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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

910–911

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Beyer, Gudrun

Titel/Untertitel:

Streitpunkt ›Jesus‹. Theologische Kontroversen zwischen Rudolf Bultmann und Rudolf Otto in ihren Bezügen zur Religionsgeschichtlichen Schule und zu Richtungen des Kantianismus im beginnenden 20. Jahrhundert.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2013. XVI, 435 S. = Studien und Texte zur Religionsgeschichtlichen Schule, 7. Geb. EUR 59,95. ISBN 978-3-631-64061-6.

Rezensent:

Konrad Hammann

Die persönliche Beziehung zwischen Rudolf Bultmann und Rudolf Otto, die sich 1916 in Breslau kennengelernt hatten, war in den Jahren der gemeinsamen Lehrtätigkeit in Marburg von zunehmenden Spannungen geprägt. Diese rührten wesentlich her aus sachlichen Differenzen hinsichtlich des Religions- und Offenbarungsverständnisses und der damit zusammenhängenden Auffassung von der Bedeutung Jesu für den christlichen Glauben. Gudrun Beyer unternimmt es in der vorliegenden Untersuchung, die Kontroversen zwischen den beiden Theologen vor dem Hintergrund der Religionsgeschichtlichen Schule und unter Berücksichtigung der jeweiligen Rezeption unterschiedlicher philosophischer Richtungen zu rekonstruieren.
Das Inhaltsverzeichnis des Buches umfasst nicht weniger als sechs Seiten, auf denen die Gliederung der Darstellung in vier große Kapitel, 17 Unterkapitel, 58 weitere Unterkapitel mit wiederum 88 zusätzlichen und schließlich noch einmal zehn weiteren Unterkapiteln angezeigt ist. Ein Wille zur Form ist in dieser Anlage der Untersuchung gewiss nicht zu erkennen. Die Lektüre des Fließtextes wird zudem unnötig erschwert durch Kursivsetzungen, die Verwendung von Kapitälchen für Namen und Abkürzungen für Publikationen sowie die Einfügung zahlreicher Klammern mit Stellenangaben zusätzlich zu den Fußnoten. Leider weist das Buch auch eine erhebliche Anzahl an Fehlschreibungen von Vornamen und Namen, Buch- und Publikationstiteln und nicht wenige sprachliche Nachlässigkeiten auf.
Kapitel 1, dessen Überschrift merkwürdigerweise in der Darstellung anders lautet als im Inhaltsverzeichnis, gibt eine Einführung in das persönliche Verhältnis zwischen Bultmann und Otto und ihre Kontroversen über die Bedeutung des historischen Jesus für den christlichen Glauben. In dieser mit 43 Seiten wiederum umfangreich ausgefallenen Einleitung umreißt die Vfn. den Ge­genstand ihrer Untersuchung und ihre Vorgangsweise. Sie erläutert den Forschungsstand zu Bultmann und Otto und skizziert den Aufbau der Darstellung (1–43).
In Kapitel 2 analysiert die Vfn. Bultmanns Wartburg-Vortrag »Ethische und mystische Religion im Urchristentum« und seine »Geschichte der synoptischen Tradition« auf das von ihm um 1920 vertretene Jesusbild hin. Die Vfn. zeigt detailliert auf, an welchen Punkten Bultmann materialiter und methodisch an die Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule – Hermann Gunkel, William Wrede, Johannes Weiß und Wilhelm Bousset – anknüpft und wo er sich von ihnen unterscheidet. Die mit beträchtlichem Aufwand betriebene Untersuchung bestätigt weitgehend das von der Forschung bereits ermittelte Bild: Bultmann bringt in der »Geschichte der synoptischen Tradition« die traditionsgeschichtliche Variante der formgeschichtlichen Methode zur Anwendung. Er hält es nicht für plausibel, dem irdischen Jesus ein messianisches Selbstbewusstsein zuzuschreiben. Er versteht Jesus als eschatologischen Propheten, der die Nähe der Gottesherrschaft angekündigt und ein ihr entsprechendes ethisches Verhalten gefordert habe. Nach Bultmann hat man den historischen Jesus mithin als eine Gestalt des Judentums zu begreifen (45–186).
