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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1064–1066

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Stümke, Volker, u. Matthias Gillner[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedensethik im 20. Jahrhundert.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2011. 279 S. m. Abb. = Theologie und Frieden, 42. Geb. EUR 44,90. ISBN 978-3-17-021837-6.

Rezensent:

Götz Planer-Friedrich

Die philosophische wie die theologische Friedensethik hat im 20. Jh. alle Variationen vom Bellizismus bis zum Pazifismus durchlaufen. Im 21. Jh. hat sich weitgehend die Meinung durchgesetzt, die Friedensethik habe einen Paradigmenwechsel von der Lehre vom gerechten Krieg zur Lehre vom gerechten Frieden vollzogen. Das vorliegende Buch legt ein etwas differenzierteres Urteil nahe. Es geht auf ein Symposium zurück, das im Rahmen des »Internationalen Forums Berufsethik für militärische Führungskräfte« an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg stattfand. Worum es dabei im Speziellen geht, erfährt man in dem Beitrag von Dieter Baumann im letzten Teil des Buches, das in Historische Impulse, Neue Anregungen und Aktuelle Debatten gegliedert ist.
Die erste Hälfte des 20. Jh.s mit ihrem militaristischen Gepränge und ihrer bellizistischen Ethik bleibt ausgeblendet. Dieter Ackermann beschreibt die Friedensethik der EKD nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Das »Nie wieder Krieg« der Nachkriegszeit stellt er in den Zusammenhang mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis und erklärt es aus dieser »emotionalen Situation« heraus. Mit Beginn des »Kalten Krieges« erschien die Wiederbewaffnung Westdeutschlands politisch notwendig, was aber in der EKD zu Kontroversen führte. Da kommt es 1950 auf der Synode in Spandau zu dem salomonischen Urteil: Man könne diese Frage »im Glauben verschieden« beantworten. Seitdem gibt es in der EKD so etwas wie eine außersynodale Opposition, die den politisch angepassten Kurs der Gesamtkirche kritisiert. Dazu gehört auch der »Streit um die Atombewaffnung«, den Volker Stümke nachzeichnet. Sehr schön listet er vor allem die damals »wichtigsten Argumente« und deren Protagonisten auf. Die Heidelberger Thesen von 1959, in denen die Abschreckung mit Atomwaffen als »heute noch mögliche christliche« Sicherheitsstrategie bezeichnet wird, haben in der EKD für längere Zeit als allgemein akzeptabel gegolten. Doch dann kam mit dem Doppelbeschluss der Nato von Neuem eine heftige Kontroverse auf.
Während die evangelische Theologin Angelika Dörfler-Dierken die dazu geführten Aktionen, Diskussionen und Demonstrationen Anfang der 80er Jahre beschreibt, konstatiert Generalmajor Robert Bergmann in einem kurzen Statement dazu ziemlich selbstsicher: »Die Geschichte hat uns Recht gegeben.« (73) Schon seinerzeit galten die Friedensfreunde als »wahrnehmungsgestört«, wie Dörfler-Dierken aus dem Band »Die Bundeswehr 1955 bis 2005« zitiert. Aber auch der Autor Ludwig Jacob meint, es habe damals einen hohen Grad an »Emotionalisierung, ja Hysterisierung« gegeben (90). Dass es oft eine verengte Sicht auf die jeweilige Situation gegeben hat, erklärt die Autorin mit dem Empfinden, die Elterngeneration habe in der Zeit der Naziherrschaft moralisch versagt, was nie wieder passieren dürfe. »Dass es Recht schaffende militärische Gewalt – auf Dauer unterhalb der Schwelle des Atomkrieges – geben könne, galt als ausgeschlossen.« (79) Die Autorin plädiert dafür, die damals »aufgekommenen Ideen der gewaltfreien Konflikttransformation nicht als Illusion von Phantasten zu bekämpfen, sondern sie als Potential zu betrachten.« (86)
Oberst Ludwig Jacob referiert, wie es weiterging nach Ende des Kalten Krieges. Auch in der neuen Nato-Strategie sei »die nukleare Abschreckung weiterhin ein zentrales Element der Sicherheit«. Das sieht er durchaus kritisch. Denn: »Die Zeit ist reif, Nuklearwaffen aus den Verteidigungskonzepten zu entfernen.« (97)
