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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

940–941

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Greiner, Dorothea, Hamm, Berndt, Raschzok, Klaus, Ritter, Ma­nuel, u. Anna-Maria aus der Wiesche [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive. Modelle und Personen der Kirchengeschichte.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 388 S. Geb. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-03064-4.

Rezensent:

Martin Hein

Die »Aszetik« – als eigenständige Disziplin oder als Teil der Poimenik – führte in der evangelischen Praktischen Theologie (im Unterschied zur römisch-katholischen oder orthodoxen Tradition) lange Zeit eher ein Schattendasein und blieb auf wenige Spezialisten beschränkt. Entsprechend wurde auch dem Thema »Geistliche Be­gleitung« nur eine spärliche Aufmerksamkeit geschenkt. Sie schien entbehrlich zu sein, wo doch – mit entsprechendem protestan-tischem Pathos vorgetragen – ohnehin alle als Einzelne unmittelbar zu und vor Gott stehen und die Gestaltung der eigenen Frömmigkeit eine höchst individuelle ist. Wozu sich da geistlich begleiten oder gar führen lassen!?
Inzwischen ist hier manches in Bewegung gekommen. Der zu rezensierende Band knüpft unmittelbar an eine vorausgehende, 2007 erschienene Publikation unter dem Titel »Wenn die Seele zu atmen beginnt […] Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive« an, legt nun aber den Schwerpunkt auf die »Präsentation exegetischer und kirchengeschichtlicher Forschungsergebnisse zur Praxis der Geistlichen Begleitung« (12). Dabei wird »evangelisch« als »über die Grenzen konfessioneller Definitionen hinweg im Sinne von ‚dem Evangelium gemäß‘ verstanden« (13).
Es ist das erklärte Anliegen der Herausgeberinnen und Herausgeber des Bandes, »Geistliche Begleitung« als »einen Grundvorgang christlicher Frömmigkeit« (14) darzustellen. Dieses Ziel erreicht das Buch zweifellos, auch wenn sich jemand, der mit der Thematik nicht vertraut ist, bisweilen fragen mag, was denn »Geistliche Be­gleitung« nun genau ist, und sich wesentliche Definitionen zum Verständnis aus erklärenden Fußnoten ziehen muss. Die Herangehensweise ist – außer in den beiden biblischen Abschnitten (16–34 )– biographisch ausgerichtet. Und da differieren die Beiträge me­thodisch durchaus: Von wissenschaftlich-kritischer Analyse (z. B. Volker Leppin über Meister Eckhart [71–83], Berndt Hamm über Lazarus Spengler [120–136]) bis zu eher hagiographischen Miszellen (z. B. Martin Staebler über Pastor Wilhelm Busch [339–344] oder Monika Renz über Dorothee Sölle [364–372]) trifft man auf unterschiedliche Zugänge und Analysetiefen.
Es zeichnet den Band aus, dass er im besten Sinn des Wortes ein Lesebuch ist. Man stößt auf Gestalten aus der Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte, die einem vertraut sind oder die man vom Hörensagen kennt, aber macht auch überraschende Begegnungen: so etwa mit Origenes (Christel Keller-Wentorf, 36–50) oder Heinrich Albertz (Konstanze Kemnitzer, 345–355) als Geistlichen Begleitern. So gerät eine ungeheure Bandbreite von Frömmigkeit und Geistlicher Be­gleitung in den Blick: Eher bizzar mutet das Konzept der Inklusinnen an (Susanne Schenk, 57–63); vertraut und doch be­wegend ist es, Dietrich Bonhoeffer aus dieser Perspektive zu entdecken (Albrecht Schödl, 281–295). Und wem ist be­wusst, wie die Linie von Nathan Söderblom zu Friedrich Heiler, dem großen Marburger Religionswissenschaftler, verläuft und wie stark sie durch Frömmigkeit (und gar nicht so sehr durch akademische Theologie) geprägt war, was Hanns Kerner (266–273) eindrucksvoll herausarbeitet?
