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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

898–900

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bengel, Johann Albrecht

Titel/Untertitel:

Briefwechsel. Briefe 1723–1731. Hrsg. v. D. Ising.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 776 S. = Texte zur Geschichte des Pietismus. Abt. VI: Johann Albrecht Bengel Werke und Briefwechsel, 2. Lw. EUR 160,00. ISBN 978-3-525-55862-1.

Rezensent:

Michael Kannenberg

Vier Jahre nach dem ersten Band des Bengelschen Briefwechsels lässt Dieter Ising, früherer Mitarbeiter am Landeskirchlichen Ar­chiv in Stuttgart, den zweiten Band mit den Briefen der Jahre 1723 bis 1731 folgen. Johann Albrecht Bengel (1687–1752) war in diesen Jahren weiterhin als Klosterpräzeptor in Denkendorf tätig. »Äußerlich gesehen«, stellt Ising fest, »verläuft Bengels Leben in ruhigeren Bahnen als die im ersten Band dargestellte Periode des Studierens und Reisens.« (9) Gedanklich offenbaren sich in der Korrespondenz nun jedoch ausgedehntere Felder und breitere Wege. Überblickt man die 345 Briefe von und an Bengel, die aus den genannten Jahren wiederum teils als eigenhändige oder diktierte Ausfertigungen, teils im Entwurf oder in Abschrift, teils nur im Auszug erhalten sind, dann fallen besonders ins Auge: die textkritische Arbeit am Neuen Testament und die endzeitlichen Berechnungen. Mit beiden stieß Bengel nicht bei allen Zeitgenossen auf Wohlwollen, doch zeugen seine Briefe von einer gelassenen Zielstrebigkeit, mit der er die ihm notwendig erscheinende Arbeit weiter verfolgte. Einwänden gegenüber seiner textkritischen Beschäftigung mit dem Neuen Testament begegnete er mit der Feststellung: »Können diese männer […] die lebensbächl[ein] hin und wieder zertheil[en] und fruchtbarl. verbreit[en], so sehe ich hingegen nach der brunnenstub[en], welches eine arbeit ist, davon mancher nicht viel nachdenkt und doch derselben auch geneußt.« (150) Was Bengel aus dieser Brunnenstube schöpfte, dazu später mehr.
Die heutige Leserin, der heutige Leser der Bengelschen Korrespondenz profitiert wiederum auf das Erfreulichste von der Brunnenstuben-Arbeit des Herausgebers Dieter Ising. Mit der schon aus dem ersten Band vertrauten Akribie und Zuverlässigkeit hat er auch diesen Teil der Korrespondenz aufbereitet und für weitere Forschungen nutzbar gemacht. Eine konzise Einführung (9–31) nennt die Schwerpunkte der Korrespondenz in den mittleren Denkendorfer Jahren und bietet so einen guten inhaltlichen Überblick. Aus dem Verzeichnis der Briefe (59–67) wird erkennbar, dass sich nur ein Bruchteil der Korrespondenz erhalten hat: Pro Jahr sind zwischen knapp 20 und 70 Briefen aufgelistet; Bengel soll aber bis zu 1200 Briefe im Jahr geschrieben oder empfangen haben (vgl. Johann Albrecht Bengel: Briefwechsel. Briefe 1707–1722. Hrsg. v. Dieter Ising. Göttingen 2008, 8). Gleichwohl vermögen die erhaltenen Briefe (oder Briefauszüge) das Ziel der Edition weitestgehend zu erfüllen: Bengel als Mensch, Theologen, Pädagogen und Seelsorger in seiner Zeit zu dokumentieren (vgl. ebd., 49). Es verwundert nicht, dass dies besonders gut da gelingt, wo Bengel als Theologe sichtbar wird; undeutlicher bleibt der Mensch, zumal der Ehemann und Vater. Briefe rein familiären Charakters wurden wohl seltener aufbewahrt. Lediglich zehn Briefe von Frauen an Bengel sind aufgeführt, gar nur einer von Bengel an eine Frau.
So steht in diesem zweiten Band der Korrespondenz Bengel als Theologe und Pfarrkollege ganz im Vordergrund. Der Hauptteil des Bandes (71–743) bringt alle erhaltenen Schreiben entweder als Volltext oder Regest, auf verlorengegangene Schreiben wird an­merkungsweise hingewiesen. Die als Volltext dargebotenen Briefe werden von einer informativen Inhaltsangabe eingeleitet. Lateinische Briefe oder Textstellen werden übersetzt. Ob sich der Rückgriff auf überlieferte Übersetzungen wirklich lohnt, zumal auf so freie, unvollständige oder fehlerhafte wie die von Johann Christian Friedrich Burk (vgl. z. B. 370 f.), wäre zu diskutieren. Ein doppelter Apparat begleitet alle Schreiben mit textkritischen Anmerkungen sowie inhaltlichen Erläuterungen und biographischen Angaben. Letztere vermisst man allerdings bei schon im ersten Band eingeführten Korrespondenzpartnern; hier wäre ein kurzer Verweis hilf reich. Auch dieser zweite Band wird von einem Verzeichnis der Fundorte (745–749) und ausführlichen Registern (751–776) be­schlossen.