In Kapitel 3 bezieht die Vfn. sich vor allem auf Ottos Werke »Das Heilige« von 1917 und »Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie« von 1909. Die von Jakob Friedrich Fries übernommene Ahndungslehre und namentlich die Annahme des im menschlichen Geist angelegten religiösen Apriori ermöglichen es Otto, in Jesus den exzeptionellen Repräsentanten des Heiligen und »die divinatorische Stifterfigur der christlichen Religion« (212) zu sehen. Die besondere divinatorische Begabung Jesu stellt für Otto insofern das »Urgeschehen« der christlichen Erlösungsre-ligion dar, als sie über das Wort und Wirken Jesu hinaus auch seine geistvermittelte Wirkung in den urchristlichen Gemeinden umfasst und begründet. Von diesen Prämissen her kann Otto einen erheblichen Bestandteil der synoptischen Überlieferung den von ihm eigens entwickelten divinatorischen Textklassen zuordnen und als authentisches Jesusgut ausgeben. In seinen 1920/21 in Marburg gehaltenen Vorlesungen »Glaubenslehre 1 und 2« nimmt Otto an diesem Jesusbild nur geringfügige Modifikationen vor (187–304).
Das abschließende 4. Kapitel enthält eine Darstellung des Religionsverständnisses Bultmanns, wie er es unter impliziter oder expliziter Bezugnahme auf den Marburger Neukantianismus, Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Herrmann bis etwa 1918 ausgebildet hat. Ferner geht die Vfn. hier auf Bultmanns Auseinandersetzung mit Ottos Buch »Das Heilige« in dem bekannten Brief vom 6. April 1918 ein. Sie verfolgt den weiteren Verlauf der teilweise auch in den Marburger Lehrveranstaltungen ausgetragenen Kontroverse über Bultmanns Jesus-Buch von 1926 bis hin zu Ottos später Schrift »Reich Gottes und Menschensohn« von 1934 und Bultmanns ausführliche, überaus scharfe Rezension dieser Veröffentlichung, die allerdings erst 1937, nach dem Tod Ottos im selben Jahr, erschien. In der Zusammenfassung ihrer Untersuchung führt die Vfn. die Konvergenzen, die in Bezug auf das Verständnis Jesu zwischen Bultmann und Otto festzustellen sind, auf die gemeinsame Herkunft der beiden ungleichen Theologen aus der Religionsgeschichtlichen Schule zurück. Die Divergenzen, die im unterschiedlichen Religions- und Offenbarungsverständnis und dann auch in der je besonderen Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem historischen Jesus und der urchristlichen Christusverkündigung deutlich werden, sieht die Vfn. wesentlich durch die philosophischen Prägungen beider Theologen, d. h. den Neukantianismus Bultmanns und den Neufriesianismus Ottos, bedingt (305–405).
Während Bultmanns Jesusdeutung im Rahmen seiner theolo-gischen Hermeneutik eine enorme Wirkung auf die Exegese und Theologie des 20. Jh.s gehabt hat, ist Ottos Interpretation Jesu im Kontext seines religionsphänomenologischen Ansatzes forschungsgeschichtlich nahezu wirkungslos geblieben. Dieser doch wohl nicht ganz zufällig zustande gekommene Sachverhalt und seine möglichen Hintergründe geraten erstaunlicherweise gar nicht in den Blick der Vfn. Anzuerkennen sind aber der Fleiß, mit dem sie aus zahlreichen Veröffentlichungen, unveröffentlichten Bucheinträgen, Korrespondenzen und Vorlesungen Bultmanns und Ottos das Material für ihre Untersuchung zusammengetragen hat, und die Akribie ihrer Analysen. Die darstellerische Gestaltungskraft der Vfn. hingegen stößt erkennbar an Grenzen.