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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

856–857

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Georges, Tobias, Albrecht, Felix, u. Reinhard Feldmeier [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Alexandria.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XIV, 574 S. = Civitatum Orbis MEditerranei Studia, 1. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-151673-3.

Rezensent:

Michael Tilly

Alexandria kann in religiöser und sozialer Hinsicht als ein kultureller Schmelztiegel bezeichnet werden. Von der antiken Weltstadt gingen wesentliche Impulse für die antike Philologie und Philosophie aus. Zugleich gilt die hellenistische Metropole am westlichen Rand des Nildeltas als überaus bedeutend für die Geschichte des antiken Judentums, des Christentums und auch des frühen Islam. Die insgesamt 21 Beiträge des vorliegenden Bandes sind überarbeitete und ergänzte Fassungen von archäologisch, althistorisch, philologisch, philosophisch und religionsgeschichtlich orientierten Vorträgen, die im Juli 2010 während eines Göttinger Symposions unter dem Titel »Alexandria – Stadt der Bildung und der Religion« gehalten wurden.
Drei Beiträge befassen sich zunächst mit der Archäologie und Geschichte Alexandrias. Balbina Bäbler (3–27) skizziert anhand des (im Vergleich zu ihrer literarischen Bedeutung erstaunlich mageren) archäologischen Befundes die Baugeschichte der im Jahre 332/1 v. Chr. an der Stelle des Dorfes Rhakotis gegründeten Stadt bis zum 7. Jh. n. Chr. Ihr besonderes Augenmerk gilt dem königlichen Viertel, dem berühmten Leuchtturm auf Pharos, den Anlagen zur Wasserversorgung und der ausgedehnten Nekropolen. Dorit Engster (29–63) widmet sich dem hohen Stellenwert Alexandrias als Zentrum der (von den Ptolemäern beträchtlich unterstützten) wissenschaftlichen Forschung und als Heimat bedeutender Gelehrtenpersönlichkeiten auf den Gebieten Mathematik (Euklid), Geographie (Eratosthenes, Ptolemaios), Astronomie (Aristarch, Hipparch), Medizin (Herophilos, Erasistratos) und Mechanik (Ktesibios, Philon, Heron). Heinz-Günther Nesselrath (65–88) beleuchtet sodann die Gründung, Einrichtung und Ausstattung des alexandrinischen Museions, den Umfang der gewaltigen Bibliothek sowie das umstrittene Verhältnis und die Geschichte der beiden benachbarten Bildungsinstitutionen bis zu ihrer endgültigen Zerstörung im 4. Jh. n. Chr.
In vier Beiträgen geht es um das pagane Alexandria. Jürgen K. Zangenberg (91–107) warnt in seiner gründlichen Untersuchung der Sozialgeschichte der multiethnischen und multikulturellen Bewohnerschaft der Nilmetropole davor, die in den antiken Quellen erwähnten »Griechen«, »Juden« und »Ägypter« in anachronistischer Weise als festgefügte und eindeutige »Volksgruppennamen« zu deuten (92); ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt dabei auf den sozialen und ethnischen Konflikten zur Zeit des römischen Präfekten Avilius Flaccus und den krisenhaften Ereignissen des Jahres 38 n. Chr. Ilinca Tanaseanu-Döbler (109–126) stellt anhand des Kreises um den Philosophen Ammonios Sakkas das Verhältnis von helle-nis­tisch-römischer Bildung und religiösen Traditionen in Alexandria im 3. Jh. n. Chr. dar. Der philosophische Schulbetrieb um den Lehrer Plotins und des christlichen Theologen Origenes reflek-tiere den Übergang zwischen Mittel- und Neuplatonismus. Martin Bommas (127–147) untersucht die literarisch und archäologisch fassbaren Erscheinungsformen des alexandrinischen Isiskultes und unterstreicht, dass die lokale Verehrung dieser ursprünglichen »Hafengöttin« (146), die unter den Ptolemäern zu einer dynas-tischen Gottheit avancierte, zunächst wohl nur in der persönli-chen Religiosität beheimatet gewesen sei. Stefan Schmidt (149–172) fragt nach der Symbolkraft des Serapiskultes und seiner Einbindung in das spätantike kulturelle Leben in der Stadt. Er unternimmt den Versuch einer Rekonstruktion der Abläufe des Kultbetriebs in dem monumentalen Serapeum, dessen Zerstörung gegen Ende des 4. Jh.s vielen kirchlichen Autoren als Fanal für die endgültige Überwindung paganer Kulte galt.
