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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

852–854

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Charlesworth, James H. [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Tomb of Jesus and His Family? Exploring Ancient Jewish Tombs Near Jerusalem’s Walls. The Fourth Princeton Symposium on Judaism and Chris­tian Origins, Sponsored by the Foundation on Judaism and Chris­tian Origins.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2013. 605 S. Kart. US$ 48,00. ISBN 978-0-8028-6745-2.

Rezensent:

Jürgen Zangenberg

Wurde im Jahr 1980 im Jerusalemer Stadtteil Talpiot das »Familiengrab Jesu« wirklich entdeckt (»Talpiot I«), wie medienwirksam behauptet wird? Aufsehen erregte vor allem die bemerkenswerte Überlappung zwischen einigen Eigennamen der in dem Grab Bestatteten mit den z. B. in Mk 6,3 genannten Verwandten Jesu. Zusätzlich dazu wurden in dem Grab auch eine »Mariamene« und ein »Jeschua, Sohn des Josef« zur letzten Ruhe gebettet. War darin Jesus selbst bestattet, vielleicht gar neben (seiner Frau?) Maria Magdalena oder seiner Mutter Maria? Wie wahrscheinlich ist es, dass die Namenkonstellation abgesehen von der Familie Jesu noch einmal vorkommt? Wenn »Talpiot I« aber als Familiengrab Jesu gelten kann, was bedeutet dies für den christlichen Glauben?
Mit der Diskussion um »Talpiot I« verschmolz bald eine weitere, nicht weniger heftig geführte Debatte über die Authentizität und Bedeutung eines illegal ausgegrabenen, nun in Privatbesitz befindlichen Ossuars mit der Aufschrift »Jakobus, Sohn des Josef, Bruder des Jeschua«, das 2002 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. War dies etwa die Knochenkiste des Herrenbruders? Könnte das Ossuar gar aus »Talpiot I« stammen, was der Hypothese vom »Familiengrab Jesu« dann zusätzliche Sprengkraft verleihen würde?
Der vorliegende Band vereinigt Beiträge einer vom Herausgeber im Jahr 2008 in Jerusalem organisierten internationalen Konferenz mit Forschern unterschiedlichster Disziplinen, Befürwortern wie Gegnern der einzelnen Hypothesen. Dass mancher Beitrag recht technisch argumentiert, liegt in der Natur der Sache. Zahlreiche Beiträge zu Bestattungskultur und Onomastik des antiken palästinischen Judentums sind freilich auch abgesehen von der engeren Debatte um das »Familiengrab Jesu« mit Gewinn zu lesen, selbst wenn die Anordnung der individuellen Beiträge im vorliegenden Band mitunter nicht ganz einsichtig ist.
Nach einem knappen Vorwort (XVIII–XX) und einer ausführlichen Einleitung (1–26) des Herausgebers skizziert der erste Hauptteil »Ossuaries and Jewish Burial Customs in Judaea and Galilee« den archäologischen und kulturgeschichtlichen Kontext der Talpiot-Gräber. Besonders wichtig ist die ausführliche Präsentation und Diskussion der tatsächlichen Befunde von »Talpiot I« durch Amos Kloner und Shimon Gibson (29–75). Sie kritisieren die Sensationslüsternheit mancher Medien und konkludieren: »(T)here is nothing to commend the Talpiot tomb as the family tomb of Jesus«, vielmehr befinde sich dieses unter der Aedicula der Grabeskirche »as tradition dictates and on archaeological grounds« (51). Claude Cohen-Matlofsky räumt in seinem Beitrag »The Imperfect ›Tomb of Jesus and Family‹« (76–107) zwar ein, dass keine Sicherheit zu erlangen sei, ob »Talpiot I« wirklich das Grab Jesu ist, meint aber dennoch, dass »unless a better configuration emerges, there is enough evidence to believe that it is« (106). Immer wieder oszilliert die Diskussion zwischen diesen beiden Positionen.
Der zweite Hauptteil »Inscriptions and Prosopography« vertieft die Diskussion. Rachel Hachlilis Artikel weist die Zuschreibung des Grabes an die Familie Jesu zurück (»speculation and guesswork«, 143) und bietet zugleich wertvolle Hinweise zur Namenvergabe im antiken Judentum und zu Möglichkeiten, inschriftlich überlieferte Na­men mit historischen Personen zu identifizieren (125–149). Die folgenden Beiträge von André Lemaire (150–164) und Stephen Pfann kommen zu ähnlichen Ergebnissen (165–205). Christopher A. Rollston gibt abschließend freilich den wichtigen Hinweis, dass statistische Erwägungen eben nicht allein durch die Informationen, die wir er­halten, in ihrer Aussagekraft beeinflusst werden, sondern eben auch durch das Viele, das wir gerade nicht kennen (206–221). Es bleibt also für beide Positionen ein uneinholbares Element der Unsicherheit.
