Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

937–939

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Theißen, Henning

Titel/Untertitel:

Die berufene Zeugin des Kreuzes Christi. Studien zur Grundlegung der evangelischen Theorie der Kirche.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 672 S. = Arbeiten zur Systematischen Theologie, 5. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-03155-9.

Rezensent:

Eberhard Blanke

Die hier zu besprechende Untersuchung von Henning Theißen gehört in den Kontext der gegenwärtigen Diskurse zur Lehre von der Kirche. Es handelt sich um die gekürzte Fassung seiner Habilitationsschrift, die an der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald angenommen wurde. T. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am dortigen Lehrstuhl für Systematische Theologie. Der Hauptteil II. A der Arbeit wurde von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen mit dem Hanns-Lilje-Preis 2012 ausgezeichnet.
Das umfangreiche Buch ist, nach einer Einleitung, in drei Teile gegliedert. Ausgangspunkt der Überlegungen ist es (Einleitung, 13–28), einen rein dogmatischen Kirchenbegriff, der sich auf den Gegensatz von Kirche und Welt stützt und der zu einem »dogma-tischen Kirchenpositivismus« (14) geführt hat, in dem ›Welt‹ weder regulativ noch korrektiv berücksichtigt werden kann, zu überwinden. Dazu führt T. ihn mit einem hermeneutischen bzw. explorativen, nicht definitorischen (536), Kirchenbegriff zusammen (15). Dieser kann »stärker auf unterschiedliche Situationen der Kirche Bezug nehmen« (19) und findet seinen semantischen Halt in der in »präziser Unschärfe« (17) verwendeten Metapher von der Kirche als Zeugin (15). T. sieht seine Arbeit innerhalb gegenwärtiger ekklesiologischer Untersuchungen u. a. von Großhans, Rieger, Wabel, Ha­rasta, Werbick, Abraham sowie Wenz, Herms und Laube situiert.
In Teil »I. Kirchliche Grundlagen einer gegenwärtigen Ekklesiologie« (29–124) analysiert T. das Verständnis von Kirchenwirklichkeit, wie sie in »Ekklesiologiedenkschriften« (45) und Reformkonzepten als »Selbstaussagen der Kirchen« (22) zum Tragen kommen.
Im Sinne eines dogmatischen, eines ethischen und eines ökumenischen Verständnisses von Kirchenwirklichkeit (56 ff.) kommt T. auf kirchenleitende Texte von VELKD und UEK, von EKD, EKHN und EKBO sowie der GEKE/Leuenberg zu sprechen, die zum einen innerhalb der Institutionentheorie der 1980er Jahre, zum anderen im Kontext der Organisationssoziologie der 1990er Jahre erörtert werden. Die Erörterung erfolgt auf der Grundlage eines theologisch validierten Begriffs von Kirchenwirklichkeit, den T. im Terminus der » verborgenen Kirche« (45) zusammenfasst, der dazu an­regt, in der vorgefundenen Kirche deren Verborgenheit zu entdecken. »Man kann die Aufgabe evangelischer Kirchentheorie ge­radezu durch die Kurzformel charakterisieren: Kirche entdecken« (55).
In Teil »II. Theologische Grundlagen einer gegenwärtigen Ek­klesiologie« (125–527) führt T. die Entwicklung seines hermeneutischen Kirchenbegriffs im Rückgriff auf Schleiermacher und Ritschl als Vertreter der wissenschaftlichen Theologie des 19. Jh.s (II. A) so­wie auf Karl Barth für das 20. Jh. (II. B) durch. Abschnitt A (125–301) thematisiert Ekklesiologie im Zeichen der Union und steht unter den Überschriften »Der Ursprung der Kirche nach Schleiermacher« (134–213) sowie »Der weltweite Beruf der Kirche nach Ritschl« (214–301). Abschnitt B. behandelt die »Ekklesiologie im Zeichen der Neuzeit« (303) und gibt eine detaillierte Darstellung zu »Der Ge­kreuzigte als Magna Charta der Kirche nach Barth« (338–527).
Teil »III. Zur Grundlegung der evangelischen Theorie der Kirche« (529–604) fasst die vorangegangenen Analysen in einem eigenen Entwurf zusammen, der notwendige und hinreichende (konkludente) Bedingungen des Kircheseins zu formulieren beansprucht (529). Die Arbeit schließt mit einem Quellen- und Literaturverzeichnis (605–643) sowie mit einem Personen- und Sachregister (644–663).
