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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1041–1044

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gaudiano, Valentina

Titel/Untertitel:

Die Liebesphilosophie Dietrich von Hildebrands. Ansätze für eine Ontologie der Liebe.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2013. 331 S. = Alber Thesen Philosophie, 55. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-495-48617-7.

Rezensent:

Karl-Heinz Menke

Die in München unter der Anleitung von Verena Mayer entstan-dene Dissertation der gebürtigen Italienerin Valentina Gaudiano analysiert ein zentrales Thema der phänomenologischen Analysen des Husserl-Schülers Dietrich von Hildebrand (1889–1977). Der 1914 zum Katholizismus konvertierte Autor war zeit seines Lebens ein Außenseiter oder, wie er von sich selbst sagte, »ein Unzeitgemäßer«. Schon früh hat er die Abgründigkeit des Nationalsozialismus durchschaut. Nach seiner Flucht zunächst nach Österreich und Frankreich, dann nach Portugal, Brasilien und schließlich in die USA war er der Umgebung beraubt, von der er im Rückblick be­kannte, sie sei für sein Denken so wichtig gewesen wie für einen Fisch das Wasser. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil verband er seine philosophische Überzeugung von der objektiven Bedeutung bzw. Werthaftigkeit alles Wirklichen mit einer grundlegenden Kritik am postkonziliaren Kurs seiner Kirche. Er war befreundet mit Papst Pius XII., der ihn einen »Kirchenlehrer« des 20. Jh.s nannte. Und er wurde zu einem der schärfsten Kritiker der nach konziliaren Tendenzen (Teilhardismus, Entmythologisierung, Szien­tismus, Irenismus, Ökumenismus, Relativismus und Säkularisierung). Von ihm stammt das Bild vom »Trojanischen Pferd des Zeitgeistes« – vorgedrungen bis in das Innerste der katholischen Kirche.
Hildebrand ist zunächst Schüler Husserls, dessen Ruf »zurück zu den Sachen selbst!« ihn begeistert. Was ihn schon als Student stört, ist der Kantsche Zweifel an der Erreichbarkeit der Dinge an sich. Nicht zuletzt deshalb seine Hinwendung zu Max Scheler. Denn mit der Annahme objektiver Werte, die evident erfassbar sind, geht Scheler weit über Brentano und Husserl hinaus. Während Brentano als Wert betrachtet, was richtiges Lieben ist, betrachtet Scheler die Liebe dann als richtig, wenn sie sich auf einen objektiven Wert bezieht. Die Evidenz betrifft nach Brentano die Richtigkeit des Aktes, nach Scheler aber den Inhalt dieses Aktes. Mit Scheler spricht Hildebrand von einer vorreflexen (schon im Gefühl gegebenen) Bezogenheit der Intentionalität des Menschen auf das Wertgefüge alles Wirklichen. Auf der untersten Stufe sind die Werte des sinnlich Angenehmen, auf der nächsthöheren Stufe die vitalen Werte und auf der höchsten Stufe die geistigen und religiösen Werte angesiedelt. Die Realität der Werte wird in einer Art »Widerstandserlebnis« erfahren.
G. bietet im ersten Kapitel ihrer Promotionsschrift neben einer geistigen Biographie ihres Autors einen kurzen historischen Exkurs (23–68) über die wichtigsten geschichtlichen Stationen philosophischer Reflexionen über die Liebe. Sie berücksichtigt: a) die platonische Betrachtung des Eros; b) die aristotelischen Reflexionen zur Freundesliebe; c) Plutarchs Würdigung der ehelichen Liebe; d) Augustins Unterscheidung zwischen cupiditas und caritas; e) die vier Grundgestalten der Liebe nach Thomas von Aquin; f) die zu­gleich neuplatonisch und christlich geprägte Ontologie der Liebe im Werk des Marsilio Ficino; g) Die Lehre Spinozas über den amor Dei intellectualis; h) Rousseaus Lehre über die Verwurzelung aller Phänomene von Liebe in der Selbstliebe; i) Pascals Betrachtungen über die Vervollkommnung des Menschen durch die Liebe; j) Fichtes und Kierkegaards Begründung einer angeblichen Unvereinbarkeit von Selbstliebe und Gottesliebe. Dieser geschichtliche Überblick dient nicht nur der Einführung des Lesers in die Bandbreite der Fragen, Probleme und Aspekte des Themas; denn G. bietet in jedem Abschnitt auch Hinweise auf Konvergenzen oder Divergenzen der behandelten Autoren im Vergleich zu Hildebrand.
