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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

905–906

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Pietsch, Andreas u. Barbara Stollberg-Rilinger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2013. 379 S. = Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 214. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-579-05994-5.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Im frühen 17. Jh. gab es in Deutschland nicht wenige katholische Geistliche, die Frau und Kinder hatten, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt austeilten, die Confessio Augustana als ein vom Kaiser erlassenes altgläubiges Bekenntnis bejahten und gleichwohl an ihrer konfessionskatholischen Identität nicht den leisesten Zweifel hegten. Solche und ähnliche Beispiele einer praktischen religiösen Uneindeutigkeit finden sich (nicht nur) in der Frühen Neuzeit zuhauf. Der vorliegende Band dokumentiert eine interdisziplinäre Tagung, die das Münsteraner Exzellenzcluster »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne« unter Federführung der Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger im September 2010 zu diesem Problemfeld veranstaltet hat.
Allenfalls auf den ersten Blick mag es überraschen, dass ausgerechnet die als Zeitalter der Konfessionalisierung angesprochene Geschichtsperiode als ein »Laboratorium der politischen und religiösen Pluralität« (12) in Erscheinung trat. Bei näherem Hinsehen liegt es durchaus auf der Hand, »dass gerade der Zwang zu Einheit und Eindeutigkeit – komplementär – Strategien des Verschleierns, Verbergens, Verstellens und der absichtlichen Doppeldeutigkeit hervorbrachte: Orthodoxie produziert Heterodoxie« (12).
Drei Beiträge des Bandes bemühen sich um grundsätzliche Klärungen des Konfessionsbegriffs (Philippe Büttgen, Kaspar von Greyerz, Jean-Pierre Cavaillé). Andere Studien erkunden das Phänomen der »Metadoxie«, also der vordogmatischen religiösen Indifferenz am Beispiel der christlich-muslimischen Grenzregionen des Os­manischen Reiches (Maurus Reinkowski) oder, innerchristlich, des auf dem Reichstag von 1566 ausgetragenen lutherisch-reformierten Konflikts um Friedrich III. von der Pfalz (Matthias Pohlig). Auch der Vorgang der Konversion erhält in solcher Perspektive erhebliche historiographische Relevanz (Jan-Friedrich Mißfelder, Lorenz Baibl). In anderer Weise grenznivellierend war der erstaunliche Vorgang, dass »der Lutheraner Daniel Casper von Lohenstein […] dem reformierten schlesischen Thronfolger im Jahr 1672 einen erzkatholischen Fürstenspiegel« (20) zueignen konnte (Sebastian Neumeister). Nicht zuletzt am Beispiel der sakramentalen Zulassungspraxis in England (Alexandra Walsham) und im persischen Safawidenreich (Christian Windler) lassen sich weitere signifikante As­pekte des Problemfeldes aufzeigen.
Kaleidoskopartig gewähren die insgesamt 16 Beiträge des Bandes einen vielschichtigen Blick auf die zumal im Prozess der konfessionellen Konsolidierung hervortretende Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Mitherausgeberin Stollberg-Rilinger neigt denn auch dazu, den Begriff der statisch normierten konfessionellen Identität durch den der »situativen Konfessionalität«, welche »laufend performativ erzeugt« werden muss, zu ersetzen: »Die homogene Konfessionskirche erweist sich dann als historiographisches Konstrukt, das sich den Fiktionen orthodoxer Theologen und den Wunschvorstellungen der Obrigkeiten des 16. und 17. Jahrhunderts verdankt« (26).
Die hier vereinten Studien sind dazu geeignet, die ältere, inzwischen recht verkrustet erscheinende Konfessionalisierungsdebatte neu zu beleben und innovativ fortzusetzen. Der Band möge, was er darstellt, zugleich ausweitend hervorbringen: eine breite interdisziplinäre Erörterung der religiösen Identitätsproblematik auf exzellentem Niveau.