hätten, dass die jüdischen Gesetze dazu dienten, Werte zu vermitteln, die die gebildete nichtjüdische Welt teile. Darum stünden sie einer »Jewish participation in the larger culture« nicht im Weg (58).
Sean A. Adams untersucht die Schriftzitate in Bar 1,15–3,8. Zunächst problematisiert er die Definition eines Zitats (65 ff.), um sich dann vornehmlich am ersten Kriterium von D.-A. Kochs Kriterien für das Vorliegen eines Zitats zu orientieren (das Vorhandensein einer eindeutigen Einleitungsformel). Vier eindeutige Schriftzitate (Bar 2,2–3; 2,20–23; 2,24; 2,28–35) bespricht er sukzessive. Keines dieser Zitate entstamme einem einzigen bestimmten Text (»which can often offend the sensibilities of modern readers and scholars« [78]), sondern kombiniere kreativ verschiedene Texte, um sie in den aktuellen Kontext des Buchs und seiner Leserschaft einzupassen (79). Adams nennt dieses Verfahren »›refraiming‹ Scripture« (79 f.). Es ermögliche dem Verfasser, die ursprüngliche Botschaft so zu formulieren, dass sie für seine Leserschaft relevant werde (80). Verfolgt man Adams’ gründliche Analysen (68-78), so stellt man sich jedoch zuweilen die Frage, ob die naive Annahme, dass der Verfasser frei aus dem Gedächtnis zitiert, nicht doch wahrscheinlicher ist, als dass er ohne den Text vor Augen (vgl. 78) zu haben verschiedene Texttraditionen ineinander verwebt.
Karin Schöpflin untersucht Autoritätskonzepte im Tob, in dem Schrift­-autorität und die exemplarische Autorität der Vorfahren ineinandergreifen. Als autoritativ zitiert Tob Texte aus dem Dodekapropheton (Am 8,10; Nahum bzw. Jona). Dabei werde deutlich, wie das Buch Propheten verstanden habe: »Prophets predict future events, their words are trustworthy and reliable. If you listen to them and apply their message to your own situation you will take benefit from it.« (89) Ohne dass ausdrücklich daraus zitiert werden muss, trete ferner die Tora als autoritativer Text in den Blick (91 ff.). Tob verwendet relativ formalisierte Wendungen, die allesamt mit κατά beginnen – auch wenn sich im Pentateuch keine entsprechende Stelle finde. Möglicherweise gehöre auch »ancestral tradition« zur Tora (92 [nach Collins]). Schließlich erscheinen auch die Vorfahren selbst als Autorität, von denen Weisungen ausgingen (Tobit verwendet hier das Wortfeld ἐντολή [96]). Als exemplarische Autorität tre-ten zudem Tobits Leben und seine Rede (97 ff.) in Erscheinung, angereichert mit einer Fülle biblischer Anspielungen (105). Hinter all dem steht letztlich die Autorität Gottes selbst, die sich durch autoritative Medien und Mittler mitteile (105).
Bradley C. Gregory nimmt Sir als inspirierten Vermittler autoritativer Traditionen in den Blick, für den wohl die Tora und das Buch der Sprüche normative Texte waren. Gregory untersucht zwei Fälle, in denen Sir sich entweder gegen die schriftlich vorliegende Tradition stellt oder im Fall miteinander konkurrierender Traditionen Partei ergreift. Das erste Beispiel betrifft die Frage, ob man als Bürge für jemanden einstehen darf. Spr 11,15; 17,18 rät vehement davon ab (111 ff.), Sir selbst versteht dies hingegen als gebotenen Akt großzügiger Barmherzigkeit (Sir 29 [115 f.]). Sir beruft sich dabei nicht auf eine Toratradition (die Tora schweigt zu dem Thema). »[T]he teaching of proverbs is subordinated […] to Ben Sira’s understanding of the Torah and its ethical implications« (116). Damit tritt der Schriftgelehrte als inspirierter Vermittler von Traditionen in den Blick, der sich selbst als jemand verstehe, der die Trauben anderer ernte, aber sie in seiner eigenen Kelter weiterverarbeite (124 nach Sir 33,16 ff.). Das gebe ihm die Autorität, in konkreten Fällen anders zu entscheiden, als die schriftlich vorliegende Tradition dies tue.