Den friedensethischen Positionen der katholischen wie der evangelischen Kirche in Deutschland hat Hans Langendörfer, der langjährige Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, einen kenntnisreichen Beitrag gewidmet, in den er allerdings die beiden neuesten Verlautbarungen, »Gerechter Friede« (2000) von katholischer Seite und »Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen« (2007) von Seiten der EKD, nicht einbezogen hat. Hier wird nämlich die ökumenische Annäherung besonders greifbar. Leider geht er auch auf die Wirkung der Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel 1989 nicht weiter ein. Auf politischer Ebene hebt er dafür den Einsatz der KSZE für den Frieden in Europa hervor. Jetzt stehen freilich neue Fragen – etwa nach der Erlaubtheit humanitärer Interventionen – zur Debatte. Für die christliche Friedensethik bekommen in diesem Falle die Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg neue Bedeutung. Das gilt unabhängig davon, dass die EKD gerade Abschied von dieser Lehre genommen hat.
Michael Haspel reflektiert die Situation nach dem Afghanistankrieg. Die Stellungnahme der EKD zum Einsatz in Afghanistan (2013) konnte er dabei noch nicht verwenden. Ihm ist unbedingt zuzustimmen, dass wir nicht nur eine elaborierte Friedensethik benötigen, sondern auch eine »Ethik des Politischen«. Denn in den realen Konflikten mit Gewaltausbrüchen geht es bedauerlicherweise zunächst weder um Recht noch um Ethik. Sowohl die USA (s. Irakkrieg) als auch die Russen (s. neuerdings die Okkupation der Krim) scheren sich wenig um internationales Recht und UNO-Beschlüsse, wenn es um ihre ureigensten Interessen geht. Deshalb ist es auch für Veronika Bock eine offene Frage, was das »Weltethos-Projekt« letztendlich bewirken kann. Sie stellt das von Hans Küng initiierte Projekt dem »Clash of Civilizations« gegenüber, den zeitnah Samuel Huntington prophezeit hatte.
Auf den Anlass des Symposiums geht der Schweizer Berufsoffizier Dieter Baumann näher ein. Er schreibt über »integrative Militärethik«, als hätten wir bereits internationale Truppenverbände, die unter dem Kommando der UNO operieren, so wie es Boutros Boutros Ghali als UNO-Generalsekretär 1993 mit Verweis auf die unausgefüllten Artikel 43 und 44 der UNO-Charta gefordert hatte. Doch davon ist hier gar nicht die Rede. Seinen löblichen ethischen Grundsätzen und Detail-Vorschlägen fehlt der konkrete Bezugspunkt. Wie nämlich eine Militär- oder Soldaten-Ethik auf nationaler oder bestenfalls multinationaler Basis irgendetwas zu einer friedlicheren Welt beitragen kann, ist schwer vorstellbar.
Man merkt, dass die Bundeswehrhochschule die Federführung bei dieser Publikation in der Hand hatte, auch wenn durchaus nicht alle Beiträge aus dem Dunstkreis der Bundeswehr stammen. Doch zu nicht-militärischen Optionen bei Konfliktlösungen wird nur in zwei Fällen ausdrücklich Stellung genommen: einmal in dem Beitrag zu Bonhoeffers Friedensethik von Johannes von Lüpke. Da zitiert der Autor jene wirkungsvolle Stelle, wo es heißt: »Wir sollen uns […] nicht vor dem Wort Pazifismus scheuen. So gewiss wir das letzte pacem facere Gott anheimgeben, so gewiss sollen auch wir pacem facere zur Überwindung des Krieges.« (20, Anm. 38) Das andere Beispiel für eine Ethik der Gewaltfreiheit ist Martin Leiners Aufsatz zu Stanley Hauerwas. Dieser US-amerikanische Me­thodist war als Friedensethiker beeinflusst von Alasdair Mac Intyre und vor allem von dem Mennoniten John Howard Yoder. Er versteht Ge­waltlosigkeit als transzendentales Element christlicher Ethik. So sei sie besser lebbar und politisch vermittelbar. Außerdem nimmt Hauerwas theologisch ganz ernst, dass mit Christus das Reich Gottes – nicht nur nahe herbeigekommen, sondern schon mitten unter uns ist. Seine Schwäche sei, meint Leiner, dass es »nicht wirklich zum politischen Diskurs kommt« (166).