Und damit noch einmal zurück zu den inhaltlichen Hauptwegen, die Bengel in seiner Korrespondenz zwischen 1723 und 1731 beschritt. Bengels Bedeutung für die Textkritik und Auslegung der Bibel ist immer wieder gewürdigt worden, zuletzt besonders in der englischsprachigen Forschung: »Bengel’s great gifts to Protestantism were his work in textual criticism and biblical interpretation.« (Doug H. Shantz, An Introduction to German Pietism. Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe, Baltimore 2013, 229) In seiner Korrespondenz lässt sich nun Bengels Bemühung um den besten Text des Neuen Testaments in nuce nachverfolgen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: In einem Brief an den Frankfurter Bü­cher- und Handschriftensammler Zacharias Conrad von Uffenbach (1683–1734) charakterisiert Bengel verschiedene Handschriften, die ihm von jenem zur Kollation ausgeliehen worden waren, und schließt: »Ihr seht, wie ich glaube, dass Eure Bücher, edelster Mann, nicht ohne Grund auf Reisen gegangen sind.« (97; in der Übersetzung des Herausgebers)
Dass Bengel mit seiner textkritischen Arbeit nicht überall auf Gegenliebe stieß, wird aus einem Brief deutlich, den er von seinem Freund Philipp Heinrich Weissensee (1673–1767), damals Abt in Blaubeuren, erhielt. Dieser übersandte ihm ein Schreiben Gotthilf August Franckes aus Halle, das die Bemerkung enthielt, Textkritik am Neuen Testament sei ein »grosser Zeitverderb«, Textvarianten »von Importanz« seien nicht mehr zu finden (147, Anm. 18). Weissensee kommentierte die Kritik mit dem süffisanten Hinweis, wenigstens müsse Bengel aus Halle nicht mit Konkurrenz für seine textkritische Arbeit rechnen (147). Wenig später ergänzte Weissensee, Francke und andere Kritiker seien »liebe und vom herrn gewürdigte Leuthe«, die mit ihrer Verkündigung des Evangeliums ein Gastmahl ausrichteten. »Aber hetten, die den Küchenschurtz anhaben und sich nicht dörffen sehen lassen, nicht das beste zum sauber Kochen gethan, wie könnte man sauber anrichten?« (154)
Mit Uffenbach und Weissensee sind zwei der wichtigsten Briefpartner dieser Jahre genannt. Als Dritter kam Jeremias Friedrich Reuß (1700–1777) hinzu, der seit 1721 in Tübingen Theologie studierte und Bengels Korrespondent – im eigentlichen Sinne des Worts – in Tübingen war. Er versorgte Bengel mit den neuesten Nachrichten aus Tübingen und diente »als Korrektor und Gutachter« (377) bei Bengels Veröffentlichungen. Als Reuß Tübingen 1727 für zwei Jahre verließ, trat Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) an dessen Stelle, allerdings nicht zu Bengels voller Zufriedenheit, wie er wiederum gegenüber Reuß beklagt (727). Vor allem in den zahlreichen sehr vertrauensvollen Briefen an Reuß bringt Bengel erstmals seine apokalyptischen Entdeckungen zu Papier, so zum Beispiel im Dezember 1724: »Inveni numeru[m] bestiae, Domino dante.« (279) Bengel war damals seiner kirchengeschichtlichen Interpretation der Zahl 666 aus Offb 13,18 auf die Spur gekommen, von der ausgehend er glaubte, den Fahrplan der kommenden endzeitlichen Ereignisse berechnen zu können. Spannend ist da-bei zu beobachten, wie eng für Bengel seine apokalyptischen Forschungen mit familiären Sterbefällen verknüpft waren. Sein Sohn Johann Wilhelm war zwei Wochen nach der Geburt am 30. November 1724 gestorben. Wenn man Burks Angabe trauen kann (Johann Christian Friedrich Burk, Dr. Johann Albrecht Bengel’s Leben und Wirken, Stuttgart 1831, 264), dann hat Bengel seine Entdeckung bei der Vorbereitung auf die Predigt zum 1. Adventssonntag 1724 ge­macht, der auf den 3. Dezember fiel, also unmittelbar nach dem Tod des Sohnes. Gegenüber einem weiteren wichtigen Briefpartner, Matthias Marthius (1691–1734), Pfarrer der deutschen Gemeinde in Pressburg, brachte er den Zusammenhang wenig Monate später deutlich zu Papier: »Hier zu Lande sterben sehr viele Kinder hinweg, und auch ich habe aufs neue in meiner Familie diesen Fall erlebt. Da erscheinen mir denn diese Betrachtungen als eine Quelle des Trostes; denn die schönste Lebenszeit, noch mehr aber das höhere Alter der Kinder, welche gegenwärtig sterben, wird in die allerbetrübteste Zeit hinein fallen.« (314) Marthius gehörte, anders als Reuß, zu den offenen Kritikern von Bengels Bemühungen, aus der Johannesoffenbarung die Chronologie endzeitlicher Ereignisse zu berechnen. Das macht den Briefwechsel der beiden Theologen zu einer äußerst reizvollen Lektüre!
An anderer Stelle ist wiederholt davon die Rede, apokalyptisches Wissen sei Geheimwissen und vor der Welt verborgen zu halten (434.559.567.571). Umso glücklicher ist man, durch Isings Arbeit einen so umfassenden Einblick in Bengels Überlegungen zu er-halten. Jede Kennerin, jeder Liebhaber des Bengelschen Werks wünscht dem Herausgeber gute Gesundheit und freut sich auf den nächsten Band!