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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1051–1053

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Zimmermann, Florian

Titel/Untertitel:

Verdienst und Vergeltung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. X, 181 S. = Philosophische Untersuchungen, 31. Lw. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-151741-9.

Rezensent:

Jörg Dierken

Theologische Leser dürften bei Begriffen wie »Verdienst« und »Vergeltung« zunächst an kontroverstheologische Streitfragen im Umfeld der Christologie denken. Die Debatten über Gnadenlehre und Rechtfertigungsglauben gingen und gehen darum, ob Gott als zornig vergeltend oder gnädig vergebend zu verstehen sei, ob er vergeltende Strafe erlassen könne oder die Vergeltung der Sünden selbst in Jesus Christus auf sich genommen habe, ob daher die Rechtfertigung des Sünders mit verdienstlichen Werken einhergehe oder ohne dessen Verdienst allein aus Glaube erfolge. In reformatorischer Perspektive führte eine starre Vergeltungslogik zur christologischen Neufassung des Motivs von der Gerechtigkeit Gottes, und ein menschliches Rechnen in Verdiensten auf dem Weg zum Heil erschien als unheilvolle Verkehrung des Gottesverhältnisses. Wenn aber der Sünder ohne alles Verdienst nur durch den Glauben gerechtfertigt wird, kommen Gegenfragen nach der Rationalität des Ethischen und der geistlichen Ordnung des Heils auf – nicht nur im Lager der Altgläubigen. Die Mehrsinnigkeit der Begriffe Verdienst und Vergeltung lassen auch in der Theologie nach der Klärung dieser ursprünglich juristischen Begriffe fragen. Darum kann ihre rechtstheoretische Erörterung auch Orientierungsgewinn in religiöser Hinsicht bieten.
Florian Zimmermann fokussiert in seiner Konstanzer philosophischen Dissertation das »Warum« und »Wozu« der Strafe. Während klassische Retributionstheorien auf Vergeltung der in der Vergangenheit vom Täter am Verbrechensopfer verübten Übel durch Verhängung neuer Übel gegenüber dem Täter abstellen, zielen neuere Präventionstheorien auf die Verhütung zukünftiger Straftaten durch Androhung von Strafübeln. In beiden Fällen hängt die Ge­rechtigkeit der Strafe und mithin der Rechtsordnung selbst an der Korrelation mit der Schwere der Tat ohne Ansehen des Täters: Er muss bekommen, was er verdient – so die aus der Vergeltungstheorie stammende Grundbedeutung des Verdienstbegriffs. Beide Theorien sind aber mit etlichen Begründungsproblemen belastet, wie Z. in einem ersten Zugriff darstellt (4–59): Keine Vergeltung revoziert geschehenes Übel, präventive Erfolge der Verbrechensverhinderung sind empirisch nicht messbar, jeder faktische Strafvollzug ist bereits eine Verfehlung des Präventionszwecks. Das hat in jüngster Zeit zu zunehmenden Reserven gegenüber dem Präventionalismus geführt, nachdem er in der Moderne zunächst die älteren Vergeltungstheorien abgelöst hatte. Die jüngst wieder in den Vordergrund drängenden Retributionstheorien sind freilich mit dem Problem belastet, dass die erforderliche Äquivalenz der Übel von Tat und Strafe, sofern sie über reinen Schadensersatz hinausreicht, kaum erreichbar ist. Irreversible Schäden können nicht wiedergutgemacht werden, ungleiche Bedingungen bei verschiedenen Tätern werden trotz gleicher Schädigung des Opfers unterschiedlich beurteilt – kurz: Die Vergeltung erfolgt niemals exakt, obwohl Proportionalität ihre Bedingung ist. Additive Hilfskonstruktionen, die gegenüber dem eher knapp behandelten systematischen Grundproblem recht breit dargestellt werden, sollen die Lücke füllen. Zu ihnen gehören etwa Werttaxierungen von Tat und Täter, normative Standardisierungen, Opferempfinden und Gerechtigkeitsbewusstsein. Angesichts der Begründungsprobleme nähern sich nach Z.s Diagnose beide Theorien gegenwärtig wieder an, zumal es beiden um die Geltung der Rechtsordnung geht.
