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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

894–897

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schwab, Günther

Titel/Untertitel:

Echtheitskritische Untersuchungen zu den vier kleineren Paulusbriefen.

Verlag:

Norderstedt: Books on Demand 2011. Bd. 1, Halbbd. A: Der Philemonbrief. Beobachtungen zur Sprache des Philipper- und des Galaterbriefs. M. e. Geleitwort v. W. Speyer. 419 S. m. Tab. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-8391-6754-0. Bd. 1, Halbb. B: Beobachtungen zur Sprache des ersten Thessalonikerbriefs. 397 S. m. Tab. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-8423-5440-1.

Rezensent:

Martin Hüneburg

Das anzuzeigende Buch von Günther Schwab ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Zum einen handelt es sich um den heute eher seltenen Fall, dass eine altphilologische Arbeit sich einem neutestamentlichen Gegenstand zuwendet. Der Vf. wurde mit ihr 2009 von der Universität Salzburg im Fach Gräzistik promoviert. Betreuer und Erstgutachter der Arbeit war Gerhard Petersmann. Weitere Gutachten stammen von Michael Ernst und Wolfgang Speyer, der auch ein Geleitwort zur überarbeiteten Buchveröffentlichung beisteuerte. Zum anderen richtet es sich gegen die heute vorherrschende Tendenz, eher die Echtheit der umstrittenen Paulusbriefe nachzuweisen, als die der sogenannten Protopaulinen in Frage zu stellen.
Das Buch verspricht also eine spannende Lektüre. Etwas ge­hemmt wird sie zwar neben gelegentlichen Längen vor allem durch die detaillierte Darbietung einer geradezu immensen Vielzahl von sprachlichen Beobachtungen in Form von Listen und Tabellen. Auch wenn dies für das Beweisziel zweifellos notwendig ist, wäre angesichts der sehr unterschiedlichen Aussagekraft der aufgeführten Parallelen eine stärkere Konzentration sinnvoll. So scheint gelegentlich die bloße Fülle beeindrucken zu sollen. Gliederung und graphische Gestaltung erlauben es jedoch, die Argumentation problemlos nachzuvollziehen.
In den beiden Teilbänden von Band 1 wendet sich der Vf. Phlm, Phil, Gal und 1Thess zu. Diese Bandzählung verweist darauf, dass das Projekt noch nicht abgeschlossen ist und weitergeführt werden soll. Ausgangspunkt ist die Behauptung, dass die Grundlage der Paulusforschung – oder wie er es nennt, ihr »Basissatz« (A, 11), die Annahme von mindestens sieben echten, d. h. von Paulus selbst verfassten Briefen, zwar Konsens sei, dieser seit der Auseinandersetzung mit F. C. Baur und seinen Nachfolgern in der Regel aber einfach vorausgesetzt würde, ohne tatsächlich wissenschaftlich abgesichert zu sein. Die in der Kommentar- und Einleitungsliteratur für die einzelnen Briefe angeführten Echtheitsargumente seien lediglich Scheinargumente.
Tatsächlich wird sich kaum bestreiten lassen, dass die immer wieder angeführte frühe Bezeugung – auch unabhängig von den Schwierigkeiten, eine solche festzustellen – nicht das leisten kann, was mit dem Rekurs impliziert wird. So ist es durchaus wahrscheinlich, dass auch heute als Pseudepigraphen angesehene Briefe wie Eph, 1Tim und Tit in gleicher Weise früh rezipiert wurden.
Im Umgang mit Sprach- und Stilargumenten konstatiert der Vf. eine erhebliche Differenz in der Bewertung: »Es liegt nicht auf der Hand, dass ›ungemein große Stilverschiedenheiten‹ echtheitskritisch unverdächtig sind, sobald sie sich innerhalb der Sieben bemerkbar machen.« (A, 40)
