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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

921–923

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Neville, Robert Cummings

Titel/Untertitel:

Ultimates. Philosophical Theology, Vol. I.

Verlag:

Albany: State University of New York Press 2013. 404 S. Geb. US$ 95,00. ISBN 978-1-4384-4883-1.

Rezensent:

Hermann Deuser

Überraschend und erstaunlich genug: Aus der Welt der nordamerikanischen Theologie und Religious Studies stammt diese betont systematisch strukturierte und bewundernswert gelehrte »Philosophische Theologie« von Robert C. Neville! Ihr Titel klingt fast anachronistisch, erinnert an Schleiermachers Gebrauch dieses Disziplinbegriffs, vor allem aber und explizit an Tillichs programmatisch als System aufgebaute Theologie – und doch zeigt schon ein kurzer Blick in diesen ersten Band des dreibändig geplanten opus magnum, dass hier etwas ganz Eigenständiges und Neues vorgelegt wird: eine unumwunden metaphysisch und kosmologisch argumentierende Religionstheorie in theologischer Absicht. Das alles ist ausführlich vorbereitet in den zahlreichen Monographien des Bostoner Theologen und Religionsphilosophen, grundlegend in seinem »kosmologischen« (im Sinne A. N. Whiteheads) Gottesargument God the Creator (1968), philosophisch-kategorial in der dreibändigen Axiology of Thinking (1981, 1989, 1995) und religionswissenschaftlich orientiert in dem groß angelegten Forschungsprojekt, das die konkurrierenden Weltreligionen durch jeweilige Fachleute präsentieren lässt: The Comparative Religious Ideas Pro-j-ect (in drei Bänden [2001]).
Was die Sache zusätzlich interessant macht, ist die bewusste Abkehr von den Autoritätsmustern der kontinental-hermeneutischen, der deutschen kantianisch geprägten, aber auch der analytischen Religionsphilosophie der Gegenwart. Stattdessen gelten als Orientierung die wissenschaftstheoretisch selbständigen Initia-tiven in den Traditionen der American Philosophy, d. h. von Transzendentalismus und Pragmatismus (C. S. Peirce, W. James, J. De­wey), und der der modernen Naturwissenschaft verpflichteten, gleichwohl religionsphilosophisch innovativen Prozessphilosophie Whiteheads. Die Liebe zum metaphysischen Argument stammt dar­über hinaus von dem Yale-Philosophen, Schüler Whiteheads und Lehrer N.s: Paul Weiss.
Der spezielle Titel des ersten Bandes: »Ultimates« (»Existence« und »Religion« sind für die folgenden Bände vorgesehen) signalisiert wiederum den Zusammenhang mit Tillich und dessen Begriff des »ultimate concern« (dt.: »was uns unbedingt angeht«). Doch schon die Pluralbildung und Formen wie »ultimacy« zeigen, dass hier der Akzent nicht auf existentieller Theologie liegt, sondern auf einer (hypothetischen) Metaphysik des Unbedingten. Diese ist im Kern eine schöpfungstheoretische Religionstheologie mit univer salem ontologischem und anthropologischem Anspruch. Bevor dies angemessen verstanden werden kann, müssen aber die Bedingungen des Arguments noch genauer angegeben werden.
Das vorgelegte System, die von N. durchgängig genutzte Vierfachgliederung, bezieht Universalität und Begründung aus Platos Liniengleichnis (Der Staat, Buch VI, 509d–510b; vgl. Neville, Axio-logy, 1981), worin das »Sichtbare« und das »Denkbare« jeweils noch einmal geteilt werden, so dass es zu vier Erkenntnisweisen kommt: Bildhaftigkeit, Common Sense-Überzeugung, Theoriebildung, evaluierende Dialektik – und in lockerem Anschluss an diese Reihenvorgabe ist die Programmatik der »Unbedingtheiten« aufgebaut.
Zum universalen Anspruch gehört auch, dass über Religion nicht nur aus der biographisch zufälligen Eigenperspektive ge­sprochen wird, sondern dass prinzipiell alle Religionen konsequent plural und komparativ nach ihrem jeweils eigenen Beitrag gefragt sind und produktiv, immer wieder in Beispielreihen, zum Zuge kommen. Das gelingt nur deshalb, weil die jeweilige Religion gerade theologisch, d. h. in ihrem Wahrheitsanspruch und ihrer Eigenheit ernst genommen wird. Umgekehrt ergeben sich aus dem Vergleich auch Maßstäbe der Kritik für die Leistungsfähigkeit be­stimmter religiöser Formen und Auffassungen des »Unbedingten«: »Religion is human engagement of ultimacy expressed in cognitive articulations, existential responses […].« (4.84)
Zum universalen Anspruch gehört weiterhin die durchgängige Einbeziehung des naturwissenschaftlichen Weltbildes von Physik und Biologie. Diese werden nur dann kritisiert, wenn die qualitativen und normativen Züge der menschlichen Existenz als letztlich auch mathematisierbar ausgegeben werden. Dieser reduktionis-tische Fehler der Moderne (52) muss korrigiert werden, denn die Bedeutung der Erfahrung von Werten (value) ist fundamentaler als der Dualismus von Fakten und Werten unterstellt, und die Metaphysik des Unbedingten kann das zeigen (vgl. 170). Das ändert aber nichts an der Konkurrenz zwischen den großen Kosmologien der Religionen zur heute vorrangigen Wissenschaftsprägung: »Only modern science has revealed the intensity of nature’s depth as we know it now. The ancient traditions were somewhat obli­vious« (137), d. h. die religiösen Narrative unterliegen durchaus der kosmologischen Kritik und Interpretation unter den neuen Bedingungen.