Dass die aus dem Retributionalismus stammende, aber ebenso für die Präventionslogik beanspruchte Verdienst- und Vergeltungslogik zutiefst im kulturellen Bewusstsein verankert ist, expliziert Z. anhand der Emotivität von Empörung. Dazu wird die im weiteren Gedankengang immer wieder begegnende Figur »Max Mustermann« bemüht, deren erkünstelter Humor etwas quer zur kühl-sezierenden Sachargumentation steht (60–76). In der Empörung sind Kritik und Tadel enthalten, die über die Strafe das Unrecht der Tat und die Geltung der verletzten Norm zum Ausdruck bringen. Man hätte angesichts der Empörung freilich auch an Rache und Vergeltung denken können. Doch Z. fokussiert die »expressive Funktion der Strafe« (77–108). Sie zielt auf einen indirekten Ausdruck für die Geltung von Normen durch die Exekution von Sanktionen, die für den Fall der Normverletzung angedroht werden. Strafe bringt mithin die Normgeltung im Negativ zum Ausdruck. Allerdings ist diese expressive Funktion keineswegs zwingend. Der Täter kann sie in seine Risikokalkulation einbeziehen und in einer Kosten-Nutzen-Abwägung relativieren. Doch nicht nur für ihn ist die Normgeltung angesichts der Strafe nicht verbürgt. Auch die Rechtsgemeinschaft muss eingestehen, dass sie den Willen des Täters durch die Strafe allenfalls in seiner Umsetzung hemmen, aber letztlich nicht zwingend umändern kann. Strafe kann daher nur in einem abstrakten Sinne die Rechtsgeltung ausdrücken. Aufgrund seiner Brüchigkeit rückt das retributivistische Vergeltungsmotiv wieder nahe an die Präventionszwecke heran. Auch die Korrelation von Vergeltung mit dem »Wert des Verbrechensopfer[s]« (109–146) führt zu Widersprüchen. Wenn dem subjektiven Wertempfinden durch das Verbrechen Erniedrigung widerfährt, stellt sich das Problem der Schwankungsbreite des Maßes von Wert, Erniedrigung und Vergeltungswunsch. Das ist bei einer objektiveren Bewertung im Sinne sozialer Hierarchie nicht wesentlich anders. Die von Z. allzu ausführlich erörterte Wertkategorie führt in die Irre. Naheliegender ist es, auf den in der Erniedrigung gebrochenen Willen des Opfers abzustellen. Dazu ist eine nicht graduierbare Norm erforderlich, wie sie in dem auf voluntative Selbstbestimmung abstellenden Würdebegriff vorliegt. Auf sie rekurriert der Staat, der von Z. als Instanz einer objektiven Perspektive auf den Wert des Opfers aufgerufen wird. Doch er kann nicht so gedacht werden, als nähme er als »neutraler Kampfrichter« (152) den Abgleich von Erniedrigungsvergeltung und Zumessung verdienter Strafe vor. Die Wertbasierung der Strafe muss, so Z. wieder zu Recht, am Ende scheitern, so sehr die subjektive Opferperspektive durch Retribution berücksichtigt werden will. Rationaler wäre es, auch bei der Strafe die Negation des Täterwillens als kontrafaktischen Geltungsvollzug der auf Willensautonomie gründenden Rechtsordnung zu fokussieren.
Als letzte Figur diskutiert Z. »Fairnesstheorie[n] der Strafe« (147–160): Der Rechtsbruch darf im Interesse der anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft zu keinem unfairen Vorteil für den Täter führen. Dieser müsste ihm durch die Strafe wieder abgenommen werden. Dieses zivilrechtliche Ausgleichsmuster führt in der Übertragung auf das Strafrecht jedoch zu dem Problem, dass der Täter unterschwellig bereits von der auf überwiegender Rechtstreue basierenden Rechtsordnung profitiert hat und dieser Vorteil nicht ausgeglichen wird. Auch ihm wird Schutz geboten, auch er kann die Rahmenbedingungen seines Handelns kalkulieren. Zudem kann der Täter durch vorhergehende Nachteile zur Tat motiviert sein, so dass das Vorteilsargument der Fairnesstheorie auf schwankendem Grund steht. Für eine Begründung des Vergeltungsprinzips taugt sie nicht.
Als Resultat des vielfach scharfsinnig, mitunter freilich auch etwas gekünstelt argumentierenden Buches lässt sich festhalten, dass retributionistische Vergeltungstheorien in sich widersprüchlich sind, aber auch präventionalistische Konzepte ihre Tücken haben, da sie um der Gerechtigkeit willen ein Maß der Strafe beanspruchen und damit wieder auf den Verdienstgedanken als Pendant zur Vergeltung rekurrieren. In diesem skeptischen Ergebnis liegt der Wert des Buches begründet. Es lässt sich dahingehend vergrund-sätzlichen, dass kontrafaktisch zur Rechtsverletzung eine symmetrische Ordnung des Rechts vorausgesetzt werden muss, damit die asymmetrischen Positionen von Tätern und Opfern durch Verdienst und Vergeltung gerecht aufeinander bezogen werden können. Kontrafaktizität und Ordnungssymmetrie sind mithin in einer dialektischen Logik zusammenzudenken. Das dürfte auch dann zur Klärung der Paradoxien der theologischen Figuren von Verdienst und Vergeltung beitragen, wenn man aus guten Gründen das Strafrecht nicht als deren Rahmentheorie annehmen möchte.