Auch der anerkannte Grundsatz, die Beweislast den Bestreitern der Echtheit zuzuweisen, füge sich in die Reihe der Scheinargumente ein. »Durch die übliche Beweislastverteilung bei Verfasserschaftsfragen antiker Texte, die einer Voraussetzung der Echtheit gleichkommt, wird das Echtheitsproblem verdrängt.« (A, 68)
Gegen diesen doch recht pauschalen Vorwurf an die Adresse der Paulusexegese kann auf die Arbeiten von A. J. Kenny, K. J. Neumann, G. Ledger oder G. K. Barr verwiesen werden, die sich unter Anwendung stilometrischer Methoden gerade mit den Authentizitätsfragen im Corpus Paulinum befassen. Allerdings wurden deren Ergebnisse in der Kommentar- und Einleitungsliteratur, auf die sich der Vf. weitgehend beschränkt, tatsächlich bisher kaum rezipiert. Er geht leider nur in einer Fußnote kurz darauf ein, in der er sich methodisch abgrenzt.
Schon das Prinzip des wissenschaftlichen Zweifels fordert grundsätzlich eine ergebnisoffene Prüfung der Echtheitsfrage. Sie sind deshalb »nicht anders zu untersuchen, als wären sie anonym überliefert« (A, 78). Die Forderung wird zur Notwendigkeit angesichts des Vorkommens von unbestrittener Pseudepigraphie nicht nur bei den überlieferten antiken Briefen allgemein, sondern auch bei denen mit paulinischer Verfasserangabe (vgl. dazu bereits die Warnung vor falschen Briefen in 2Thess 2,2) und der erheblichen sprachlichen und sachlichen Unterschiede unter den unbestrittenen Paulusbriefen. Dabei zielt der Vf. nicht auf eine schlichte Alternative von authentisch oder pseudepigraph, sondern auf differenzierte Wahrscheinlichkeitsurteile über die Echtheit der einzelnen Paulusbriefe. Als Ziel der Untersuchung wird darum auch in der Regel zunächst der Nachweis der unzulänglichen Begründung der Echtheit formuliert (A, 89.208.354).
Für eine solche Untersuchung bedarf es, wie der Vf. auch sieht, eines umfassenden methodischen Zugriffs. In den vorliegenden Teilbänden konzentriert er sich zunächst auf den intertextuellen Sprachvergleich. Nur für Phlm werden auch inhaltliche Indizien angeführt sowie mögliche Motive für die pseudepigraphische Verfasserschaft erwogen. Im Falle der anderen Briefe bleibt dies dem angekündigten zweiten Band vorbehalten (B, 370). Gefragt wird nach der Integrität der jeweils untersuchten Briefe und den literarischen Beziehungen zu anderen Paulusbriefen und weiteren neutestamentlichen Schriften. Ohne bereits Echtheit im Sinne paulinischer Verfasserschaft als Prüfinstanz voraussetzen zu müssen, können so Verfasseridentitäten mit Texten oder Textteilen außerhalb der Protopaulinen bzw. Verfasserverschiedenheiten innerhalb dieser Gruppe festgestellt und damit unechte Texte oder Textteile identifiziert werden (A, 78).
Die auf die Einleitung folgenden vier Kapitel gelten je einem der Briefe. Formal sind sie weitgehend gleich aufgebaut, von Umfang und Durchführung her allerdings sehr unterschiedlich. Auf ein detailliertes Inhaltsverzeichnis, das die fehlenden Register durchaus ersetzt, folgen der griechische Text des Briefes, eine Erläuterung des Beweiszieles, die Auseinandersetzung mit dem Echtheitskonsens und die Untersuchung der Berührungspunkte mit anderen Schriften als Indizien für die Fiktionalität.