Friedrich V. Reiterers Beitrag zu Sir setzt mit einem instruktiven Durchgang durch 2Kön 22,3–20 und 2Chr 34,8–28 ein, um zu untersuchen, ob die Vorstellung von »Autorität von Offenbartem und zugleich schriftlich Zugänglichem« in der Antike schon bekannt war (129). Er kommt zu einem positiven Ergebnis, das er dadurch akzentuiert sieht, dass »die Umsetzung des Verschrifteten eine hervorragende Rolle spielt. Die Konkretisierung der Offenbarung ist gefordert« (143). Von dieser Voraussetzung wendet Reiterer sich dem Sirachbuch selbst zu. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht das Verständnis von Bildung, deren »Norm und Maß die ›biblische Überlieferung‹« ist (150). Offenbarung an sich genüge zu Sirachs Zeiten als Argument nicht mehr: Sie müsse angeeignet und die Gegenwart in ihrem Licht gedeutet werden (155). Damit diene Bildung auch zur religiösen »Existenzversicherung« (155). Letztlich sei es Gott, der den Schriftgelehrten zu diesem Unterfangen begabe (161).
Andrew T. Glicksmans Beitrag geht von dem Befund aus, dass die Qumrantexte eine »fluidity of scriptual authority« aufweisen: Weder habe es einen fest umrissenen Kanon gegeben, noch habe man biblische und außerbiblische Traditionen streng voneinander unterschieden (167). Glicksman fragt nun mit Blick auf die Weisheit, ob sich das in der griechischsprachigen Diaspora ähnlich verhalten habe. Entscheidend sei es für den Vf., ob eine schriftliche oder mündliche Tradition göttlichen Ursprungs ist, dann habe sie Autorität (182). Dies erstrecke sich auch auf Menschen, die Gottes Wort in der Welt manifest werden lassen. Für Ps. Salomo gelten Schriften aus allen Teilen des späteren Kanons als autoritativ und sie können sich gegenseitig auslegen (182). Gleiches gilt aber auch für außerbiblische Traditionen (182). Schließlich gilt ihm auch sein eigenes Werk als autoritativ (wie die Zuschreibung an den König Salomo zeige), denn er stellt all diese Traditionen neu zusammen und interpretiert sie für seine Gemeinde (182).
John C. Endres setzt bei der Frage ein, ob das Jub die Rolle der Schrift, die es neu erzählt, eher stärkt oder eher schwächt (187). Er geht von einer Stärkung aus und liest das Jub als »interpretive guide to the Scriptures« (188). Es repräsentiere den Inhalt der himmlischen Tafeln, den der Engel der Gegenwart Mose auf dem Sinai diktiert. Das Sinaigeschehen sei Quelle der Autorität der Tora und des Jub (202.203). Dabei lege der inhaltliche Akzent auf den Geboten, die Israels Identität gegenüber den Völkern schärfen (202).
Paul Metzger untersucht die Tragweite des Konzepts der geheimen Offenbarung im 4Esr. Der Verfasser dieser Schrift kennt und akzeptiert 24 kanonische Bücher (216). An zwei Stellen baut der Erzähler jedoch einen Vorbehalt in sein Werk ein (4Esr 12,37; 14): Der Verfasser bekommt den Auftrag, etwas aufzuschreiben, aber noch nicht zu veröffentlichen (216). Damit bereite er den Anspruch vor, dass auch seine eigene Schrift autoritativen Charakter habe. »Ein Kanon von Schriften, der gerade die Varianz der Überlieferung bändigen und die Möglichkeit immer neuer Gottesoffenbarungen abwehren soll, wird durch das Konzept einer geheimen Offenbarung unmöglich gemacht« (221). Darin besteht – bewusst oder unbewusst – der besondere Beitrag dieser Schrift zur Kanondiskussion an der Schwelle zum 2. Jh. (210).
Balázs Tamási fragt nach Autorisierungsstrategien im syrBar. Er untersucht dazu die Darstellung der Baruchgestalt, die der Verfasser als zweiten Jeremia bzw. Mose darstellt (228 ff.). Zugleich ist Baruch exemplarischer Ausleger der Tora. Autorität gewinne das Buch zudem durch die literarischen Gattungen, die es verwendet: Apokalypse, Brief und Testament (248).