In der Erarbeitung eines hermeneutischen Kirchenbegriffs und der Metapher der Zeugin geht T. von der ekklesiologischen Grundfrage aus, »wer oder was die Kirche sei« (29). Die Antwort darauf kann theologisch gesehen ausschließlich von der Kirche selbst erbracht werden, wodurch sich ein logischer Zirkelschluss ergibt: Die Theologie sagt, was die Kirche ist, und die Kirche sagt, was Theologie sei. Damit gerät die sich in ihrer Theologie selbst be­schreibende Kirche in eine Diskrepanz von Wirklichkeitsstatus und Wahrheitsanspruch (31). Die Auflösung der Diskrepanz sieht T. im hermeneutischen Kirchenbegriff gegeben, der den Zirkelschluss intern entfaltet. Das theoretische Gerüst dafür gibt die Unterscheidung einer funktionalen Kirchentheorie und einer Theorie der Christentumsgeschichte ab. T. entwickelt einen Blick auf die (Einheit der) Kirche, die sich nicht (z. B. gegen die Welt) nach außen abgegrenzt, sondern durch eine Binnendifferenzierung zu zwei innen liegenden Außenrelationen kommt: »Die Kirche existiert also in einer doppelten Außenrelation: einerseits zu anderen Gemeinschaften und andererseits zum Wort Gottes.« (41) Diese »Hermeneutik der Externität« (37) führt dazu, »dass auch der logische Zirkel von Wirklichkeit und Wahrheit der Kirche nur mithilfe dieser spezifischen Externität des Wortes Gottes aufgelöst werden kann« (41).
Die differenzierte Einheit der Kirche mit ihren beiden Außenrelationen sieht T. im Begriff der Zeugin gewährleistet, der geeignet erscheint, »sowohl die einzubeziehenden Verwendungszusammenhänge als auch den dogmatischen Anspruch eines evangelischen Kirchenbegriffs geltend zu machen« (17). Zeugnis ist sowohl Themabegriff, der mit dem Phänomen Kirche gegeben ist und den von der Kirche vertretenen Wahrheitsanspruch bezeichnet, als auch Reflexionsbegriff, »der zur Darstellung bringt, dass Kirche […] durch einen zeugnishaften Vorgang konstituiert wird, in dem das für die Kirche grundlegende Bezugsgeschehen des Kreuzes Jesu Christi in hermeneutischer, d. h. Auslegungsfähigkeit und Auslegungsbedürftigkeit dieses Kreuzes verbindender, Weise als Wort vom Kreuz repräsentiert wird.« (17) Daraus ergibt sich die rekursive Struktur von Behaupten und Bewähren. »Rekursivität ist somit der Darstellungsmodus der für das Zeugnis kennzeichnenden Beanspruchung des Zeugen durch das Bezeugte selbst.« (544)
Insgesamt löst T. den Anspruch ein, eine Grundlegung der evangelischen Kirchentheorie zu geben. Die Bedeutung der Arbeit kann in drei Aspekten gesehen werden: (a) In der Analyse der Selbstbeschreibungstexte der Kirche (I.) benennt sie originäre Schnitt- und Bruchstellen, die für die derzeitigen ekklesiologischen Diskurse hilfreich zu Rate gezogen werden können, da sie das »Interesse an der geschichtlichen Gestalt der evangelischen Kirche« (6) aufleuchten lassen. (b) Die methodische und theoretische Verzahnung der Analyse von kirchenleitenden (I.) und wissenschaftlichen Texten (II.) überzeugt und eröffnet Spielräume für weitere Untersuchungen. (c) Mit der Metapher der Zeugin wird ein Begriff angeboten, der sich zur Darstellung der notwendigen ekklesiologischen Differenzierungen und der hinreichenden Bedingungen für die Einheit der Kirche verwenden lässt.
So bietet die Arbeit insbesondere zwei Anschlussmöglichkeiten. Zum einen können von hier aus weitergehende Arbeiten im Sinne einer materialen Ekklesiologie erfolgen. Zum anderen ist die Basis für Theoriearbeiten vorbereitet, die sich dem Phänomen des Selbstbezugs von Kirche widmen können. Diese könnten zu klären versuchen, weshalb die evangelische Theologie heute vielfach zur Ekklesiologie geworden ist.