Kapitel 1 (A, 87–199) wendet sich dem Phlm zu. Zweifel an der paulinischen Herkunft entstehen vor allem durch die Nähe zu Kol. Ein akribischer Vergleich soll Indizien dafür liefern, dass die Ab­hängigkeitsrichtung nicht von Phlm zu Kol, sondern umgekehrt verlaufen ist.
Darauf deute die Parallele von Phlm 6 und Kol 1. Παντὸς ἀγαθοῦ in Phlm 6 werde erst durch Kol 1,10 verständlich (A ,140). Bei Phlm 6 handele es sich um »eine straffende Kontamination von Kol 1,9d–h und 1,10e–h(i)«. (A, 141) Das ist aber kaum überzeugend. Was mit παντὸς ἀγαθοῦ gemeint ist, bedarf im Phlm keiner weiteren Ausführungen, denn es ergibt sich aus dem Brief selbst. Das Syntagma bezieht sich auf das von Philemon erwartete Verhalten, nämlich die Aufnahme des von Paulus zurückgeschickten Onesimos. Deshalb wird es auch Phlm 14 ausdrücklich als τὸ ἀγαθόν σου bezeichnet. In der für paulinische Proömia typischen Weise wird also auf das Anliegen des Briefes vorverwiesen. Umgekehrt erscheint vielmehr die Formulierung von Kol 1,10 als eine notwendige Auslegung des ἀγαθόν von Phlm 6, weil dessen konkreter Situationsbezug weggefallen ist.
Weitere Hinweise findet der Vf. in inhaltlichen Ungereimtheiten wie dem Nichtgetauftsein des Onesimos, dessen Zusammentreffen mit Paulus und die Nennung des Timotheus als Mitabsender in diesem privaten Brief. Diese »Ungereimtheiten« sind aber kaum so groß, dass sie gegen eine paulinische Verfasserschaft ins Feld ge­führt werden könnten. 1Kor 7,12–16 belegt, dass keineswegs alle Angehörigen eines christlichen Hauses getauft sein müssen. Da das Schreiben trotz des privaten Anliegens nicht nur an Philemon, sondern auch an weitere Personen und die Hausgemeinde gerichtet ist, handelt es sich eben nicht um einen reinen Privatbrief.
Die allegorische Ausdeutbarkeit der Namen Philemon und Onesimos und die Mehrdeutigkeit einzelner Ausdrücke liefern ein Motiv für eine mögliche Fälschung. Sie lässt den hier geforderten bereitwilligen Gehorsam und Besitzverzicht zugunsten des Paulus (A, 158) als eine über den konkreten Fall hinausgehende Weisung erkennen. »Ist der Phm unecht, wollte wahrscheinlich APhm als Evangelist über das Beispiel des Paulus diese (scil. in Kol 3,22–4,1 angesprochene – M. H.) unvollkommene Egalität unter Christen zu seinem bzw. seiner Standesgenossen Vorteil ausnützen.« (A, 160)
In Kapitel 2 (A, 201–345) macht der Vf. so zahlreiche Berührungen des Phil mit Röm, Apg, 2Thess, 1Thess, 1Kor, Gal aus, dass er von einem »mosaikartigen Gebilde« (A, 314) sprechen kann, das in einer dem Kol ähnlichen Weise entstanden sei. Vor allem die Abhängigkeit von 2Thess und Apg mache eine pseudepigraphische Herkunft des Phil wahrscheinlich.
Der Vf. sieht eine Parallele zwischen Phil 1,28 f. und 2Thess 2,2.4 und 1,5–6 (A, 241–248). Warum sich Phil 1,28 f. jedoch nicht organisch an V. 27 anschließen und mit V. 30 eher wie ein »assoziativer Anschluß« (242) an V. 27 wirken soll, erschließt sich mir nicht und wird auch nicht durch den Verweis auf den Kommentar von G. D. Fee zu dieser Stelle gedeckt. Auffälliger ist dagegen eine Folge von mehreren übereinstimmenden Wörtern: μὴ πτυρόμενοι/μὴ … μηδὲ θροείσθαι – τῶν ἀποκειμένων/ὁ ἀντικείμενος – ἔνδειξις ἀπωλείας/ὁ ὑιὸς τῆς ἀπωλείας …. ἔνδειγμα τῆς δικαίας κρίσεως τοῦ θεοῦ – ὑμῶν δὲ σωτηρίας/ὑμᾶς τῆς βασιλείας τοῦ θεοῦ – ἀπὸ θεοῦ/θεῷ, τὸ ὑπὲρ αὐτοῦ πάσχειν/ὑπὲρ ἧς καὶ πάσχετε.