Rob Kugler untersucht die Bedeutung, die die Schrift für das Testament Hiobs hatte. Er geht von der Beobachtung aus, dass das Buch in einem »biblischen Stil« geschrieben sei (»writing scriptually« [251]), und führt dies an zwei Beispielen aus (Lev 19,13 in 12,4 und Gen 4,21 in 14,1–5). Abschließend stellt er die Frage, was es über den autoritativen Charakter biblischer Schriften im antiken Judentum aussage, wenn Texte in biblischem Stil geschrieben werden (257).
Mit dem Beitrag von Levente B. Martos wendet sich der Sammelband den neutestamentlichen Schriften zu. Zunächst geht es um David als Verfasser der Psalmen in den Psalmzitaten des Röm. David stehe als Verfasser der Psalmen im Judentum des 1. Jh.s außer Frage (265), zudem wird David dreimal explizit erwähnt. Damit sei Davids Biographie auch für Paulus’ Hintergrund der Psalmen. Nach Martos steht David für den Sünder, der Gottes Barmherzigkeit in seinem eigenen Leben erfahren habe und bezeuge (274). Martos fragt abschließend, ob David damit nicht – ähnlich wie Jesaja – zu einem Modell für Paulus werde (277).
Paul Foster untersucht die Autorität der Schrift in der Logienquelle. Sein Durchgang durch die einschlägigen Rekurse auf die Schrift kommt zu dem Ergebnis, dass diese Fragestellung dem Befund eigentlich nicht gerecht werde. Der Logienquelle gehe es um die Autorität Jesu, die Schrift unterstütze diese (»supporting role« [302]).
Heike Hötzinger analysiert die Stephanusperikope (Apg 6,1–8,3), die »durch ihren Schriftgebrauch zur Selbstvergewisserung religiöser Identität […] und zwar an der Schwelle vor dem Eintreten in eine neue Etappe des ›Weges des Heils‹« beitrage (339). Das geschehe unter anderem durch Erzählstrategien, die biblische Erinnerungen wachrufen (z. B. Num 11,13–17 in Apg 6,1–7), durch Identifizierung der Protagonisten mit Israels Propheten und Darstellung der Gegner im Licht biblischer Unheilsgestalten (339).
Tobias Nicklas beleuchtet abschließend die frühchristlichen Ansprüche auf Israels Schriften vor dem Hintergrund des gegenwärtigen jüdisch-christlichen Dialogs. Er relativiert die beliebte Behauptung, dass Kirche und Israel die gleiche Schrift teilen (348). Ausgehend von 1Kor 15,3b–5 erläutert er die »frühchristliche Hermeneutik von Christus her bzw. auf Christus hin«. Hinter diesem Text stehe eine Erfahrung, die im Licht der Schriften Israel gedeutet wurde (352). Dies habe eine Suchbewegung in Gang gesetzt, die Nicklas im Blick auf das Joh und das Mt näher verfolgt.
Nicklas geht sodann einen Schritt weiter und beleuchtet den Konflikt um Textverständnis und Textform im Neuen Testament und der Alten Kirche. Der letzte Abschnitt schlägt den Bogen zur aktuellen Fragestellung zurück: Es bleibt zu konstatieren, dass Juden und Christen gleiche Texte unterschiedlich lesen – aber sie tun das mit dem Anspruch, hinter ihnen den einen Gott zu finden (365).
Die Beiträge dieses Bandes bringen Leserinnen und Leser auf den gegenwärtigen Stand der Forschung über den Umgang mit als normativ geltenden Schriften im antiken Judentum und im sich formierenden Christentum. Besonders wertvoll ist, dass sie den Be­reich der zwischentestamentlichen Literatur exemplarisch erschließen. Sie lassen erkennen, wie weit sich die Forschung in den letzten Jahren von den klassischen Alternativen »masoretischer Text oder LXX«, »wörtliches Zitat oder freie Wiedergabe« entfernt hat. So tritt in den Blick, wie vielgestaltig die Verwendung normativer Texte ante et post Christum natum ausfallen konnten.