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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

955–956

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Doe, Norman

Titel/Untertitel:

Christian Law. Contemporary Principles.

Verlag:

Cambridge u. a.: Cambridge University Press 2013. XIV, 434 S. Geb. US$ 115,00. ISBN 987-1-107-00692-8.

Rezensent:

Hanns Engelhardt

Der Titel dieses Buches war für den Rezensenten zunächst verwirrend. Norman Doe, Professor an der University of Wales, Leiter des Centre for Law and Religion an der Cardiff University Law School und weltweit anerkannter und hervorragender Kenner und Erforscher des anglikanischen Kirchenrechts, wird davon nicht überrascht sein, teilt er doch selbst im Vorwort mit, einen unter demselben Titel vorgesehenen Beitrag zu einem Sammelwerk mit der Begründung abgelehnt zu haben, er »did not consider that such a category existed«. Jedenfalls könnte man unter »Christian Law« ein Recht verstehen, das aus christlichem Geist geschaffen und/oder angewendet wird. Immerhin hat Harold Berman 1993 einen Vortrag veröffentlicht mit dem Titel »Is There Such a Thing – Can There Be Such a Thing – as a Christian Law School«. Bei D. bedeutet Christian Law indes einfach Kirchenrecht – Kirchenrecht freilich nicht in einem engen, konfessionell bestimmten Verständnis, sondern im Blick auf die ecclesia universalis, die Christenheit als Ganze. Vergleichendes Kirchenrecht ist – nach Auffassung D.s – noch immer praktisch unbekannt; die hier von ihm ausgemachte Lücke will das vorliegende Buch füllen.
Zu diesem Zweck durchwandert D. in zehn Kapiteln die wesentlichen Regelungsgebiete des kirchlichen Rechts. In den ersten fünf Kapiteln werden die eher formalen Bereiche behandelt: Quellen und Zwecke kirchlicher Gesetzgebung, Mitgliedschaft und daran hängende Rechte und Pflichten, geistliche Ämter, die Organisation der Kirchenregierung (governance), kirchliche Disziplin und Konfliktbewältigung. Mit dem 6. Kapitel stößt D. in den Kernbereich von Lehre und Gottesdienst vor. Es folgt unter dem Titel »rites of passage« die Behandlung von Taufe, Konfirmation bzw. Firmung, Eucharistie, Ehe und Scheidung, Beichte und Bestattung. Daran schließt sich die Darstellung der Regelung zwischenkirchlicher Beziehungen an. Den Abschluss bilden das kirchliche Vermögensrecht sowie die Regelungen der Stellung der Kirche in Staat und Gesellschaft.
In den einzelnen Kapiteln behandelt D. jeweils eine Reihe von kirchlichen Traditionen nacheinander. Die Grundlagen seiner Darstellung zeigt er in der Einleitung auf. Es sind zehn christliche Traditionen von weltweit 22 Kirchenfamilien: römischer Katholizismus (gegliedert in lateinische und orientalische Kirchen), by­zantinische und orientalische Orthodoxie (aus der zwölf Kirchen in die Untersuchung einbezogen werden), die Anglikanische Kirchengemeinschaft (aus ihr 30 Kirchen), eine Reihe lutherischer, methodistischer, reformierter und presbyterianischer sowie unierter Kirchen, die kongregationalistische und schließlich die baptistische Tradition.
Dabei hält D. sich bewusst im deskriptiven Bereich. Er be­schreibt, was als rechtlich geltend anerkannt ist. Ausdrücklich verzichtet er auf eine allgemeine his­torische Unterfütterung, ebenso aber auch auf die Darlegung und Erörterung individueller Meinungen. Man wird in dem Buch daher auch keine Vorschläge zur Weiterentwicklung des kanonischen Rechts finden. Das bedeutet freilich nicht, dass aus ihm nicht vielfältige Anregungen in dieser Hinsicht zu gewinnen sind. So kann schon der Darstellung der vielfältigen Regelungsmöglichkeiten ein (indirekter) Aufruf zu einer ökumenischen Interpretation entnommen werden, die bei der Auslegung des geltenden Kirchenrechts und mehr noch bei Überlegungen zu seiner Weiterentwicklung nicht nur auf dem eigenen Herkommen aufbaut, sondern auch die Traditionen der anderen kirchlichen Traditionen einbezieht. Der Rezensent sieht sich hier veranlasst, wieder einmal auf Schleiermacher hinzuweisen, der schon in seiner Enzyklopädie »eine allgemeine Kenntnis von dem Zustande der gesamten Christenheit« als »unerläßliche Forderung an jeden evangelischen Theologen« gestellt hat; für den Kirchenjuristen gilt diese Forderung in gleichem Maße.
Mancher Leser wird überrascht sein, wenn D. als Ergebnis seiner vergleichenden Studien schon als gegenwärtigen Zustand feststellt, »that dogmas divide but laws link Christians« (10). Nachdem in der ökumenischen Bewegung das Kirchenrecht lange Zeit eher als ein Hindernis auf dem Weg zur Einheit angesehen worden ist, kann diese Feststellung für den ökumenisch interessierten Kirchenrechtler nur als eine willkommene Ermutigung aufgefasst werden.
In dem Abschnitt über Kirche in Staat und Gesellschaft erörtert D. auch die verschiedenen in Europa bestehenden staatskirchenrechtlichen Systeme. Für die zwischen Staatskirchentum und völliger Trennung angesiedelten kooperativen Systeme nennt er nur Italien und Spanien. Deutschland wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Ein wenig überraschend ist auch, dass D. die Staatskirchenverträge der neuen Länder sämtlich aufzählt, das Vertragskirchenrecht der »alten« Länder, in dem die Grundsätze entwickelt worden sind, die dann auch in den neuen zum Tragen gekommen sind, mit Stillschweigen übergeht; dadurch könnte der Eindruck entstehen, es handle sich um eine völlig neue Entwicklung (»in recent years«).
Der deutschsprachige Rezensent muss auch bedauern, dass sich in dem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis (15 S.) nur ein einziger deutschsprachiger Titel findet – eine zugestandenermaßen wichtige Abhandlung von Hans Dombois über »Ökumenisches Kirchenrecht heute«. Der Aufschwung, den gerade die evangelische Kirchenrechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s in Deutschland genommen hat, wird offenbar im englischsprachigen Ausland kaum zur Kenntnis genommen. Das gilt sogar, soweit es um das Luthertum geht, dessen Mutterland Deutschland ist. Für die deutschsprachigen Kirchenjuristen sollte dies freilich kein Anlass sein, sich nun ihrerseits in ein sprachliches Ghetto zurückzuziehen. Gerade die deutsche evangelische Kirchenrechtswissenschaft kann nur gewinnen, wenn sie – mehr als bisher – englischsprachige Quellen und Literatur in ihre Betrachtung einbezieht. Das vorliegende Buch kann dazu einen unschätzbaren Dienst leisten. Es sollte in keiner kirchenrechtlichen Bibliothek fehlen.