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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

813–830

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Christof Landmesser

Titel/Untertitel:

Geschichte als Interpretation in der neutestamentlichen Wissenschaft


Eine Skizze zu einer theologischen Aufgabe

I

Dimensionen von Geschichte –

einleitende Überlegungen


Die neutestamentliche Wissenschaft lebt von ihrer Geschichte. Das gilt für die christliche Theologie überhaupt und es gilt zugleich in mehrfacher Hinsicht. Der Gegenstand der neutestamentlichen Wissenschaft ist eine Geschichte in der Vergangenheit, die sie für die Gegenwart für bedeutsam genug hält, sich mit ihr zu beschäftigen. Die angenommene Bedeutung dieser Vergangenheit kann zumindest auch an der Wirkung dieser Geschichte abgelesen werden. Damit rückt zugleich die zweite bedeutsame Dimension von Geschichte in den Blick. Die Beschäftigung mit der zugrunde liegenden Geschichte bildet selbst eine Geschichte aus im Sinne des Verlaufs dieser Beschäftigung mit der Geschichte in allen ihren Hinsichten. Die der neutestamentlichen Wissenschaft zugrunde liegende Geschichte lässt sich dabei nicht einfach absondern von der Geschichte der Beschäftigung mit dieser Geschichte. Die der neutestamentlichen Wissenschaft zugrunde liegende Geschichte ist nur im Vollzug der Geschichte der Beschäftigung mit dieser Geschichte überhaupt greifbar. Die Rede von einer der neutestamentlichen Wissenschaft zugrunde liegenden Geschichte erweist sich als eine Abstraktion, die wohl heuristisch sinnvoll ist, die aber auch bewusst gemacht werden muss, soll nicht eine kaum einlösbare Gegenständlichkeit im Sinne einer niemals gegebenen Objektivität vorgetäuscht werden. Die der neutestamentlichen Wissenschaft zugrunde liegende Geschichte erscheint nur im Modus der Beschäftigung mit dieser Geschichte. 1

Die Komplexität der Frage nach der für die neutestamentliche Wissenschaft relevanten Geschichte ist damit längst nicht hinreichend umrissen. Denn schon die Texte des Neuen Testaments lassen erkennen, dass sie selbst eine Geschichte der Beschäftigung mit einer Geschichte voraussetzen und darstellen. Im Neuen Testament ist eine Pluralität im Umgang mit der hier zugrunde liegenden oder vorausgesetzten Geschichte zu beobachten. Die vier Evangelien erzählen die Jesusgeschichte unterschiedlich, auch wenn sie untereinander Abhängigkeitsverhältnisse aufweisen. Und es ist le­gitim und notwendig zugleich, die Frage zu stellen, inwieweit sich die neutestamentlichen Texte tatsächlich auf die gleiche ihnen zugrunde liegende Geschichte oder die gleichen ihnen zugrunde liegenden Geschichten beziehen. Jedenfalls sind sie als Texte, die eine Geschichte erzählen, klar voneinander zu unterscheiden. Die im Neuen Testament erzählten Geschichten unterscheiden sich ebenso, wie sich die Geschichten im Umgang mit der zugrunde liegenden Geschichte voneinander abheben.

Beim Blick auf die neutestamentlichen Texte lässt sich noch eine weitere Dimension wahrnehmen. Die in diesen Texten erzählten Geschichten erheben zumindest oft ausdrücklich den Anspruch, nicht einfach aus sich selbst heraus verständlich zu sein, sie werden vielmehr in den Horizont einer umfassenderen Geschichte gestellt, sie werden erzählt als ein Teil der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Die Jesusgeschichte und ihre Interpretation erhalten so zumindest für die neutestamentlichen Texte einen unverwechselbaren Ort. 2 Die Bestimmung dieses Ortes ist nicht nur mit Blick auf die vorausgesetzte Vergangenheit von Bedeutung. Die in den neutestamentlichen Texten erzählten Geschichten schauen auch auf eine Zukunft, die sie – zumindest in manchen Texten – in der Gegenwart schon als präsent beschreiben. Diese Geschichten erhalten ihren Sinn durch eine besondere Öffnung der Zeit.

Die damit angedeuteten Dimensionen der Geschichte, um die es in den neutestamentlichen Texten und der neutestamentlichen Wissenschaft geht, sind insofern noch komplexer, als alle diese Aspekte sowohl in individueller Perspektive wie auch in einer Gemeinschaft wahrgenommen werden können. Nicht nur die Verfasser der neutestamentlichen Texte, auch deren Interpretinnen und Interpreten in allen Phasen der Beschäftigung mit den erzählten und vorausgesetzten Geschichten entwerfen ihre Erzählungen und Deutungen der Geschichten aus ihrer jeweiligen eigenen Perspektive, die allerdings wiederum ihren Ort in einer Kommunikationsgemeinschaft hat, innerhalb derer sie sich entwickeln konnte. Nur in einer solchen Kommunikationsgemeinschaft kommen die Erzählung und die Interpretation einer Geschichte überhaupt zu einer Geltung, die jenseits einer Bedeutung nur für das erzählende Subjekt liegt. Wie für die zugrunde liegende Geschichte ist auch für den erzählenden und interpretierenden Umgang mit dieser Geschichte deren komplexe Kontextualität wahrzunehmen.

