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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1044–1047

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Koch, Oliver

Titel/Untertitel:

Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2013. XIV, 377 S. = Studien zum 18. Jahrhundert, 35. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-7873-2253-4.

Rezensent:

Christian Polke

Die Jahre zwischen 1780 und 1790 bildeten in vielerlei Hinsicht ein einschneidendes Jahrzehnt der europäischen Geschichte: 1781 veröffentlichte Kant seine erste Kritik, 1789 wälzte die Französische Revolution die politische Landkarte Europas um und mittendrin veröffentlichte ein wohlhabender Geistesliterat seine Briefe über Spinoza, in denen er nicht nur Lessing als Pantheisten outete, sondern zum Frontalangriff auf die gerade erst in Gang gekommene transzendentaltheoretische Erneuerung der Philosophie blies. Die sich anschließenden Jahrzehnte waren denn auch geprägt von Debatten um die »Göttlichen Dinge«, um Pantheismus, Atheismus und Theismus. Kaum zu glauben, wie schnell allerdings die Geschichte ihre Sieger ernannt hatte: Überblickt man die seitdem Bibliotheken füllenden Untersuchungen zu den Anfängen des Idealismus, so sagt man nicht zu viel, dass insbesondere Friedrich Heinrich Jacobi – besagter Autor – und seine Unterstützer dem Verdikt religiöser Gefühlsschwärmerei und dem Vorwurf philosophischen Dilettantismus’ zum Opfer fielen. Zu den lange Zeit dem philosophischen Vergessen anheimgefallenen Denkern gehört auch Karl Friedrich Richter alias Jean Paul, dessen Bedeutung ebenfalls erst allmählich wieder ins Bewusstsein kommt, nicht zuletzt dank vorzüglicher Biographien, wie sie rechtzeitig zu dessen 150. Geburtstag im letzten Jahr erschienen sind. Unter die Werke, die sich einer produktiven Wiederaneignung verschrieben haben, gehört nun Oliver Kochs maßgebliche Studie zur Metaphysik der Person. In ihr werden die philosophischen Ansätze Jacobis und Jean Pauls als echte Denk-Alternativen präsentiert und plausibel ge­macht.
Die Studie gliedert sich in vier Teile. Die Einleitung (vgl. 1–34) exponiert zunächst das Thema, indem sie die wesentlichen Punkte der Debatte anhand der Briefwechsel Jacobis mit Jean Paul (vgl. 3 ff.) und Fichte (vgl. 8 ff.) aufgreift. Bei Jean Paul rückt dabei die philosophische Betrachtung auf sein Werk in den Vordergrund: »Beharren Jean Paul und Jacobi gegen das transzendentalphilosophische System auf einem Realismus, geht es daher primär, so die Grundthese vorliegender Untersuchung, um die persönliche Existenz eines sittlichen Individuums.« (7) Die beiden Hauptteile dienen dann der Rekonstruktion der »Doppelphilosophien« von Jacobi (vgl. 35–147) und Jean Paul (vgl. 149–346). Dabei stellt Jacobi die philosophische »Vorlage« dar, auf deren »Spuren«, so K., Jean Paul wandelt. Die metaphorische Verwendung des »Auf-Spuren-Wandeln« zeigt somit hohe Kontinuität und Wahlverwandtschaft in der Position an, wie sie auch an der Eigenständigkeit beider Denker orientiert bleibt. Im Fazit (vgl. 347 ff.) verweist K. – wie schon im Vorwort (vgl. IX–XIII) – nunmehr resümierend auf die Aktualität beider Denker für die zeitgenössischen Personendebatten, in denen gerade ein harter Systemidealismus – wohl nicht zu Unrecht – kaum Wesentliches beizutragen vermag, wohl aber jene Systemkritiker, die sich an ihm geschult haben.
