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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

911–913

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lauterkeit des Blicks. Unbekannte Materialien zu Romano Guardini.

Verlag:

Heiligenkreuz im Wienerwald: Be&Be-Verlag 2013. 279 S. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-902694-52-2.

Rezensent:

Harald Seubert

Sein lebenslanger Freund Josef Weiger, der Pfarrer von Mooshausen, wo Guardini während der Jahre des NS-Regimes Heimat fand, hat in seinem Buch der Erinnerungen einmal bemerkt, man könne Guardini nur verstehen, wenn man ihn von den Anfängen her kennenlerne. Die vorliegende Edition von Vorlesungsnachschriften macht es möglich, Guardinis frühe Bonner Kollegs als Privatdozent und den Beginn seiner Lehrtätigkeit auf dem ersten Lehrstuhl für »Christliche Weltanschauung« in Berlin nachzuvollziehen. Vorausgeht eine sehr in­struktive Einführung der Herausgeberin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz.
Zwei Nachschriften des später als Kunsthistoriker hoch renommierten Heinrich Lützeler eröffnen den Toccata-Reigen der präsentierten frühen Vorlesungen. Das allererste Bonner Kolleg aus dem »unvergesslichen Sommer 1922« wendet sich, noch theologisch situiert, dem dogmatischen Locus der »Erlösung« zu. Auffällig ist bereits hier ein konsequent biblischer Bezug. Guardini ist primär an der »Erlösungsdynamik« der Bibel interessiert. Hier deuten sich schon erste Spuren des späteren großen Buches »Der Herr« an. Die litur-gische und biblische Dimension grundiert auch die Auseinandersetzung mit Augustinus, Bonaventura und Dionysios Areopagites. Es schließt sich im darauf folgenden Semester ein Kolleg über »Sakrament und Opfer« an. In ökumenischer Hinsicht bemerkenswert ist die Auseinandersetzung mit Karl Barth und der frühen Dialektischen Theologie, denen darin Recht zu geben sei, dass sie die Sonderung Gottes von der Welt thematisieren. Allerdings kritisiert Guardini als Häresie, dass Barth diese Sonderung in eine Kategorie zu bringen versuche, nämlich die der radikalen Andersheit. Er selbst begreift das Sakrament einerseits in seiner Positivität, andererseits in seinem Geheimnis und seiner Unaussprechlichkeit, und gewinnt damit den Blick auf die Welt durchdringende Wirklichkeit Gottes und zugleich auf seine Transzendenz zur Welt.
Die Wiedergabe der Berliner Kollegs stützt sich weitgehend auf Mitschriften von Ursula Kolberg. Sie sind umfangreicher als Lützelers Wiedergabe, nicht immer so treffsicher und mitunter etwas redundant. Dennoch kann man daraus einen eigenen Guardini-Ton vernehmen. Die erste Berliner Vorlesung aus dem Sommersemester 1923 nimmt noch einmal die Thematik der »Erlösung« auf. Guardini entwickelt erstmals eine Typologie möglicher Theorien über Erlösung: Sie haben entweder moralisch-rechtlichen oder physisch-mystischen Zuschnitt. Im ersten Rayon entwickelt Guardini einen Begriff der Sittlichkeit, der im ordo amoris und damit in Gott gründet. Dies macht er gegenüber einer abstrakten Kantianischen Sittlichkeit und erst recht gegen den Utilitarismus sichtbar. Auch in dem ersten Berliner Kolleg scheinen spätere Themen Guardinis anzuklingen: Die Gestaltdeutung Jesu Christi ist weitergeführt, die Vision auf das »Ende der Neuzeit« deutet sich unterschwellig an. Aufgabe der Neuzeit ist nach Guardini die Überwindung der absoluten Autonomie. Nur angedeutet wird die personale Erlösungserfahrung, in der Guardini das Zentrum seiner Überlegungen gesehen haben dürfte.
Eine weitere Berliner Vorlesung widmet sich im Wintersemes­ter 1923/24 dem Verhältnis von Gott und Welt. Leitfaden ist eine Haltung der Wahrhaftigkeit in Glauben und Erkenntnis. Sie führt auf die Einsicht, dass die Idee des Absoluten die einzig adäquate Lösung der endlichen Fragen ist. In diesem Kolleg ist die Zwiesprache mit Augustinus und John Henry Newman ständig präsent. Leitmotivische Bedeutung kommt dabei dem Augustinus-Satz zu, wonach die Seele des Menschen »tragfähig für Gott« ist.