Das jüdische Alexandria wird in neun Beiträgen thematisiert. Nachdem Anna Maria Schwemer (175–192) die Stadtgründungslegenden in der reichen griechisch-römischen und jüdischen Alexanderüberlieferung miteinander verglichen hat, stellt Reinhard G. Kratz (193–208) ein »nicht-biblisches Judentum«, repräsentiert von den jüdischen Bewohnern der Nilinsel Elephantine während der Perserzeit, dem »biblischen Judentum« Alexandrias gegenüber. Felix Albrecht (209–243) gibt einen gerafften Überblick über die Entstehungs-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der Septuaginta, deren Ursprünge in Alexandria zu finden sind. Besonders ausführlich kommen dabei die frühen jüdischen und christlichen Rezensionen der griechischen Bibel zur Sprache. Zu ergänzen wäre hier m. E. der Hinweis darauf, dass bereits die Anordnung der Bücher bzw. Buchteile in der Septuaginta christliche Theologie wi­derspiegelt (214). Während Friedrich V. Reiterer (245–284) die treibenden Motivationen und Vorstellungen des jüdischen Politeumas Alexandrias in seiner Positionierung zwischen Akkulturation und Abgrenzung gegenüber lokalen Ausprägungen der hellenistischen Kultur anspricht, weist Jan Dochhorn (285–312) auf das gravierende Problem der Uneindeutigkeit bzw. mangelnden Abgrenzbarkeit eines konturierten Bestandes »jüdisch-alexandrinischer« Literatur hin. Karin Schöpflin (313–340) untersucht die Gottesbezeichnungen im griechischen Tobitbuch, Maren R. Niehoff (341–360) das Werk und Wirken der jüdischen Exegeten in Alexandria und die Bedeutung der antiken Homerauslegung für ihre Werke, Beatrice Wyss (361–379) die hermeneutische Grundlegung, Bedeutung und Funktion der »Arithmologie« (methodische Deutung von Zahlenangaben im Bibeltext) im Werk Philons, und Anna Maria Schwemer (381–399) die jüdischen Aufstände in der westlichen Diaspora zur Zeit Trajans.
Vier Beiträge erhellen die Geschichte des christlichen Alexandria. Jürgen Wehnert (403–412) weist in seiner biographisch-prosopographischen Skizze des aus Alexandria stammenden frühchristlichen Missionars Apollos auf einige Reflexe jüdisch-alexandrinischer Weisheitstheologie in dessen neutestamentlichem »Image« hin, Winrich Löhr (413–433) stellt eine Reihe christlicher Gnostiker im spätantiken Alexandria vor, Ralf Sedlak (435–444) konzentriert sich auf Person und Werk des vielseitig gebildeten christlichen Theologen und Schriftsteller Klemens von Alexandria, und Peter Gemeinhardt (445–473) unterstreicht (unter der vorausgesetzten Annahme einer Vergleichbarkeit bzw. Kontinuität zwischen dem Curriculum der paganen alexandrinischen Schulen und dem Lehrprogram der Schule des Origenes in Caesarea Maritima) die hohe Bedeutung hellenistisch-römischer Bildungsgüter insbesondere für die methodische Bibelauslegung des christlichen Gelehrten. Mit einem Ausblick auf die frühe Geschichte des islamischen Alexandria im Spiegel arabischer Autoren in Hinrich Biesterfeldts Beitrag (477–490) endet der inhaltsreiche Tagungsband. Beigege-ben sind eine Bibliographie (491–541), ein Verzeichnis der Autoren (543 f.) sowie Register der Stellen (545–565) und Sachen (566–574).
Insgesamt ist es den Herausgebern gelungen, ein facettenreiches Bild der hohen geistesgeschichtlichen Bedeutung der helle-nistischen Metropole Alexandria vom Beginn der hellenistischen Epoche bis zur Einnahme der Stadt durch die Araber zu vermitteln. Obwohl ein Teil der durchweg soliden Beiträge einen eher einleitenden und überblicksartigen Charakter hat, während manche wichtigen Themen (z. B. das Werk Philons von Alexandrien) nur randständig behandelt werden, enthält der lesenswerte Sammelband eine ganze Reihe von innovativen Einzeluntersuchungen und bedenkenswerten Impulsen für die althistorische und religionsgeschichtliche Forschung.