Programmatisch ist schon der Titel: »Individualität als Fundamentalgefühl« (102; dazu aber vor allem 107 ff.113 ff.); also jene Formel, die einem Brief Jacobis an Jean Paul entstammt. Sie bündelt das Bemühen beider, den eindrucksvollen »egologischen« Letztbegründungsversuchen von Subjektivität, insbesondere bei Fichte, eine Version von Philosophie entgegenzusetzen, die auf dem irreduzibel individuellen und darin zugleich stets welthaften Charakter von Subjekten beruht, die wir Personen nennen. Individualität ist daher nicht als frühbürgerlich romantisch inszenierter Individualismus zu verstehen. Vielmehr erwächst sie geradewegs aus der sozialen Handlungswelt von darin individuierten Handlungssubjekten, kurzum Personen. Dabei bemüht sich vor allem Jacobi in seinen Auseinandersetzungen mit Spinozas Metaphysik (vgl. 48–64), dem transzendentaltheoretischen Kritizismus Kants (vgl. 64–90) sowie der Fortführung beider bei Fichte (vgl. 90 ff.) aufzuweisen, welche Verluste an Phänomenbezogenheit wie an philosophischer Fassbarkeit drohen, verschriebe man sich konsequent solchem Systemdenken. Infrage gestellt würde mit dem Bewusstsein individueller Freiheit und Verantwortlichkeit auch die Irreversibilität von Zeit, von der maßlosen Unterschätzung der Rolle, die dem Handeln im Aufbau humaner Selbst- und Weltverhältnisse zu­kommt, ganz zu schweigen. An Birgit Sandkaulens maßgeblicher Studie zur Vernunftkritik Jacobis anschließend (siehe schon der Verweis, 28, sowie 111, Anm. 136), stellt K. in minutiöser Freilegung der Argumentationsgänge Jacobis klar: »Es ist demnach der Verlust der Zeit als Handlungszeit, d. h. des praktischen Zeitbewußtseins, der die […] entscheidenden Konsequenzen der Spinozanischen Philosophie […] zuinnerst verbindet.« (63) Es ist dieser Hintergrund, vor dem Jacobi sein Alternativprogramm konzipiert. Dieses ist nicht weniger philosophisch, auch wenn es von ihm – im Vergleich zu den vorherrschenden Ansätzen – prägnant als »Unphilosophie« tituliert wird. Deren Kern wiederum bildet nichts Geringeres als eine Anthropologie der Person, die als handlungstheoretische Me­taphysik entfaltet wird (vgl. die Entfaltung in: 102–147, vor allem 118 ff.).
Den hierbei zutage tretenden Primat des Praktischen teilt Jacobi mit Kant, wenngleich er skeptisch bleibt gegenüber jener transzendentalen Reinheit des Erkennens und der Moral, wie sie sich (angeblich) der konstruktiven Leistung der Kantischen Vernunft verdankt. Jacobis Verständnis des Menschen als eines freien und zur Moralität bestimmten Subjekts orientiert sich demgegenüber an der konkreten Welthabe, wie sie sich im praktischen Weltumgang, also im Handeln zeigt. Der Mensch erfasst sich darin als individuelle Person, die reale Zwecke zu setzen und umzusetzen vermag (prägnant z. B. 131 u. ö.). Vernunft ist daher für Jacobi – trotz aller bei ihm selbst zu diagnostizierenden Zweideutigkeiten, auf die K. zu Recht hinweist – nicht nur ein instrumentelles Werkzeug, das heißt Verstand, sondern ein innerlich gewisses Vermögen der Wahrnehmung dessen, worin es sich gestellt sieht: eine inter-subjektive wie objektive Wirklichkeit, die ebenso Züge des Individuellen, Irreduziblen trägt wie der Mensch selbst (vgl. 126 ff.). Dies ist der eigentliche Kern des gern mit einem naiven Unmittelbarkeitspostulat versehenen Jacobischen Realismus. Und er begegnet uns bei Karl Friedrich Richter wieder.
