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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1003–1005

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stanley, Christopher D. [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Colonized Apostle. Paul Through Postcolonial Eyes.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 2011. XVI, 365 S. m. Abb. = Paul in Critical Contexts. Lw. US$ 35,00. ISBN 978-0-8006-6458-9.

Rezensent:

Christian Strecker

Die in den 1980er Jahren entstandene »postkoloniale Theorie« ist inzwischen im mainstream akademischer Forschung angekommen. Dass es sich dabei um ein äußerst komplexes Forschungsfeld handelt, indiziert schon der schillernde Schlüsselbegriff »postkolonial«. Zwei Hauptbedeutungen sind auszumachen: 1. Im engeren, chronologischen Sinn markiert er die nach der Epoche der Kolo-nialherrschaft angebrochene Zeit. 2. Daneben steht er für die diskurs­analytisch bzw. dekonstruktivistisch geprägte Auseinandersetzung mit fortwährend kolonialen Herrschaftsstrukturen, mit der westlichen ökonomischen, epistemologischen wie auch kulturellen Hegemonie, mit ethno-/eurozentristischen Konstruktionen des/der »Anderen« und mit essentialistischen Konzeptionen kultureller Identitäten und Differenzen. Daraus entspringen zwei Ba-sisformen des postkolonialen Diskurses: zum einen die ältere, Im­pulse der antikolonialen Widerstandsbewegungen fortführende, befreiungspolitisch engagierte und marxistisch orientierte radikale Kolonialismuskritik, zum anderen die jüngere, poststrukturalistisch geprägte, auf die westlichen Wissens- und Repräsentationssysteme und ihre kolonialen Schlepplasten reflektierende postkoloniale Theorie. Der angezeigte Sammelband vereint Beiträge aus beiden Strömungen und bildet darin den ganzen Spannungsreichtum postkolonialer Forschung ab. Er trägt dazu bei, den postkolonialen Diskurs in Theologie und Exegese am Beispiel der Protopaulinen breiter zu verankern (s. jetzt auch A. Nehring/S. Tielesch [Hrsg.], Postkoloniale Theologien, Stuttgart 2013). Das Buch um­fasst neben einem Vorwort von Efraín Agosto und einer Einleitung des Herausgebers 16 Beiträge, verteilt auf drei Teile.
Der erste Hauptteil widmet sich der Frage: »What is Postcolo-nial Studies?«. Die poststrukturalistische Kritik an Ursprungsmythen aufnehmend, erörtert Stephen D. Moore zunächst die vielfältigen Anfänge und Gestalten der postcolonial studies sowie des biblical postcolonial criticism, um schließlich eine engagierte Exegese einzufordern, die nicht bei der historischen Analyse der kritischen Haltung des Apostels gegenüber Rom endet, sondern sich auch mit aktuellen neokolonialen Strukturen in der globalisierten Welt aus­einandersetzt. Susan B. Abraham bietet aus feministischer und pädagogischer Perspektive eine kritische Sichtung postkolonialer Theorie. Die in ihren Anfängen allzu naiv befreiungs- bzw. identitätspolitisch geprägten postkolonialen Positionen hätten zum Teil der Aufrechterhaltung imperialer Machtstrukturen gedient. Abraham plädiert daher für eine konsequent selbstkritische Gestaltung postkolonialer Forschung. Neil Elliott wendet sich gegen die Marginalisierung marxistischer Ansätze in den postcolonial studies und der postkolonialen Exegese. An mehreren Beispielen führt er die Herausforderungen und das heuristische Potential marxistischer Kritik in der Paulusforschung vor Augen.
Der zweite Hauptteil enthält historische Studien zum Thema »Paul and Ancient Forms of Colonialism«, verteilt auf drei Unterabschnitte. Der erste ist überschrieben mit »Paul and Roman Colon-ial Rule«. Jeremy Punt arbeitet die politische Ambivalenz in der Korintherkorrespondenz heraus. Paulus würde mit seiner Kreuzestheologie zwar die Ideologie der Mächtigen unterwandern, sein Gebrauch imperialer Sprache aber das imperiale System reinskribieren. Auch Gordon Zerbe macht die politische Ambivalenz der paulinischen Texte namhaft, betont aber, der Fokus der paulinischen Rhetorik liege auf den emanzipatorischen Aussagen und der Romkritik. Dazu beruft er sich auf das millenarische Skript der paulinischen Theologie, das politische Gewicht der paulinischen Schüsselbegriffe und die vielen Verhaftungen des Apostels. Als Hauptreferenz der politischen Dimension der paulinischen Texte sei nicht Röm 13, sondern 1Kor 2,6–8 und 15,24–28 heranzuziehen. Davina