Im Folgesemester interpretiert Guardini dann das Neue Testament als ursprüngliche Manifestation christlichen Lebens. So sehr er der Polyphonie und darin dem Zusammenstimmen der Evangelien und Briefe, vor allem konzentriert auf das Verhältnis von Paulus und Johannes, nachgeht und so evangelisch im besten Sinne sich dies ausnimmt, widerspricht Guardini doch einem Lutherischen sola Scriptura. Die Schrift muss für ihn immer im Raum der Liturgie und im geschichtlichen Kontinuum der Kirche erschlossen werden. Hier ergibt sich eine Grunddifferenz zum Protestantismus, die auch Weiger deutlich erkennt und scharf betont. Nur im Munde der Kirche rede die Schrift recht. Anders drohe die Verzweiflung. Guardini hat dabei vermutlich einerseits Kierkegaard, andererseits die Geschichte des Protestantismus und Neoprotes­tantismus vor Augen. Schon diese Deutung der Schrift mündet in eine tiefschürfende Interpretation zur Gotteskindschaft. Dem geht dann das Folgekolleg über Die christliche Gotteswirklichkeit aus dem Wintersemester 1925/26 weiter nach. Gotteswirklichkeit wird an mystischer Erfahrung entwickelt; sie ist aber auf die Treue zu der Sache angewiesen, auf eine Erkenntnis, die dem Erscheinenden, so wie es sich zeigt, gerecht wird. Neben Bibel, Vätertheologie, Scholastik und Mystik öffnet sich gerade dieses Kolleg auch der Dichtung und Literatur der Moderne.
Zu welcher aphoristischen Klarheit Guardini in der Lage war, dokumentiert die abschließende Wiedergabe einiger Seiten aus der Mitschrift von Norbert Stahl. Sie galt einer Münchener Vorlesung aus dem Jahr 1954. Dieses kleine Korpus macht zugleich die Kontinuität zwischen dem frühen und dem späteren Guardini sichtbar. Dort formuliert Guardini unter anderem den bemerkenswerten Satz: »Das Böse bekommt erst im religiösen Raum seine Violenz.«
Die zum Ende des Bandes abgedruckten Auszüge aus den Mooshausener Erinnerungsbüchern von Josef Weiger erhöhen den Quellenwert des Bandes und zeigen Guardini unprätentiös menschlich, gesehen aus dem liebevoll verstehenden Blick des Freundes. Die Erinnerungen beginnen meist in der Gegenwart. Aus der Tiefe der Zeit tauchen dann die Konturen der ersten Begegnung im Tübinger Hörsaal im Jahr 1906 auf. Weiger stellt die Prägungen in Frage, die ge­meinhin aus der gelehrten Rückschau mit Guardini verbunden werden.
Weiger erweist sich keineswegs als kritikloser Beobachter. Er verschweigt nicht, wenn er den Eindruck hat, der Freund agiere in der politischen Öffentlichkeit unglücklich, oder wenn ihm eine Schrift (der gerade erschienene Klassiker Das Ende der Neuzeit) wenig gelungen erscheint. Dies ändert nichts am Grundtimbre einer tiefen freundschaftlichen Verbundenheit. Weiger macht auch deutlich, wie die Freiheit und Weite Guardinis gegen verengende Lebensformen im katholischen Milieu ankämpfte.
Die Edition ist außerordentlich sorgfältig und kenntnisreich kommentiert. Hinzu kommen weitere Einblicke in die Mooshausener Lebensform: Guardinis Predigtthemen zwischen Oktober 1930 und Mai 1945 werden abgedruckt und auch die Bücher mit Widmungen, die Guardini Weiger zukommen ließ. Daraus ergibt sich eine bemerkenswerte kleine Bibliothek, die neben Theologie auch zeitgenössische Romane, viel Historiographie, aber auch kunstgeschichtliche Werke enthält.
Dieser geglückte und beglückende Band, der die Schriftenreihe des Europäischen Instituts für Philosophie und Religion an der Hochschule Heiligenkreuz (EUPHRat) eröffnet und auch ästhetisch sehr ansprechend gestaltet ist, bringt einem Guardini näher. Ob man mit dessen Denken seit Langem vertraut zu sein meint oder ob man sich ihm neu zuwendet, deutet sich hier Guardinis persönliches Charisma an. Der Zauber, der über den Anfängen dieses Denkers lag, teilt sich in dieser bemerkenswerten Edition sehr überzeugend mit.