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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

943–944

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Heimbrock, Hans-Günter

Titel/Untertitel:

Das Kreuz. Gestalt, Wirkung, Deutung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 232 S. m. Abb. Geb. EUR 49,99. ISBN 978-3-525-55052-6.

Rezensent:

Reiner Preul

Das von Hans-Günter Heimbrock zum Ende seines akademischen Wirkens vorgelegte Buch gehört in den weiteren Kontext praktisch-theologischer Erkundung der lebensweltlichen Bedingungen und Erscheinungsformen von Religiosität, an der sich der Vf. schon in früheren Veröffentlichungen beteiligt hat. Das Besondere dieser Publikation besteht in der Auslotung der hermeneutischen Erschließungskraft des Gestaltbegriffs, wobei H. auf dessen Reflexion in psychologischen (v. Ehrenfels, Lewin u. a.), phänomenologischen (Merleau-Ponty), therapeutischen und pädagogischen Ansätzen einerseits und auf theologische Verwendungen des Ge­staltbegriffs (Bonhoeffer, v. Balthasar, Tillich und H. Luther) andererseits zurückgreift. Um die Bedeutung der Wahrnehmung von »Gestalt« für die Praktische Theologie und für die Theologie insgesamt zu verdeutlichen, konzentriert H. sich auf das christliche Zentralsymbol des Kreuzes (»crux probat omnia«, M. Luther).
Das Buch präsentiert sich außerordentlich materialreich: Erfahrungsberichte und Interviews mit Kindern, Studierenden und Personen im Pfarramt zu ihren Begegnungen mit ganz unterschied-lichen, durch Abbildungen belegten Kreuzen; Referate zur Theoriegeschichte; Überlegungen zur Gestaltwerdung Gottes in der Inkarnation und zur Kenosis; Entwicklung der Kreuzessymbolik in der Christentumsgeschichte; Beobachtungen zum Symbol des Kreuzes in fremdreligiösen Kontexten; das Kreuz in der bildenden Kunst; Bemerkungen zum Kreuz als Logo im kirchlichen Marketing; das Kruzifix im Rechtsstreit; Anregungen für die religionspädagogische, seelsorgerliche und liturgische Praxis; schließlich als Bündelung der Gedanken und Absichten des Buches das Kapitel »Das Ziel: Gestalt-Theologie« (209–227).
Da es bei dieser inhaltlichen Fülle und Diversität nicht sinnvoll wäre, an den Teilen – »Annäherungen« (21–54), »Vertiefungen« (55–121), »Schritte zur Praxis« (123–173), »An der Oberfläche« (175–227) – und den sie ausfüllenden 12 Kapiteln nacheinander entlangzugehen, beschränke ich mich auf die Hervorhebung einiger charakteristischer Motive und Thesen.
»Wahrnehmung des Kreuzes heute lebt allerdings nicht mehr nur von der Rück-Sicht auf den sagbaren historischen und theologischen Ursprung in Golgatha, wenn solche Wahrnehmungen je nur von solchen narrativen Gehalten bestimmt waren.« (35) Stattdessen wird primär die Gestalt von Kreuzen in ihrer materiellen, sichtbaren und tastbaren Beschaffenheit wahrgenommen und in einem individuellen, von biographischen, situativen und kulturellen Bedingungen bestimmten Rezeptionsprozess oft ganz neu konnotiert. Dieser aktuellen Ausgangslage entspricht der grundsätzliche Sachverhalt, dass Gegenstände, Szenen, Geschehnisse überhaupt zunächst ganzheitlich-gestalthaft erfasst und erst dann in Worte gefasst werden. (61) H.s »These ist, dass sie mit dem, was Kreuzesgestalten heute zu sehen geben, gleichwohl in theologischer Reflexion als Expressionen des Glaubens verstanden werden können, als kreative Beiträge zur Glaubenspraxis.« (52) Dafür liefert das Buch genügend Beispiele, es thematisiert jedoch nicht die hier aufbrechende Frage nach dem Kriterium solcher Lesbarkeit und damit auch nach ihrer Grenze. Schon die vom Vf. in symbolgeschichtlicher Perspektive erhobene Bedeutungskomplexität des Kreuzessymbols – er unterscheidet eine christologische, kosmologische und anthropologische Bedeutungsebene (91) – nötigt zu dieser Frage.
H. betont immer wieder den Überschuss bildlicher Darstellung und gestalthafter Wahrnehmung gegenüber einer bloß begrifflichen oder narrativen Annäherung an das Kreuz und seine Botschaft (162 u. ö.). Die sichtbare Gestalt ist nicht nur zeichenhafter Hinweis auf etwas, das verbalisiert werden kann, oder dessen Illustration, sie ist in ihrer konkreten Form selbst Aussage. Ist Sinnerschließung in der Begegnung mit dem Kreuz und anderen Phänomenen (nach Wittgenstein) »halb Seherlebnis, halb ein Denken« (145), dann legt sich für die kirchliche Praxis sowie für die ihr vorangehende Ausbildung professioneller theologischer Kompetenz eine Kombina-tion aus »kognitiv zentrierter Interpretation« und »ästhetisch-leibhaften Erschließungen« (146) nahe.
Das ganze Buch, dessen Wert und Reiz besonders in den anregenden Details liegt, ist ein engagiertes Plädoyer, mittels des Gestaltbegriffs der Ästhetik mehr Gewicht in Theorie und Praxis zu geben. Dieser Impuls, der als solcher nicht neu ist, aber von H. im Blick auf das Kreuz plausibilisiert wird, sollte aufgenommen werden, ebenso die Anregung, dem Handlungsbegriff eine »präzisierende Erweiterung« angedeihen zu lassen, denn »Praxis schließt auch zweckunabhängiges Sehen, Denken und Verhalten, empha-tische Bereiche wie Erleben und Erleiden, Sehnsucht und Schmerz mit ein.« (226) Auf allzu programmatische Bezeichnungen wie Gestalttheologie sollte man allerdings verzichten.