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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

986–988

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Brose, Thomas, u. Gesine Palmer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Politik. Das Messianische in Theologien, Religionswissenschaften und Philosophien des zwanzigsten Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. VIII, 283 S. = Religion und Aufklärung, 23. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-151048-9.

Rezensent:

Rebekka Klein

Dieser Band stellt eine Auswahl an Beiträgen vor, die 2004 (!) auf einer Konferenz der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg diskutiert worden sind. Insgesamt hinterlässt er einen gemischten Eindruck. Sein Anspruch ist es, auf knapp 270 Seiten deutsch- und englischsprachige Texte zu­sammenzustellen, in denen die Rolle des Messianischen in Theologien, Philosophien und Religionswissenschaften des 20. Jh.s un­tersucht wird. Diese (Selbst-)Einordnung der Herausgeber sollte jedoch an mindestens drei Punkten erweitert werden. Zum Ersten werden über die genannten Disziplinen hinaus auch soziologische und kulturtheoretische Texte besprochen. Zum Zweiten macht die Lektüre deutlich, dass der auf den Zusammenhang von Religion und Politik zielende Buchtitel noch um einen dritten Topos er­gänzt werden muss: um die Perspektive der Ethik. Zum Dritten zeigt der dokumentierte Diskurs, dass die Idee des Messianischen nicht auf das 20. Jh. beschränkt untersucht werden kann.
Ausgangspunkt der Zusammenstellung der Texte ist die »Frage, wie die seit der Antike in der mediterranen und von da aus in der gesamten jüdisch-christlichen Welt […] erscheinende Idee des Messianischen in den ›zuständigen Wissenschaften‹ im 20. Jahrhundert gedacht und besprochen worden ist« (2). Der Rekurs auf das Messianische diene – so die Antwort der Herausgeberin – im 20. Jh. dazu, auf das Phänomen der »Rückkehr der Religion« auf die politischen Schauplätze der Welt zu antworten. Indem rationalistische und säkular-wissenschaftliche Lehren auf diese Idee bezogen wurden, seien neue Denkmöglichkeiten für die Reflexion politischen Handelns eröffnet worden.
Mit dieser Charakterisierung des Ausgangsproblems wird deutlich, warum der Band in der Reihe »Religion und Aufklärung« bei Mohr Siebeck erschienen ist: Er sucht die aufklärerisch-kritische Funktion der Idee des Messianischen stichprobenartig durch die Analyse historischer, aktueller und ideengeschichtlicher Konstellationen zu erhellen. In ihm werden aber auch zwei nicht ganz selbstverständliche Annahmen gemacht: zum Ersten, dass es sich bei der Idee des Messianischen um eine seit der Antike bis heute kontinuierlich in Erscheinung tretende Idee handele, an die auch im 20. Jh. zum größten Teil bruchlos angeschlossen wurde; zum Zweiten, dass der jüdisch-christliche Messianismus mit zahlreichen sozialen und politischen Bewegungen des 20. Jh.s in Übereinstimmung und nicht primär in Spannung zu sehen sei.
Der erste Teil des Sammelbandes beschäftigt sich mit den mo­dernen Gestalten des Messianischen. Rivka Horwitz und Moshe Idel zeichnen nach, wie eng das Verhältnis von Messianismus, Zionismus und jüdischem Nationalismus im akademischen und außerakademischen Diskurs im Übergang vom 19. zum 20. Jh. zu sehen ist. Haviva Pedaya beschäftigt sich mit midraschischen Texten des Rabbi Moshe Hadarshan aus dem 12. Jh. Andreas Pangritz fragt nach dem Messianischen im Werk des Theologen Friedrich-Wilhelm Marquardt und Claudia Römer erörtert, wie Karl Marx jüdisch-messianisches Denken in seine Theorie der Gesellschaft übertragen hat. Micha Brumlik untersucht schließlich die messianische Bewegung der Lubawitscher Chassidim im 20. Jh. und sucht nach Spuren eines christlichen Inkarnationsgedankens in ihrem Denken.
Im zweiten Teil lassen sich die Beiträge durch den fast durchgehenden Bezug auf das Werk Emanuel Levinas’ stärker bündeln. So argumentiert Thomas Brose in seinem Beitrag dafür, den religiös gebliebenen Messianismus in der Nachfolge Levinas’ der sozialistisch-säkularen Heilslehre einer besseren Gesellschaft vorzuziehen. Letztere wirke zwar politisch stabilisierend, sei aber durch ihre generelle Vorordnung des Gemeinwohls vor das Individuum als menschenverachtend zu bezeichnen. Dana Hollander interpretiert das Messianische im Werk Levinas’ ausgehend von seinen Talmudlektüren. Sie kommt zu der Erkenntnis, dass es als eine Grundbewegung des (philosophischen) Denkens zu verstehen sei, die es ermöglicht, in die scheinbaren Gewissheiten der Politik zu intervenieren. Der Beitrag von Catherine Heszer schließt daran an und erweitert die ethische Interpretation des Messiasgedankens im Anschluss an Levinas durch eine Untersuchung der Kritik sozialistischer Utopien im Werk des jüdischen Kulturtheoretikers Zygmunt Bauman. Sie stellt heraus, dass die ethische Orientierung von Levinas und Bauman keine Neuerung des 20. Jh.s gewesen ist, sondern beeinflusst von der Philosophie der Aufklärung für das gesamte moderne Judentum prägend war.
Die folgenden Texte verlassen den mit Levinas und der französischen Philosophie geführten Diskurs wieder.
Daniel Boyarin wendet sich der Frage nach der Verbundenheit jüdisch-christlichen Messiasdenkens zu und bestreitet, dass der christliche Gedanke eines leidenden Messias (Mk) vor dem Hintergrund des antiken Judentums verstörend oder gar revolutionär gewirkt habe. Gerda Elata-Alster nimmt in ihrem Beitrag eine feministische Relektüre biblischer Texte vor und deckt auf, dass die ›männliche‹ Genealogie des Messiasgeschlechts durch das Wirken von Frauen (Rut, Lots Tochter, Tamar) unterlaufen und außer Kraft gesetzt wurde. Der abschließende Beitrag von Gesine Palmer kehrt zum Diskurs der französischen Gegenwartsphilosophie zurück und kritisiert das Derridasche Programm eines »Messianischen ohne Messianismus« ebenso wie die christologische Fortführung messianischer Gedanken in einer »letzten« Opfergeschichte im Neuen Tes­tament. Über die von Derrida proklamierte Reinheit der Erwartung hinaus habe das Messianische für die Erwählung jedes einzelnen Menschenlebens einzustehen, um der Welt das Versprechen ihrer Rettung wieder näherzubringen. Der Band schließt mit einem von Thomas Brose verfassten Nachwort, das sich allerdings wie eine alternative Einleitung in die Beiträge liest.
Insgesamt hätte der Band durch stärkere thematische Systematisierung in der Einleitung sowie tiefergehendere Re­flexion auf die mit der Idee des Messianischen verbundene Ethik und ihr Verhältnis zu Politik und Religion noch gewinnen können. Dennoch präsentiert er einen auch für andere Perspektiven offenen »jüdisch« geprägten Diskurs über das Messianische, der in seiner Pluralität und Unabgeschlossenheit zum Mit- und Weiterdenken einlädt.