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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

882–884

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Biebl, Sabine, u. Clemens Pornschlegel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Paulus-Lektüren.

Verlag:

Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2013. 243 S. = Religiöse Ordnungsmodelle der Moderne, 1. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7705-5312-9.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Paulus ist nicht nur unter die Philosophen gegangen. Generell ist in den Kulturwissenschaften ein steigendes Interesse an der Aktualität seines Denkens zu verzeichnen, für das Namen wie Jacob Taubes, Alain Badiou, Giorgio Agamben, Jean-Luc Nancy oder Slavoj Žižek stehen. Von fachexegetischer Seite ist der hier fällige Dialog noch kaum aufgenommen worden. Das ist nicht nur mit Blick auf die neutestamentliche Wissenschaft beklagenswert, kann sie doch nur zu ihrem Nachteil transdisziplinär artikulierte Interessen an ihrer Arbeit ignorieren; zu bedauern ist dieser Umstand auch hinsichtlich solcher Paulusinterpretationen, die auf eine interdisziplinär informierte Methodik neutestamentlicher Wissenschaft verzichten. Auch der anzuzeigende Aufsatzband – diese erste Veröffentlichung des Internationalen Forschungskollegs (IFK) »Ge­genwelten. Religiöse Ordnungsmodelle der säkularen Moderne« dokumentiert die Vorträge, die bei der Eröffnung des IFK im Dezember 2009 an der LMU München gehalten wurden – zeigt deutlich, dass der anstehende Dialog zu den aktuellen Impulsen und Resonanzen des paulinischen Denkens intensiviert werden muss. So wird – wenn überhaupt – fast ausschließlich auf veraltete und zum großen Teil unspezifische theologische Fachliteratur zurückgegriffen. In Verbindung mit unreflektierten Vorurteilen gegenüber (protestantischer) Theologie (104, Anm. 100.210.212, Anm. 22.218) bewirkt das einen merkwürdig anachronistischen Eindruck. Neben Ausnahmen wird unbekümmert der unrühmlich belastete Begriff »alttestamentarisch« verwendet (für den ebenso wenig sachgemäßen Begriff »neutestamentarisch« vgl. 88.99.108. 138.140.207 und pass.). Wenn von einer »Erbsünde des Paulus« oder einer antiken »Dogmatik des Judentums« die Rede ist (beides 89 und pass.), biblische Zitate als Zitate aus Sekundärliteratur deklariert (89), Bibelstellen unter ihren offenbar für ursprünglich gehaltenen Perikopentiteln zitiert (130 f. und pass.), Texte aus Briefen ohne Nummernangabe (Thess, Tim) genannt (137), nichtpaulinische Briefe als paulinische ausgegeben werden (z. B. 137.157, Anm. 43), handelt es sich um vermeidbare Fehler, die zusammen mit anderen Makeln (fehlerhafte Namen [74.79.90, Anm. 39], bibliographische Angaben [27.181, Anm. 38], Seiten- [127, Anm. 21] und Stellenangaben [28.65.107, Anm. 109], Zitate [24.31.89, Anm. 35.90 f.106.119.120 mit Anm. 15.129], Sekundärzitate [129.138, Anm. 42.44], falsche Genera für lateinische bzw. griechische Worte [70.73.85.107 u. ö.]) darauf hinweisen, dass dieser Band offenbar kein Lektorat und keine abschließenden Korrekturarbeiten erfahren hat.
Die Absicht des Buches besteht »in der problematisierenden Öffnung politik- und literaturwissenschaftlicher, kulturanthropologischer und philosophischer Fragestellungen für die enigmatische Figur des Völkerapostels, dessen insistierende Präsenz in Literatur und Recht, Philosophie und Politik zur Debatte steht« (14). Die hinsichtlich Qualität, methodischer Zuverlässigkeit und Nähe zur Zielsetzung des Bandes sehr unterschiedlichen Beiträge werden vier Sachbereichen zugeordnet: Theologie, Politik, Literatur, Kulturanthropologie, die jeweils mit zwei oder drei Aufsätzen gefüllt sind. Die zehn Beiträge werden gerahmt durch eine instruktive Einleitung der Herausgeber (7–14) sowie knappe Notizen zu den Autoren und ihren Arbeitsschwerpunkten (241–243).