Mit einer harschen Kritik am Interpersonalitätskonzept Fichtes betritt Jean Paul die philosophische Bühne, wenngleich er dabei nie vergisst, auch Sympathien für dessen Verfechter zu zeigen. Grundlegendes Dokument ist die Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana von 1800 (vgl. 175 ff.). Diese Schrift steht exemplarisch für jene Art von Verbindung aus Dichtung und Philosophie, wie sie nicht nur für Jean Paul, sondern auch für Novalis und Hölderlin typisch ist. Leibgeber, der Hauptprotagonist der Clavis-Schrift, der sich freilich schon im Siebenkäs (vgl. dazu 243 ff.) in ähnlicher Rolle findet, kann darin als personifiziertes Ich der Fichteschen Wissenschaftslehre gelten. Besser noch: Er wird als wahrer Autor von Fichtes Hauptwerk inszeniert. Er gibt, d. h. er setzt sich selbst und alles andere, sogar die Welt, und dies ausgerechnet als Leib(!)-Geber. Man darf die doppelt beißende Ironie hier wie andernorts in Jean Pauls Werk nicht als rhetorische Zierde abtun. Sie ist vielmehr bewusst und prägnant gewählt. Jedenfalls, wie ein solches Programm in letzter Konsequenz zum Verlust der Wirklichkeitssättigung der Philosophie führt – von den Protagonisten Jacobi und Jean Paul als »leerer Nihilismus« gekennzeichnet –, das wird hier von Jean Paul meis­terlich demonstriert. Er folgt Jacobis Kritik an Fichte, führt sie aber konsequenter intersubjektivitätstheoretisch durch (vgl. vor allem 175–234). Auch hier geht es im Kern darum, die Mischverfassung d es natürlich-sittlich/ästhetischen Wesens ›Mensch‹ ernster zu nehmen und sie von seiner praktischen Handlungsnatur her zu begreifen. Überhaupt gelingt K. sehr überzeugend der Nachweis, wie ähnliche Beweggründe und Motive Jacobi und Jean Paul schon miteinander verbanden, bevor sie ihre Korrespondenz 1798 aufnahmen. Es wird allerdings Letzterem vorbehalten sein, eine philosophische Poetologie zu konzipieren, die zwar schon Jacobi beim Abfassen seiner beiden Briefromane leitete, die jener selbst aber niemals in Angriff nahm. Ihre Aufgabe besteht darin, die Darstellungsformen »symbolischer Individualität« konkret wie konzeptionell ins Auge zu fassen und dadurch argumentativ zu untermauern. So jedenfalls können Jean Pauls Überlegungen zum We-sen des Humors (vgl. 264 ff.) sowie zur Funktion des Romans (vgl. 301 ff.) für das angebrochene Zeitalter der Moderne gelesen werden:
»Insofern der ›poetische Charakter‹ sich dabei als dichterische Aktualisierung der ›symbolischen Individualität‹ und genauer der Handlungsnatur jedes Menschen erweisen wird, bildet dessen Untersuchung nicht nur das eigentliche Zentrum von Jean Pauls Poesiekonzept und Poetologie. Vielmehr eröffnet sie zugleich Perspektiven auf dessen zugrundeliegende anthropologisch-ethische Überlegungen.« (280)
K.s Analyse von Jean Pauls Poetik und seiner ästhetisch-ethischen Anthropologie (vgl. 277–346) ist beeindruckend. Denn es ge­lingt ihm, aus den vielen verstreuten Stellen im Werk Jean Pauls das konzise Bild einer in sich stimmigen, um nicht zu sagen: kohärenten Philosophie der Individualität zu rekonstruieren. Und stellenweise be­kommt man als Freund hermeneutischer Anthropologien des 20. Jh.s den Eindruck, hier begegne man vergessenen Vorfahren. Je­denfalls ist es für einen Leser des Werks von Ricœur verblüffend zu erfahren, wie viele Ansichten Jeans Pauls sich als Präfigurationen einer Anthropologie des fähigen Menschen lesen lassen, deren Mitte so etwas wie eine »Poetik des freien Willens« bildet.