Besondere Aufmerksamkeit richtet sich aus evangelischer Perspektive naturgemäß auf den Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation. Konstanze Kemnitzers detailreiche Analyse von Lu­thers Taufverständnis als Quelle seiner Gebets- und Seelsorgepraxis (102–149) legt hier neue Zusammenhänge offen. Und wirklich spannend, weil fast ein Tabuthema im Protestantismus, ist die Frage: Was wird aus den Heiligen? Klaus Raschzok (149–175) entfaltet die Geschichte des reformatorischen Umgangs mit ihnen in einer Weise, dass man ein Gefühl dafür bekommt, es könnte dem Pro-tes­tantismus gegenwärtiger Prägung an etwas fehlen. Aus dem Leitgedanken des »Trialogs«, der im Konzept der Geistlichen Begleitung eine wichtige Rolle spielt, entwickelt Raschzok ein Verständnis für die Heiligen als Teil einer »Fürbittgemeinschaft« (173), freilich nicht als »intercessores«, sondern aus der lebendigen Erinnerung an ihre Fürbitte. Dass Georg Spalatin auf Anregung Luthers eine Art reformatorisch gesichtete Heiligenlegendensammlung herausgab, die für die Entwicklung der evangelischen Krankenseelsorge von großer Bedeutung ist, wird dann nachvollziehbar.
Die Ausführungen von Angelika Dörfler-Dierken (296–306) zur Militärseelsorge mögen im Kontext des Bandes überraschen, aber sie überzeugen. In der Tat kann man die Seelsorge an Soldatinnen und Soldaten als »Geistliche Begleitung« verstehen, vor allem dann, wenn man sie mit der Praxis der traditionellen Militärseelsorge vergleicht und von ihr abhebt, was hier kundig geschieht.
Gleichwohl bleibt die Frage, ob unter »Geistlicher Begleitung« nicht so viel elementar Seelsorgliches, ja schlicht geschwisterliches Verhalten verstanden wird, dass der Begriff an Schärfe verliert. In der römisch-katholischen Tradition ist er eng mit dem Beichtinstitut, dem Mönchtum und den Exerzitien verbunden. Doch woran haftet er im Protestantismus? An der Heiligen Schrift? Der Ab­schnitt über das Neue Testament von Christian Strecker (24–34), der eher kritisch und zurückhaltend ist, zeigt, dass hier noch eingehender und »evangelischer« eine Perspektive entwickelt werden müsste. Auch vermisse ich einen Blick auf die reformierte Kirchenzucht, die für das Verständnis von Seelsorge nicht ohne Einfluss geblieben ist und in ihren Auswüchsen auch zu ihrer Problematisierung beigetragen hat. Mit anderen Worten: Mir fehlt ein wenig die kritische Perspektive. Es hat ja Gründe, dass »Geistliche Begleitung« lange kein evangelisches Thema war. Bei einigen Abschnitten, etwa über Tersteegen ( Hansgünter Ludewig, 176–198), den beiden Blumhardts (Gerhard Knodt [256–265]) oder Wilhelm Busch kann man lesend ahnen, woraus sich die Vorbehalte nähren.
Eine wirkliche Leerstelle traf bei mir der von Susanne Schuster verfasste Abschnitt über Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt (232–238): Hebammenfrömmigkeit, geistliche Geburtshilfe – bisher war das für mich terra incognita. Aber die Ausführungen berühren unmittelbar, weil hier ein Desiderat zu spüren ist, kommen wir doch heutzutage als Geistliche mit Müttern und ihren spezifischen Nöten – wenn überhaupt! – meist erst bei einem Taufgespräch in Kontakt und überlassen ein weites Feld den Einflüssen eines durchaus esoterisch zu nennenden Gedankengutes oder einer funktionalistischen medizinischen Praxis.
Was diese Bemerkungen zeigen: Der – übrigens auch drucktechnisch und vom Layout her – ansprechende Band weckt Neugier und bringt zum Nachdenken und Nachfragen. Damit hat er für mich seine Aufgabe erfüllt. Man wünscht ihm viele Leser – gerade aus dem Kreis professioneller Verkündiger und Seelsorger, damit sie aus dem reichen Schatz gelebter Frömmigkeit etwas für sich entnehmen können – unabhängig davon, ob einem der Begriff »Geistliche Be­gleitung« theologisch nahe ist oder nicht. Nach der Lektüre des Bandes bekommt man jedenfalls besser als durch eine spröde akademische Abhandlung eine Ah­nung davon, was »Geistliche Begleitung« alles umfassen kann und welche Dimension des christlichen Lebens damit angesprochen ist. Von seinem Anspruch her setzt er gute Kenntnisse der Frömmigkeits- und Kirchengeschichte voraus und richtet sich mit Sicherheit an die Gebildeten unter den Freunden des Themas. Gleichwohl hat der Band einen im besten Sinn er­baulichen Zug: Er tut, wovon er spricht.