Zum universalen Anspruch gehört schließlich die produktive Einbeziehung von C. S. Peirce’ allgemeiner Semiotik in ihrer dreistelligen Kategorialität von Icon, Index und Symbol. Dadurch wird es möglich, den Referenzbezug und den Wahrheitsanspruch religiöser Zeichen sehr viel subtiler darzustellen als üblich – bis hin zum Begriff des »gebrochenen Symbols« (im Anschluss an Tillich), das in zweiter Naivität (im Anschluss an P. Ricœur) die Moderne mit den religiösen Narrativen und Zeichenwelten in neue Verbindung zu bringen versteht.
Was diese Einfluss- und Materialbereiche nun zusammenhält, ist die als Hypothese ausgezeichnete Metaphysik der Kreativität: Dass ganz allgemein und grundsätzlich die Bestimmtheit der Dinge – ihre Bedingtheit durch andere Dinge (»conditional component«) wie ihre Eigenständigkeit (»essential component«) – gelingend zustande kommen kann, dafür muss eine »Harmonie« vorausgesetzt werden; und dieses Zusammenstimmen, wie es in der Entwicklung des Kosmos schon vorliegt, kann nicht wiederum aus der Bestimmtheit der Dinge erklärt werden. Die gesuchte Erklärung muss folglich aus dem radikal Unbestimmten (»ex nihilo«) das radikal kontingente Harmonie-Bestimmte als kreativ entstanden denken (vgl. die Kurzfassung des Arguments: 171 f., die Langfassung in Teil III, Kapitel 9–12; zu Neville, 1968, vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt, 2004, Kapitel 13). Das ontologisch Unbedingte ist der Schöpfungsakt als solcher – und dieser wird ausgelegt im »symbolic engagement« der Religionen mit dem Unbedingten. Die philosophische Theologie liefert dafür die Leitlinien in argumentativer Klarheit und metaphysischer Prinzipialität: »the ultimate reality of the world consists in its being created in all its spatiotemporal complexity by an ontological act of creation« (1).
Was aber bedeutet das theologisch? Die Theologie erhält eine wissenschaftstheoretische Verankerung, die nicht mehr den neuzeittypischen Dualismen von Fakt und Fiktion, Sein und Sollen, Erklären und Verstehen etc. ausgeliefert ist, sondern über Pragmatismus und Prozessphilosophie einen dritten Weg der kreativen Realitätsbestimmung gewinnt, der religiöse Symbole nicht nur in ihrer gesellschaftlichen Funktionalität, sondern um ihrer selbst willen verstehen, analysieren und praktizieren kann – und das impliziert immer den spezifischen »Wert« in den Dingen und die mögliche Bestimmung des wahren Gebrauchs der symbolischen Er­schließungskraft (zu N.s Wahrheitsbegriff vgl. H. Deuser, in: Jb. f. Religionsphil. 4 [2005]). In diesem Sinn ist es lehrreich, wie N. den Begriff »sacred canopy« von P. L. Berger entlehnt und für die philosophische Theologie anwendbar macht: Was der Religionssoziologie ein soziales Konstrukt zur Bewältigung von »ultimate reality« ist, wird für die philosophische Theologie ein strukturierender Begriff, der zwischen allgemeinerer »Weltanschauung« und persönlichem Glauben und Handeln symbolisch vermittelt. »Heilige Horizonte« oder »Horizonte des Heiligen« wird man wohl für diesen neuen und variantenreichen Gebrauch von »sacred canopies« (vgl. 19 f.) sagen müssen. Das ist aber nicht im Sinne von gegenständlicher oder irgendwie essentieller Heiligkeit zu verstehen, sondern als interpretierendes, lebensweltlich gebundenes Umgehen mit dem Unbedingten. Dieses allein steht für sich, »is simply what it is« (16). Damit ist aber auch gesagt, dass vom Unbedingten selbst nichts gewusst werden kann außerhalb der Bedingungen der im kreativen Akt geschaffenen Welt. Gott als Person, seine Eigenschaften, sein Handeln etc., ist streng genommen nicht bestimmbar, nur in übertragenem, gebrochenem Symbolgebrauch zugänglich (vgl. Kapitel 14). In solchem »engagement« (Betroffensein, Auseinandersetzung, Darstellung) allerdings lebt die Religion und verändert sich. Sie ist am besten vertreten nicht in dogmatistischen Exklusionen, sondern in den Suchbewegungen der zugleich rationalen wie ›engagierten‹ mystischen Theologie der durchaus verschiedenen Religionen, ihrem »apophatic moment« (324): Einheit im Bewusstsein von Relation und Gebrochenheit.
Vielleicht ist es die Frage nach der christlichen Trinitätsvorstellung, die sich als Erste für eine Dogmatik nach und mit dieser philosophischen Theologie des Unbedingten aufdrängt und in »symbolic engagement« neu zu bedenken wäre.