Dies kann tatsächlich auf eine bestehende literarische Beziehung verweisen. Die Wahrscheinlichkeit einer Priorität von 2Thess ergibt sich aber tatsächlich erst aus dem Argument, dass die entsprechenden Verse in 2Thess nicht diesen Exkurscharakter tragen.
Ein weiteres »beachtliches Indiz für die Abhängigkeit des Php vom 2Thess« (A, 245) sieht der Vf. in der Verwendung des in der griechischen Literatur nur spärlich belegten Wortes πτύρω in Phil 1,28. AuctPhil schreibe μὴ πτυρόμενοι an dieser Stelle, »um seine inhaltliche Abhängigkeit von σαλευθῆναι ὑμᾶς ἀπὸ τοῦ νοός und θροεῖσθαι zu vertuschen« (A, 245). Die gleiche Scheu scheint AuctPhil anderenorts jedoch keineswegs gehabt zu haben.
Die Behandlung des Gal in Kapitel 3 (A, 347–419) beschränkt sich auf die autobiographischen Passagen Gal 1–2. Hier geht es dem Vf. um den Nachweis, dass die Berührungspunkte zur Apg mit größerer Plausibilität durch eine Abhängigkeit von Apg zu erklären sind (A, 354). Sein Argument dafür ist ein doppeltes: Die vor allem durch ne­gierte Aussagen geprägte Schilderung des paulinischen Werdeganges in Gal wirke wie der Versuch eines Widerspruchs gegen die Darstellung in Apg. Außerdem seien einige der sprachlichen Parallelen Lukanismen, die in den übrigen Protopaulinen nicht wieder begegnen (A, 405). Der Vf. betrachtet sprachliche Parallelen zwischen Apg und Gal vor allem als Indizien für literarische Abhängigkeit. Wäre aber die Vergleichsbasis nicht auszuweiten? Für den gesamten Komplex Iudaismos, Eifer, väterliches Gesetz finden sich Parallelen in den Makkabäerbüchern. Dort begegnen auch weitere Termini, die vom Vf. als Lukanismen verrechnet werden. Weiterhin stellen sich grundsätzliche Methodenfragen. Welche Rolle spielen Gattungsstereoptype etwa bei der Prägung von Gal 1 durch das Konversionsschema? Müsste nicht auch erst einmal geprüft werden, ob die Darstellung von Gal 1 innerhalb der im Brief vorausgesetzten Kommunikationssituation plausibel zu erklären ist?
Das dem 1Thess geltende, den gesamten zweiten Teilband einnehmende vierte Kapitel ist zwar mit 363 Seiten das bei Weitem umfangreichste, aber noch nicht abgeschlossen. Das Verhältnis zum Gal soll erst im zweiten Band behandelt werden. Für 1Thess konstatiert der Vf. so zahlreiche Anklänge an das Corpus Lucanum, speziell die Miletrede, dass er Lk oder einen Lukaner als Verfasser annimmt. Die paulinischen Züge ergeben sich unter der Lukasthese entweder aus der Nutzung von Paulusbriefen oder aus der Verwendung des 1Thess bei der Redaktion der Paulusbriefe. So sieht der Vf. etwa in 1Thess 4,3c–5 eine »plagiatorische Verwendung von 1Ko 7,2b–c« (B, 332–344) und in 1Kor 1,4.9 einen redaktionellen Zusatz, der auf 1Thess 1,2a.4–5.7.10; 3,10d.13–13; (5,23); 2,12d–f beruht (B, 359). Da die Lukanismen des 1Thess sich von denen des Gal unterscheiden, sei mit verschiedenen Verfassern zu rechnen (B, 370).
Die Arbeit weist eine Fülle von sprachlichen Beobachtungen auf, die für die weitere Arbeit an den Paulusbriefen unbedingt Beachtung verdienen. Aber kann die Kumulation von Möglichkeiten schließlich Wahrscheinlichkeit ausreichend begründen? Ob der Vf. sein Ziel erreicht hat, die Sicherheit der Echtheitsbehauptung für die vier von ihm bisher bearbeiteten Briefe zu erschüttern und eventuell sogar eine andere Lösung ins Gespräch zu bringen, kann noch nicht beurteilt werden. Dazu stehen zu viele Antworten aus, die erst im zweiten Band gegeben werden sollen.