Nach dem dritten Hauptteil »DNA and Patina: Improving Methodologies« mit einer Reihe zum Teil recht technischer Beiträge befasst sich der vierte Teil wieder explizit mit »Talpiot, A Jesus Family, and Mary Magdalene«. James D. Tabor, einer der Protagonisten der »Familiengrab«-Hypothese, legt dabei nochmals seine Argumente dar: »Talpiot I« sei nach aller Wahrscheinlichkeit das Grab Jesu und seiner Familie (247–266). Über die theologischen Konsequenzen seiner ausdrücklich als wissenschaftlich verstandenen Aussage ist sich Tabor natürlich vollauf bewusst. Diese Dimension spielt erwartungsgemäß seit Beginn der Debatte eine zentrale Rolle. In einer »Final Theological Note« unterstreicht Tabor dann auch: »Good history can never be an enemy of proper faith«, seine These sei kein »attack on the Christian faith«, zwinge aber zur Revision eines Verständnisses von Auferstehung als »literal flesh-and-bones event« (265) – auch abgesehen von der Debatte über die Archäologie von »Talpiot I« und »Jakobus-Ossuar« ein wichtiger Hinweis!
Der fünfte Hauptteil wendet sich wieder dem »The James Ossuary« zu. Die naturwissenschaftlichen Untersuchungen von Amnon Rosenfeld/Howard R. Feldman/Wolfgang E. Krumbein (334–352) ergaben, dass das »Jakobus-Ossuar« tatsächlich »the same geochemical fingerprints« besitzt wie die Talpiot-Höhle (347). Könnte es daher ein »missing eleventh ossuary« aus »Talpiot I« sein? Unwahrscheinlich, denn die Ausgräber wissen nur von zehn inventarisierten Ossuaren (s. Kloner/Gibson, 40–45). Kann man so einfach ein elftes hinzufügen? Immerhin hat die Untersuchung der Patina erwiesen, dass die Inschrift »Jakobus, Sohn des Josef, Bruder des Jeschua« wohl doch nicht nachträglich auf dem Ossuar angebracht worden sein kann, wie dies auch mit guten Gründen immer wieder intensiv diskutiert wurde. Der fehlende Nachweis der Herkunft aus »Talpiot I« verhindert jedoch, das »Jakobus-Ossuar« einfach dem »Talpiot I«- cluster hinzuzufügen, und insofern trägt es entgegen der Meinung der Autoren des Beitrags auch nichts dazu bei, die statistische Wahrscheinlichkeit »to a compelling level of certitude« zu erhöhen, »that it is really the historic holy family tomb« (349).
Die Beiträge des folgenden Hauptteils »Talpiot, Statistics, the Holy Sepulcher, and the Apostles« kommen erneut auf die methodischen Probleme von Berechnungen zurück, wonach »Talpiot I« wirklich das Grab der Famile Jesu gewesen sei. Die Beiträge von Mark Elliott/Kevin Kilty (355–374), Camil Fuchs (375–398) und Eldad Keynan (399–414) zeigen in recht ernüchternder Weise, wie sehr die Ergebnisse statistischer Berechnungen von den gewählten Methoden und Voraussetzungen abhängig sind. Sicherheiten gibt es eben in dieser Frage nicht (weder in die eine, noch in die andere Richtung!), nur Wahrscheinlichkeiten, wie problematisch dies für die Einbeziehung solcher Argumente in weiterführende theologische Überlegungen auch sein mag. Für Eldad Keynan (415–433) ergibt sich kein Gegensatz zwischen »Talpiot I« als »Familiengrab Jesu« und der Grabeskirche als traditionellem Ort der Bestattung Jesu, und er plädiert auf der Basis halachischer Beobachtungen zum Status Jesu und zum antiken jüdischen Bestattungswesen dafür, beide als komplementäre Grablegen für die Erst- und Zweitbestattung Jesu anzusehen. Überzeugend ist dies freilich allein, wenn »Talpiot I« in der Tat als Grab Jesu in Frage käme.
Die vier Beiträge im Hauptteil »Beliefs in Second Temple Judaism about Burial and the Afterlife« widmen sich dem weiteren kulturhistorischen und theologischen Rahmen jüdischer und frühchristlicher Bestattungssitten und Jenseitsvorstellungen. Im letzten Abschnitt zieht James H. Charlesworth eine vorläufige Bilanz (549–552) und geht in einem höchst aktuellen »Postscript« auf die erst 2010 entdeckte »Patio Tomb« (alias »Talpiot II«) ein. Charlesworth beurteilt sowohl die Verbindung dieses Grabes zu »Talpiot I« sehr zurückhaltend als auch die Frage, ob die »Patio Tomb« als Grab frühester Christen gelten kann (555–575). Eine »Selected Bibliography« von Blake A. Jurgens und Jon David Shearer III (576–585) schließt den Band ab. Leider fehlt ein Register.
Das Buch bietet eine hervorragende Dokumentation der zentralen Befunde und Einsichten zu den Talpiot-Gräbern und dem »Jakobus-Ossuar«, um die man in der künftigen Diskussion nicht mehr herumkommt. Wer aber auf der Suche nach schnellen und eindeutigen Antworten ist, wird enttäuscht sein. Charlesworth selbst formuliert keine abschließende These, sieht aber eher Gründe, »why it is unlikely that the tomb or bones of Jesus from Nazareth have been found« (551). Dennoch verschafft der Band den unterschiedlichsten Argumenten Gehör; allein dies wird der komplexen Materie auch am besten gerecht. So unbequem es manch einem anmuten mag, dass die Wahrscheinlichkeiten von Ausgrabungsbefunden, DNA-Daten und statistischen Berechnungen gewichtige Konsequenzen für die Interpretation fundamentaler Wahrheiten des christlichen Glaubens haben könnten, so wenig sollte man in Apologie (»Was nicht sein darf, kann nicht sein!«) oder in Sensationalismus (»Christliche Auferstehungsbotschaft archäologisch widerlegt!«) verfallen. Dafür, dass dies nicht geschieht, sorgen die 30 Experten dieses verdienstvollen Bandes.