Das zweite Kapitel (69–121) versteht sich als systematisierende Darstellung von Hildebrands Ethik; das dritte Kapitel (122–185) als Verortung des Themas »Liebe« in dieser Ethik.
Hildebrand geht aus von der Beobachtung, dass jede Handlung durch einen objektiven Wert motiviert ist. Ein Wert wird nicht durch die Befriedigung oder durch das Glück des Handelnden konstituiert. Insofern das Gute Träger von Werten ist, ist es vielmehr in sich bedeutsam (transcendentale in se). Hildebrands Wertbegriff unterscheidet sich deshalb auch von dem Schelers. Denn Letzterer gerät durch den Mangel der Unterscheidung des objektiven Wertes vom nur subjektiv Befriedigenden in die Gefahr einer zunehmenden Relativierung aller Werte (80 f.). Hildebrand denkt nicht von der mit Geist und Willen begabten Person, sondern von den Werten her. Ein Wert ist nicht gut, weil er den appetitus einer Person befriedigt, sondern weil er gut ist, wird er von Personen, die ihn erkennen und bejahen, als gut erfahren. Von hierher erklärt sich die zentrale Bedeutung des Terminus »Wertantwort« in Hildebrands Ethik (92–100). Wie ein wahres Urteil einen Sachverhalt so aussagt, wie er ist, so entspricht jedem Gut aufgrund des in ihm enthaltenen Wertes eine wahre Antwort. Diese soll ihm gegeben werden nicht primär um des eigenen Glücks oder um irgendeines Nutzens willen, sondern weil jedem Wert die ihm angemessene Antwort gebührt. Hildebrand betont wiederholt, »dass das sittlich Gute an uns appelliert, und zwar mit einer klaren Motivation, und dass wir dabei wirklich frei sind, darauf einzugehen oder auch nicht, und zwar in vollem Bewusstsein« (118). Daraus folgt: »Eine Liebe ohne Verantwortung, das heißt auch ohne bewusste Offenheit für das objektiv Gute, ist unmöglich bzw. kann keine echte Liebe sein.« (118)
Mit Pascal erklärt Hildebrand das Phänomen der menschlichen Personalität als im Symbol des Herzens vereinte Synthese von Denken, Wollen und Fühlen (122). Liebe ist für ihn keine bloße »Willensantwort«, sondern »affektive Wertantwort« (138). Hildebrand unterscheidet zwischen nicht-intentionalen Gefühlen leiblicher und psychischer Art und intentionalen Gefühlen bzw. affektiven Erlebnissen. Letzteren misst er ebenso große Bedeutung für die Vervollkommnung einer Person zu wie dem Denken und dem Wollen. Wenn der Aquinate das Glück einer Person in der Wahrheit, der Tugend und dem Gutsein verortet, dann kommt – so kritisiert Hildebrand – die affektive Seite zu kurz. G. erinnert in diesem Zusammenhang an seine Studien zum positiven Wert menschlicher Sexualität. In »Die Ehe« (1928) und in »Reinheit und Jungfräulichkeit« (1926) zeigt er, dass Reinheit nicht Asexualität bedeutet. Vielmehr finden die intentio unionis (153 ff.) und die intentio benevolentiae (155 ff.) der Liebe in der geschlechtlichen Hingabe und Einswerdung eine einzigartige Erfüllung. Wo immer die wechselseitige sexuelle Hingabe gegenseitige Selbst-Schenkung wird, sieht Hildebrand jede Gefahr einer Abspaltung der sexuellen Sphäre überwunden.
Im vierten Kapitel (186–236) geht es um die Verhältnisbestimmung von Moralität und Liebe. Denn Hildebrand widmet einen Großteil seines Spätwerkes »Das Wesen der Liebe« (1971) einer detaillierten Erarbeitung ihrer sittlichen Implikationen. In Gestalt unzähliger Beispiele liest er gleichsam am Leben selbst ab, was er die allgemeinen (199 ff.) und die spezifischen (202 ff.) Gefahren einer Liebesbeziehung nennt; unter welchen Voraussetzungen Liebe angenommen und verweigert werden darf (210 ff.); woran man wahre Treue erkennen kann (222 ff.); wie die Liebe der Rangordnung des Liebenswerten ( ordo amoris) entsprechen kann (225 ff.); und warum die zu einer Gemeinschaft (Ehe, Familie, Freundeskreis, Gemeinde) gehörenden Personen der Verbundenheit einer Gemeinschaft umso mehr gerecht werden, »je mehr sie einander und die Gemeinschaft selbst lieben« (235).
