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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

59–61

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Forster, E. und dem Konvent der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard, Eibingen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bingen, Hildegard von: Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1997. 520 S. m. Abb. gr.8. Geb. DM 84,-. ISBN 3-451-26162-6.

Rezensent:

Peter Dinzelbacher

Eine Berühmtheit in ihrer Epoche, war Hildegard von Bermersheim nach dem 12. Jh. weitgehend vergessen, wie die geringe Zahl der Handschriften ihrer Werke und die Verdrängung der Originaltexte durch wesentlich öfter kopierte Auszüge zeigt. Ihr heutiger Bekanntheitsgrad steht so in deutlichem Gegensatz zur früheren Nachwirkung ihres uvres. Das Interesse an der benediktinischen Seherin kommt zur Zeit aus ziemlich verschiedenen Richtungen, nämlich der katholisch-devotionellen, der kommerziell-pseudomedizinischen, der new-age-bewegten, der feministischen und der mediävistisch-historischen. Jede dieser Richtungen bringt permanent - und nun, zum Jubiläumsjahr, besonders verstärkt - zahlreiche Publikationen zu Hildegard auf den Buchmarkt, von denen freilich ein großer Teil wissenschaftlich unhaltbar bis absichtlich irreführend zu nennen ist, vor allem, aber keineswegs nur, im Bereich der sog. Hildegard-Medizin.

Welcher der genannten Motivationen der hier anzuzeigende Band seine Existenz verdankt, dessen Titel anscheinend von der Birgitta von Schweden-Festschrift Santa Brigida profeta dei tempi nuovi, Roma 1993 angeregt ist, lassen bereits Herausgeber und Verlag erraten. Er beginnt mit den Empfehlungen von nicht weniger als vier katholischen Bischöfen und endet mit einem Gedicht "Zu Ehren der hl. Hildegard" aus der Feder einer Ordensfrau. Dazwischen finden sich (teilweise sehr kurze und mehrfach nur bereits an anderer Stelle Publiziertes wiederholende) Beiträge von 31 Autorinnen, von denen hier nur jene zu erwähnen sind, die für wissenschaftlich Forschende von größerem Interesse sein könnten. Protreptika zur Meditation wie etwa der, den "eine erfahrene und gesuchte Exerzitienbegleiterin" OSB (516) beisteuerte, entziehen sich naturgemäß einer mediävistischen Besprechung.

Nützlich, um auf diese erst 1992 edierte Quelle aufmerksam zu machen, ist die Übersetzung der 1137 verfaßten Vita von Hildegards Lehrerin Jutta von Sponheim von F. Staab; sie erlaubt einen Einblick in das Leben der jungen Visionärin im Inklusorium auf dem Disibodenberg. Der Vf. hat "die erste historisch-kritische Hildegard-Biographie" (520) angekündigt, die mit Interesse zu erwarten ist. Auf einen bemerkenswerten Aspekt des Verständnisses Hildegards durch ihre Hagiographen macht B. Newman aufmerksam: während sie zuerst ganz als Prophetin begriffen wurde, als die sie sich auch selbst verstand, interpretierte sie die zweite Generation der Vitenschreiber schon mehr nach dem Paradigma der Mystikerin, wie es damals eben in der frühen Beginenbewegung aufkam. M. Klaes behandelt kurz die Überlieferung von Hildegards Briefen, die, wie man seit Van Ackers bahnbrechender Studie (Rev. Bénédictine 98/99, 1988/89) weiß, von ihr selbst heftig verfälscht wurden - "bewußte Bearbeitung", wie es Klaes begütigend nennt (166).