Alf Christophersen eröffnet den Band mit einführenden Referaten zu den Paulusbildern von Nietzsche, Badiou, Agamben, Pasolini und Nancy unter dem Titel »Paulus als Held der (Post-)Moderne« (17–31). Dominik Finkelde SJ legt unter dem Thema »Die Wahrheitsethik des Apostels und die Diskursethik des Genies: Lacan, Kierkegaard, Žižek « (33–44) eine eindringliche Analyse der von Paulus beanspruchten »Vollmacht« – der Begriff wird sachgemäß als »Paradox der Autorität« (43) problematisiert – in der Perspektive der genannten Autoren vor. Peter Zeillingers Beitrag »Messianismus und futur antérieur. Grundlagen einer allgemeinen Struktur des Politischen« (45–62) widmet sich dem Phänomen des biblischen Messianismus und entsprechenden Faszinationen im Bereich des Politischen, geht auf Paulus jedoch nur knapp ein (53–55). Giuliana Parotti legt »Eine politische Theologie des Körpers« (65–80) vor und hebt dabei auf Paulus insofern ab, als sie »die Idee vom Körper der Kirche als dem Körper Christi« in »starke Analogie zur Idee vom medialen Körper eines politischen Leaders und seinen Anhängern samt zugehörigen politischen und sozialen Aggregationsformen« bringt (65; vgl. 80). Insoweit ihre These sich jedoch auf Ernst Kantorowicz bezieht (66), reflektiert sie weniger auf Paulus als auf das mittelalterliche Verständnis der Kirche als corpus mysticum. Auch der Beitrag von Jens Kabisch, »Hope. Change. We Can Believe In. Obama und die paulinische Wende des American Empire« (81–111) nimmt in einer eher arbiträren Weise auf Paulus Bezug, insofern er die im Aufsatztitel zitierten Stichworte als Resonanzen der paulinischen Trias »Glaube, Liebe, Hoffnung« deklariert. Thorben Päthe versucht unter dem Titel »aber niemand, niemand kann nach In­dien führen« messianische Figuren und paulinische Wendungen in Franz Kafkas ›Ein Landarzt‹ auszumachen (115–141). Die Vagheit der Bezüge auf »paulinische Wendungen« wird dadurch verstärkt, dass in diesem Beitrag promiscue von ganz unterschiedlichen »neutestamentarisch-christlichen Prätexten« (138) die Rede ist (wo­bei 125 f. offensichtlich Matthäus- und Lukasevangelium verwechselt werden). Herbert Holl trägt mit seiner Eloge auf Alexander Kluge »Götter und Dämonen in Alexander Kluges Kapitalismusutopie« den am stärksten hermetischen Aufsatz des Sammelbandes bei (143–163). »Paulus« – gemeint ist der wirkungsgeschichtlich mystifizierte Protagonist einer Pauluslegende – dient hier lediglich als fakultativer Stichwortgeber. Christoph Schmidt behandelt unter dem Titel »Das ist mein lieber Sohn« »Freud und Paulus als therapeutische Konstellation« (167–186). Schmidt geht es darum, unter dem Stichwort einer »erotischen Säkularisation« (168 und pass., verstanden als eine »Säkularisation der Liebe«, 172 und pass.) ein mo­dernes Reduktionsphänomen zu erfassen und unter diesem Aspekt eine Konstellation Paulus-Freud sowie »eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Religion und Psychoanalyse« zu konstruieren (169).
Der Beitrag von Anton Schütz »Der Geist des Neuen Testaments und die Institutionsanalyse: Eine zeitgemäße Betrachtung an Leitfäden von Pierre Legendre, Serge Margel und Jonathan Z. Smith« (187–219) referiert mit Blick auf Probleme eines europäischen Selbstfindungsprozesses (z. B. Universalisierung versus Provinzialisierung) institutionenkritische Positionen einer nicht-essentialis­tischen Religionswissenschaft, die in Anknüpfung an Überlegungen von Kantorowicz, Eliade und Derrida entwickelt wurden. Der Band wird von dem Beitrag »Reformatio totius orbis. Überlegungen zum Universalismus des abendländischen Chris­tentums. Erzählung aus melancholischen Zeiten« (221–240) des 2005 emeritierten Altmeisters Pierre Legendre gekrönt. Legendre stellt fest: »Das Christentum ist eine Religion, die über keine eigenen Normen verfügt«; es stehe damit »an den Antipoden zur Welt der Tora und des Islam« (231). Diese Behauptung (an anderer Stelle nennt Legendre »den Mangel an sozialen Regeln« »den strukturalen Grund, der dem Christentum inhärent« sei; 237) bleibt auch dann noch ungedeckt, wenn sie »genauer« (ebd.) verstanden werden soll: »Das Christentum hat die Nichtexistenz eigener Normen, den Mangel an konkreten sozialen Vorschriften dadurch kompensiert, dass es das normative System der Römer christianisiert hat.« (Ebd.) Es reiche folglich nicht hin, unsere Kultur als »jüdisch-christlich« zu be­zeichnen (die Problematik dieser Wendung diskutiert Legendre nicht); es gehe darum, sie »jüdisch-römisch-christlich« zu nennen (239). Legendre behauptet an anderer Stelle, »die protestantische Reformation« habe den Papst »durch die Autorität der Heiligen Schrift […], das heißt durch das alleinige Gesetz, wie es im Dekalog steht« ersetzt (234). Historische Unbedenklichkeiten lassen einen konstruktiven und methodisch gesicherten interdisziplinären Diskurs kaum zu. Ihm bleibt der Dialog über die »insistierende Präsenz« (7.14) paulinischer Texte weiterhin zu wünschen.