In einem eigenen, wenn auch vergleichsweise kurzen Kapitel (237–246) behandelt G. die in der Hildebrand-Literatur kontrovers diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Nächstenliebe und Selbstliebe. Nicht selten hat man Hildebrand vorgeworfen, zwischen Selbst- und Nächstenliebe einen ähnlichen Hiatus aufzureißen wie der Protestant Anders Nygren zwischen Eros und Agape. Richtig ist, dass Hildebrand kaum oder gar nicht von der Selbstliebe spricht; und dass er das christliche Gebot »Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst« nicht in dem Sinne verstanden wissen will, dass die Selbstliebe der Maßstab oder gar Grund der Nächstenliebe ist. Gemeint ist mit diesem Gebot aus seiner Sicht: »Der andere ist genauso wie ich von Gott gewollt und geliebt, und also liebenswert.« (243) Oder anders ausgedrückt: »Der Nächste ist so liebenswert wie du: Liebe ihn also wie dich.« (243)
Das abschließende sechste Kapitel (247–308) dient der vergleichenden Profilierung aller vorausgehenden Analysen. G. erklärt Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Hildebrands »Liebesphilosophie« und den entsprechenden Entwürfen von Karol Wojtyla bzw. Papst Johannes Paul II. (247–256), Wladimir Solowjew (257–268), José Ortega y Gasset (268–275), Bernhard Welte (275–282) und Jean-Luc Marion (282–302). Wojtyla versteht Liebe als Willensantwort im Sinne der thomanisch geprägten Tradition und wird damit aus Sicht G.s der affektiven Erlebnisseite weniger gerecht als Hildebrand mit seiner Definition der Liebe als affektiver Wertantwort. Solowjew steht, was die Verhältnisbestimmung von Eros und Agape betrifft, mehr auf Seiten von Nygren als auf der von Hildebrand, stimmt aber mit Letzterem in der These überein, dass jede Liebe Ewigkeit will und daher ohne Verankerung in Gott das Phänomen des Absurden bleibt. »Ortega y Gasset bestätigt Hildebrand in dessen Sicht des überaktuellen Charakters der Liebe, die aus ineinander verfließenden Augenblicken besteht, also nicht punktuell, sondern beständig in der Seele des Liebenden präsent ist, und damit zeitlos.« (273) Bekanntlich hat Hildebrand mit der Analyse der übe raktuellen freien Haltungen die klassische Tugendlehre neu begründet, die kantische Einengung des Sittlichen auf die Handlungssphäre überwunden und der Tugendethik von As-combe und MacIntyre den Weg bereitet.
Bernhard Welte unterstreicht im Unterschied zu Hildebrand »die Dimension des Leidens als eine in jede Liebe eingebundene Erfahrung« (282). Und Marion verweist auf die Erfahrung, dass Liebe das Geliebtsein immer schon voraussetzt, ohne dass man (vgl. die Frage nach der Priorität von Ei oder Huhn) reflex entscheiden kann, was chronologisch betrachtet das Erste ist. Hier ist, so erklärt G., ein Punkt erreicht, der das Ganze von Hildebrands Werk betrifft. Denn Marion beschreibt die Liebe als »Seinloses Phänomen« (303) und wirft Hildebrand damit indirekt die Reduktion der Wirklichkeit auf die gedachte Wirklichkeit vor, die aus seiner Sicht die Ursünde der abendländischen Metaphysik ist.
G. ist es gelungen, ein weithin vergessenes Werk in Erinnerung zu rufen. Ihre Untersuchung berücksichtigt das Gesamtwerk des behandelten Autors und diskutiert – zumeist in den Fußnoten – alle nennenswerten Beiträge der Sekundärliteratur. Obwohl G. der systematischen keine chronologische Analyse voranstellt, gewinnt man an keiner Stelle den Eindruck einer Einebnung oder vorschnellen Zusammenschau. Die Methode der Arbeit ist ebenso luzide wie die stets klare Ausdrucksweise. Wer sich über das Denken und die philosophiegeschichtliche Bedeutung Hildebrands zu­verlässig und umfassend informieren will, kann die hier besprochene Monographie nicht ignorieren.
Am Schluss allerdings hätte ich mir etwas mehr Distanz G.s zum zweifellos von ihr bewunderten Autor gewünscht. Es kann ja nicht nur an seinem kirchenpolitischen Konservativismus liegen, dass er auch in der katholischen Welt kaum noch eine Rolle spielt, auf seine Befürwortung der Enzyklika »Humanae Vitae« reduziert oder als Vertreter einer ausgedienten Metaphysik verkannt wird. Die Gründe für seine insgesamt bescheidene Wirkungsgeschichte liegen m. E. tiefer. Was er als objektive Werte, als evidenten Sinnzusammenhang oder als die eine Wahrheit des Seins ausweisen will, ist wohl nur dem gläubigen Leser zugänglich. Man kann sich mit guten Gründen gegen das Dogma stellen, Kants Metaphysik-Kritik sei unhintergehbar. Aber Hildebrands gute Gründe waren wohl nicht gut genug, um eine vom Ende der Metaphysik überzeugte Philosophie zu verunsichern.