Besonders intensiv rezipiert - auch als New Age-Tanzrhythmen in Discos - wird zur Zeit Hildegards Musik vermittels von Rekonstruktion durch verschiedene Gruppen. Der umstrittenen Frage nach den Eigenheiten von Hildegards Melodien gehen hier K. Schlager und B. Thornton nach; doch vgl. m. E. überzeugender A. Kreutziger-Herr in: Beutin, W., Bütow, Th. (Hgg.), Europäische Mystik vom Hochmittelalter zum Barock, Frankfurt 1998, 67-96. Kunsthistorische Fragestellungen verfolgen E. Saurma-Jeltsch und Chr. Meier. Erstere, basierend nur auf Stiluntersuchungen, d. h. ohne Berücksichtigung der Ikonographie, weist die Rupertsberger Scivias-Handschrift zwar überzeugend einem professionellen Atelier zu, möchte sie aber weniger überzeugend erst nach Hildegards Tod datieren. Dies aufgrund u. a. der oben flachen Schildform, von der sie (in Unkenntnis von H. Nickel, Der mittelalterliche Reiterschild des Abendlandes, Diss. Berlin 1958, 16) meint, sie sei erst ab 1180 zu belegen; faktisch erscheint sie jedoch in der Großplastik ab 1140 und in der Siegelkunst ab 1150. Letztere bietet hier ein weiteres Mal eine Vorveröffentlichung eines Kapitels ihrer seit etwa 15 Jahren angekündigten Monographie über Text und Bild bei Hildegard, und zwar über das Treten auf den Kopf des Drachens/Teufels.

Den (heute vor allem ob ihrer ganzheitlichen Sehweise beliebten) naturwissenschaftlichen Schriften wendet sich I. Müller zu, die die deutschen Worte aus "De simplicibus medicinis" zusammenstellt und zeigt, daß sie keineswegs ohne Vorbilder in der mittelalterlichen Drogenterminologie sind. Auf andere Vorbilder weist auch L. Moulinier hin, so daß das Bild der ihre Heilkunde nur aus ihren Offenbarungen beziehenden Seherin, das Hildegard von sich selbst zeichnete, endgültig widerlegt ist.

Was die Rezeption betrifft, so wird die in England/Amerika und die in Japan thematisiert, sowie ihre Verehrung als Heilige in Deutschland. Weitere Aufsätze behandeln Spezialfragen; so untersucht z. B. A. Carlevaris die Rolle Benedikts im Werk der Visionärin, oder P. Dronke verweist auf eine mögliche Orientierung Hildegards an der antiken Sibylle; einige Beiträge sammeln Stellen zu bestimmten Begriffen in Hildegards Werken.

Eine Reihe von Angaben in diesem Buch ist allerdings sachlich falsch, etwa: Hildegards Gedichte stellten den größen Gedichtzyklus einer Frau des Mittelalters dar (31 - als ob es keine Marie de France oder Christine de Pizan gegeben hätte), Bernhard von Clairvaux habe Citeaux [sic!] und die "Zisterzienserbewegung" gegründet (37 - das Kloster Cîteaux bestand schon 15 Jahre, als Bernhard dort Mönch wurde), Hildegards Vita sei die erste "Autohagiographie" des Mittelalters (126 - als ob nicht die ähnlich auf Autobiographischem basierenden Viten z. B. der Aldegunde von Maubeuge oder des Anskar von Bremen ungleich älter wären).

In summa bestätigen auch viele Artikel in dieser Publikation wieder, daß weder die Lektüre gefällig übersetzter Auszüge aus Hildegards Werken noch die gefällige Betrachtung über ihr Werk Denken und Vorstellungsweise der Benediktinerin richtig vermitteln, sondern nur die Lektüre der Originaltexte. Wiewohl von diesen erfreulich viele in den letzten Jahren in kritischen Ausgaben vor allem im Corpus Christianorum vorgelegt wurden, haben manche Autorinnen auch dieses Bandes gemeint, darauf verzichten zu können. Die Edition der noch ausstehenden Texte zu befördern, hätte die Hildegard-Forschung freilich weitergebracht, als die zahlreichen Festschriften und Kongreßbände zu ihrem 900. Geburtstag, die sich, sit venia verbo, eher selten durch innovative Fragestellungen auszeichnen, doch regelmäßig durch die Ausklammerung von Themen, die zwar faktisch einen großen Raum in Hildegards Denken und Diktieren ausmachten - wie ihre ausführlichen Schilderungen der Jenseitsstrafen (vgl. z. B. "Liber vitae meritorum" II) -, die aber nach heutigen Begriffen so gar nicht in die verehrungsvollen Bilder von der heiligen Theologin, Seelenführerin, Ärztin, Dichterin, Komponistin ... passen wollen, die die historische Persönlichkeit immer wieder verdrängen.