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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

915–916

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Weinrich, Michael

Titel/Untertitel:

Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths. Bleibende Impulse zur Erneuerung der Theologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 464 S. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 139. Geb. EUR 99,99. ISBN 978-3-525-56407-3.

Rezensent:

Susanne Hennecke

Der Charme dieses Bandes mit Barthstudien des bekannten Bochumer Ökumenikers und Systematischen Theologen Michael Weinrich besteht schon rein äußerlich gesehen darin, dass er nicht nur einen Zeitraum von 30 Jahren, sondern auch eine Vielzahl von Entstehungskontexten und Themen überzeugend miteinander verbindet. Dies geschieht mittels thematisch einleuchtender Einteilungen der insgesamt 15 Kapitel, hinführender Einleitungen, interner Querverweise und eines aktualisierten Literaturverzeichnisses. Das Ganze ist in einem gut leserlichen, oftmals sogar humoristischen oder auch spottenden Stil geschrieben, der manchmal durch analytische Schärfe besticht, manchmal aber auch einen leicht säuerlichen Nachgeschmack hinterlässt.
Das kunstvollste Beispiel bietet diesbezüglich die unbedingt lesenswerte Hinführung zum ersten Teil des Buches, in der W. darlegt, der diagnostizierten allgegenwärtigen »merkwürdigen Gereiztheit« (17) in Bezug auf Karl Barth und seine Theologie mit einer Untersuchung des »weithin ungenutzten Potential[s] dieser Theologie für die Umbruchsituation« (19) nach einer »Phase der Liberalisierung und Säkularisierung« (ebd.) begegnen zu wollen. Dabei widersteht W. der Versuchung, um der s. E. erforderlichen Bestreitung der wahrgenommenen Tendenz zur Historisierung von Barths Theologie willen diese nun gerade in einem Kontext konservativer Konsolidierung oder religiöser Stabilisierung erneut zum Klingen bringen zu wollen. W.s hermeneutisches Programm lässt sich vielmehr dahingehend zusammenfassen, dass er sich von Barth zwar auf Gedanken bringen lassen will (21), sich das eigene Denken jedoch deswegen noch lange nicht zu ersparen gedenkt. So bezieht sich die derart ambitionierte Re-Kontextualisierung der Theologie Barths für den heutigen Kontext dann auch vor allem auf Fragestellungen aus dem Bereich der Ökumene und auf die Frage nach der Anschlussfähigkeit der Theologie Barths an eine Theologie der Religionen. Dabei hebt W. insbesondere die Bedeutung Israels beziehungsweise des Judentums für die Ekklesiologie und die produktive Kraft von Barths kritischem Religionsverständnis hervor.
Bieten der erste und der zweite Teil des Bandes (»Theologische Fundamentalentscheidungen« resp. »Die Kirche im Horizont einer entmythologisierten Welt« ) auch für Anfänger eine gute Einführung in die Theologie Karl Barths, spiegelt sich im dritten und vierten Teil m. E. am deutlichsten das oben genannte spezifische Interesse von W.s Barthinterpretation:
Der vierte Teil, »Kritische Zeitgenossenschaft«, hebt insbesondere das Anliegen einer explizit politischen Barthinterpretation hervor, mit der W. sich einerseits gegen eine Trennung des politischen Barth von seiner Theologie wendet, sich aber aus theologischen Gründen andererseits auch von einer kontextuellen Theologie wie etwa der Befreiungstheologie und der Schwarzen Theologie ab­grenzen will. Den letzteren Theologien wird unterstellt, »den Kontext zu dem eigentlichen Regisseur der Theologie« (320) zu erheben. Dass Barth in derartigen Theologien äußerst produktiv rezipiert worden ist, streitet W. allerdings keinesfalls ab. In ganz besonderem Maße produktiv und zukunftsträchtig erscheint W. allerdings eine nicht-unpolitische Barthrezeptions-Variante, die Barth als (kritischen) »Denker und Theologen der Neuzeit« (324) erfassen will und dabei auch um die Analyse seines (kritischen) Religionsbegriffs bemüht ist. Dass nämlich Barth gerade aufgrund seiner theologischen Neuzeitkritik und aufgrund seines kritischen Religionsbegriffs das Programm der Dialektik der Aufklärung (vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno) für die Theologie vollzogen habe, ist eine in Variationen oftmals wiederkehrende Formel in W.s Auseinandersetzungen (30.254) und eine seiner auch m. E. attraktivsten Thesen überhaupt.
Barths kritischem Religionsbegriff widmet sich W. expliziter im dritten Teil des Bandes, »Religion und Religionskritik«. Dieser Teil spiegelt vielleicht auch am deutlichsten die trotz aller Kontinuität stattfindende Verschiebung in W.s lebenslanger Auseinandersetzung mit den aus seiner Sicht bleibenden Impulsen aus der Theologie Barths: Behandelt der erstmals in den 1980er Jahren publizierte erste Aufsatz zur Religionsthematik schwerpunktmäßig gerade die Relevanz von Barths (kritischer) Religionskritik im Kontext einer in den 1970er Jahren auftretenden »Rehabilitierung der Religion« (233), so geht es in dem erstmals im Jahr 2003 publizierten zweiten Aufsatz wesentlich milder in Bezug auf die Religion zu: Nun steht die Relevanz von Barths nicht nur kritischem Religionsbegriff im Kontext des interreligiösen Dialogs und in Hinsicht auf einen konstruktiven Beitrag zu einer Theologie der Religionen im Mittelpunkt.
Ohne W.s jeweils beeindruckende Ausführungen hier auch nur ansatzweise befriedigend wiedergeben zu können, bietet sich die von mir wahrgenommene produktive Spannung zwischen den beiden erwähnten Aufsätzen m. E. an, um weitere Spannungen in das Ge­flecht hineinzuarbeiten. Persönlich legt sich für mich dabei die ja überhaupt noch ausstehende Verarbeitung des Ertrages feminis­tisch-philosophischer Perspektiven und Debatten zum Thema Religion nahe. Gerade Autorinnen aus der poststrukturalistischen Französischen Philosophie (etwa Luce Irigaray, Hélène Cixous und Julia Kristeva) erweiterten nämlich in den letzten Jahrzehnten die Auseinandersetzung mit dem Religionsthema in beträchtlicher Weise. Flechtet man sie einmal versuchs- und andeutungsweise in W.s Auseinandersetzungen und in die in Anschluss an Barths Impulse konstatierte Spannung ein, so ergeben sich folgende Sätze und Ansätze: So sehr mit Barth und W. die neuzeitliche Selbstvergottung des bürgerlichen Subjekts auch zu kritisieren ist, aus der Sichtweise femi-nistisch-poststrukturalistischer Denkansätze müsste diese Selbstvergottung in Bezug auf das weibliche Subjekt zunächst erst einmal durchgeführt werden, bevor sie kritisiert werden kann. Und so sehr mit Barth und W. die bleibende Unterscheidung zwischen Religion und Offenbarung produktiv in den interreligiösen Dialog auch aufgenommen werden könnte und sollte, solange die dabei unterstellte kritische Funktion des Offenbarungsbegriffs nicht auch gegen patriarchale Verzerrungen der eigenen (in diesem Falle christlichen) Religion produktiv eingesetzt wird, droht die von W. intendierte Integration der Religionskritik in den interreligiösen Dialog doch wieder mit der Nennung des Namens Karl Barth stecken zu bleiben.
Trotz verschiedener Einwände und Diskussionspunkte kann ich das Buch zur eigenen Lektüre schließlich und endlich auf jeden Fall weiterempfehlen!