C. Lopez weist auf koloniale Implikationen im historisch-kritischen Methodengebrauch hin. Sie kritisiert die Fixierung auf »elite literary forms« und propagiert – das postkoloniale Hybriditätskonzept auf die Methodik ausweitend – eine Exegese, die neben literarischen auch visuelle Repräsentationen berücksichtigt. In diesem Sinn stellt sie das Porträt römischer imperialer Macht auf der Trajanssäule dem des hybriden, verletzlichen und verletzten Körpers des Völkerapostels gegenüber. Der zweite Unterabschnitt im zweiten Hauptteil ist dem Thema »Ethnicity« gewidmet. L. Ann Jervis sucht mit Hilfe des Konzeptes hybrider Identität die komplexen Aussagen in Röm 7 zu erhellen, wobei sie das »Ich« einem exemplarischen jüdischen Christusgläubigen zuweist. Christopher D. Stanley erörtert die schillernde ethnische Selbstpräsentation des Apostels und erklärt jene Passagen, in denen Paulus eine nichtjüdische Identität für sich anzeigt, mit temporären rhetorisch-theologischen Interessen. Das ohnehin nicht unproblematische Hybriditätskonzept sei hier nicht anwendbar. Tat-siong Benny Liew führt den Konflikt mit den Korinthern auf den Anstoß zurück, den diese gemäß der römisch-imperialen Ideologie an Paulus’ »diasporic Jewish body« genommen hätten. Der Apostel habe darauf mit einer Marginalisierung von Frauen und einer Stigmatisierung sexueller Dissidenten reagiert und darin die koloniale Ideologie verstärkt. Der dritte Unterabschnitt kreist um gender-Fragen. Unter Rekurs auf Musa Dubes postkoloniale Hermeneutik stellt Joseph A. Marchall mit Blick auf den Philipperbrief heraus, wie sehr Paulus ungeachtet einiger subversiver Ansätze dem römischen kolonialen und sexistischen Diskurs verhaftet sei. Melanie Johnson-DeBaufre und Laura S. Nasrallah wenden sich gegen die vom Apostel im 1Thess selbst angestoßene, in der Apg forcierte und bis heute in der Exegese verbreitete Fokussierung auf Paulus als heroisches Individuum. Eine angemessene feministisch-postkoloniale Lektüre der Briefe deute diese konsequent aus ihrer Einbettung in die – auch durch die Zeit hindurch – große christusgläubige Bewegung, in der die Stimme des Apostels eine unter vielen sei. Jennifer G. Bird setzt sich aus postkolonial-feministischer Perspektive kritisch mit Auslegungen von 1Kor 11,2–16 auseinander.
Das Thema des dritten Hauptteils ist »Paul and Modern Wes­tern Colonialism«. Robert Paul Seesengood geht dem Einfluss der ko­lonialen Weltsicht des 19. Jh.s auf die akademische Paulusexegese nach. Brigitte Kahl widmet sich dem Galaterbrief und legt am Beispiel von W. M. Ramsay die im Sinne von E. Said »orientalisierenden« Effekte der protestantischen Deutung der paulinischen Rechtfertigungslehre offen. Sie vergleicht die antike Skulptur des sterbenden Galliers mit dem nach Gal 3,1 den Briefadressaten vor Augen ge­malten gekreuzigten Christus und deutet die Rechtfertigungstheologie vor diesem Hintergrund entgegen der klassischen »kolonialisierenden« Vereinnahmungen als respektlos antiimperiale, entkolonialisierende Botschaft. Jae Won Lee erklärt in Anbetracht der jüngeren koreanischen Geschichte, inwiefern der »Transnationalismus des Völkerapostels keine Antithese zu seinem jüdischen Nationalismus« darstellt. Gordon Zerbe untersucht die Rückgriffe auf Paulus in der philippinischen »Theology of Struggle«.
Der Aufsatzband gibt einen guten Einblick in den Ideenreichtum, aber auch die Unstimmigkeit postkolonialer Paulusforschung, inklusive diverser (selbst-)kritischer Anfragen. Paulus er­scheint einerseits als Kritiker, andererseits als Verfechter impe-rialer/kolonialer Ideologie, aber auch als hybride, liminale Figur. Auch wenn nicht alle Beiträge gleichermaßen überzeugen, so führen die teils intensiven Auseinandersetzungen mit den antiken Zeugnissen wie auch der Paulusforschung samt ihrer politischen Implikationen insgesamt doch die Fruchtbarkeit einer Einbeziehung der komplexen postcolonial studies mit Blick auf die historische wie auch die gegenwärtige Bedeutung der Protopaulinen vor Augen. Freilich bewirkt die postkoloniale Exegese, wie der Herausgeber im Vorwort selbst einräumt, eine weitere Fragmentierung der neutestamentlichen Forschung, die dem/der Forschenden ein Einlassen auf neue Fragen, theoretische Konzepte und methodische Zugänge in einem ohnehin kaum mehr überschaubaren Diskursfeld abverlangt.