Es wäre noch viel über die Entdeckungsreisen durch das anthropologische Universum von Jacobi und Jean Paul zu berichten. Drei Aspekte sollen wenigstens genannt werden: die schon erwähnte anthropologische Deutung des Humors (vgl. 263 ff.), die erst bei Plessner und Bergson im 20. Jh. wieder prominent werden soll; sodann der Rückgriff auf das aristotelische Freundschaftspara-digma für die Konzeption gelungener Sittlichkeit (für Jacobi siehe 137ff., bei Jean Paul vgl. 330 ff.); und schließlich die differenzho-listische Anthropologie der Person, die den »doppelsinnigen« (162) Charakter des Mischwesens Mensch betont (vgl. zu diesem Topos vor allem 310 ff.). Mag man heute auch zu Recht skeptisch sein gegenüber jener vorschnellen Priorisierung des moralisch-ethischen Aspekts des Menschseins, wie sie im Zeitalter der Aufklärung, sieht man von Ausnahmen ab, noch gängig war; was für den Realismus von Denkern wie Jacobi und Jean Paul spricht, ist die Tatsache, dass sie früh erkannt haben, wie sehr sich reduktionis-tischer Na­turalismus und Systemidealismus in ihrem tendenziell monistischen Anspruch ähneln. – Und genau darauf zielte im Übrigen das Stichwort vom »umgekehrten Spinozismus« in der Fichte-Kritik Jacobis.
Überhaupt zeigt diese vorzügliche und noch dazu flüssig ge­schriebene Studie, wie viel an weiterer Konstellationsforschung im gegenwartspraktischen Sinne an dieser Stelle noch zu tun ist. Insbesondere das Verhältnis von Jacobi und Kant bedürfte dringend einmal einer gesonderten und umfassend quellenrekonstruierenden Untersuchung. Jedenfalls teilt der große Königsberger mit Jacobi und Jean Paul die Überzeugung, wonach ein adäquates Verstehen von Person und Personalität nur über die philosophische Analyse des Zusammenspiels von Animalität, Rationalität und Moralität im Menschen möglich ist. Und noch etwas teilen alle drei Geistesgrößen: Sie alle wissen um die konstitutive Rolle, die ein personal gefasster Gottesgedanke als letzter Garant und letzte Konsequenz für den sich als praktisches, individuelles Handlungswesen verstehenden Menschen spielt. Wenn die Realität von Personen, wenn das Paradigma der Personalität nicht gefasst werden kann ohne das Moment der Anerkennung irreduzibler Kontingenz und Nichtverrechenbarkeit, dann steht nicht nur jedes abschließende Systemdenken zur Debatte, dann gilt umgekehrt, dass »mithin die Rede vom persönlichen Gott ebenso wie diejenige von der persönlichen Seelenunsterblichkeit wesentlich zum Symbol der unbedingten Anerkennung sittlicher Ansprüche und realer Handlungsfähigkeit« werden kann, »obwohl, ja gerade weil diese nur je als konkret bestimmte für uns wirklich sind« (281).
Spätestens an dieser Stelle müsste jene Theologie, die bis heute jede personale Gottesrede in ihren Reihen vorschnell und bisweilen leichtfertig als vorkritischen Theismus abtut, nachdenklich werden, vor allem hinsichtlich der eigenen Kosten, die das mit sich führt. K. jedenfalls bleibt in dieser Frage philosophisch offen und zurückhaltend, obgleich er uns wissen lässt: »Es gilt […], daß auch bei Jean Paul die Erfahrung der individuellen Existenz zuletzt auf einen persönlichen vorsehenden Gott verweist – wie bei Jacobi nicht als theologische Glaubensannahme, sondern als Vollendung einer Philosophie menschlicher Personalität. Denn es ist die Idee des persönlichen Gottes, die […] wesentlich die Gebrochenheit menschlicher Existenz ebenso anzeigt wie die Verbindlichkeit und Realität der Tugenden und Handlungen des Individuums.« (162) Und auch für diese Zumutung an das theologische Denken gebührt ihm Dank und Anerkennung.