Die Erzählung einer Geschichte bedarf also einer Kommuni-kationsgemeinschaft. Die erzählten Geschichten bringen die zu­grunde liegende Geschichte ausdrücklich zur Sprache mit allen Konsequenzen: der damit verbundenen Sprachabhängigkeit, der Perspektivität, der Unabgeschlossenheit und der Diskursabhängigkeit. Die Sprache bietet den Raum der Kommunikation für das Erzählen der Geschichten. Die Sprachabhängigkeit gilt für die zu­grunde liegende Geschichte ebenso wie für den Umgang mit dieser Geschichte. Mit der Sprachabhängigkeit erschließen sich Möglichkeiten der Kommunikabilität der Geschichte, der Kritik der erzählten Ge­schichten wie auch deren Grenzen, Offenheiten, Vagheiten und Ambiguitäten.

Schon die neutestamentlichen Texte lassen ihre spezifische Perspektivität erkennen und machen sie ausdrücklich. Sie erzählen die Jesusgeschichte unter der Voraussetzung des Gottes- und des Christusglaubens, wie auch immer dieser formuliert wird. In der Geschichte der Beschäftigung mit den in den neutestamentlichen Texten zu findenden Geschichten muss dies nicht in gleicher Weise der Fall sein. Sollen aber diese Geschichten mit ihrem eigenen Sprachpotential zur Geltung gebracht werden, muss diese Per-spektivität beachtet werden. Wer sich mit diesen Texten bis heute beschäftigt, kann sich einer eigenen vielfältig zu bestimmenden Perspektivität ebenfalls nicht entziehen. Entscheidend ist es, diese Perspektivität durchsichtig zu machen, um die Reichweite und die Grenzen einer Ge­schichtsbetrachtung bestimmen zu können.

Die neutestamentliche Wissenschaft, die sich im Rahmen einer christlichen Theologie mit den in den neutestamentlichen Texten erzählten Geschichten befasst, wird – wie die neutestamentlichen Texte selbst – die Perspektive des Gottes- und Christusglaubens ausdrücklich machen. Diese Perspektive unterscheidet sie etwa von einer nicht ausdrücklich theologisch interessierten Zeitgeschichte, die allerdings dann wiederum ihre eigene Perspektivität und ihre eigenen Voraussetzungen durchsichtig machen sollte. Eine ausdrücklich bestimmte Perspektive auf die Geschichte ist kein Mangel oder Nachteil gegenüber solchen Beschäftigungen mit der Geschichte, die durch andere Perspektiven ausgezeichnet sind, die also aufgrund von Interessen wahrgenommen werden, die außerhalb des christlichen Glaubens und der christlichen Tradition liegen. Glaubende Menschen werden jedenfalls auch die Geschichte wie die Welt überhaupt unter der Voraussetzung des Glaubens zur Sprache bringen. Der Glaube schafft die Perspektive, die ihre Sicht und Interpretation der Welt bestimmt. Gerade das macht die Besonderheit einer christlich-theologischen Fragestellung und Be­trachtung der Geschichte aus.

Die Wahrnehmung einer ausdrücklich durch den Christusglauben bestimmten Perspektive scheint aber für eine solche Ge­schichtsschreibung problematisch geworden zu sein, die einerseits im Anschluss an die Texte des Neuen Testaments durchgeführt wird und die zugleich den Standards gegenwärtiger geschichtstheoretischer Überlegungen genügen soll. Die Frage nach der Geschichte bleibt so auch in der neutestamentlichen Wissenschaft in Bewegung. Sie partizipiert zumindest in den ausdrücklichen Diskursen zu ihrer theoretischen Grundlegung an der Verunsicherung der Geschichtsschreibung in der Gegenwart. 3 Diese aktuelle Geschichtsschreibung hat eine ihrer Wurzeln im sogenannten linguistic turn, mit dem manche überkommenen Modelle der Ge­schichtserforschung ins Wanken zu geraten scheinen. Ge­schichts­schreibung ist immer an Sprache gebunden. Der Blick auf die Ge­schichte in der Vergangenheit bedarf notwendig der Geschichtsschreibung. Die Quellen unserer Geschichtsschreibung sind entweder selbst als Texte sprachlich verfasst oder sie müssen, wenn es sich etwa um archäologische Quellen handelt, sprachlich in-terpretiert werden, wenn sie als Quellen für die Geschichtsschreibung überhaupt wahrgenommen werden sollen. Die Geschichte ist in bestimmter Hinsicht also nur durch Sprache zugänglich. Die Konsequenzen dieser Einsicht sind weitreichend und haben ihre Wirkung auch auf die Frage nach der Geschichte in der neutes-tament lichen Wissenschaft. Ausdrücklich zu diskutieren sind deshalb auch im Kontext der neutestamentlichen Betrachtung der Ge­schichte die Themen, die im geschichtstheoretischen Diskurs außerhalb der Theologie eine Rolle spielen. Was bedeutet der linguistic turn für die Frage nach einer ›historischen Referentialität‹? Welche Konsequenzen hat die Entdeckung oder zumindest die wahrgenommene Bedeutung der Narrativität für die histo-rische Forschung? In welchem Verhältnis stehen Diskurs und Realität? Und wie kann die Geschichte als Konstruktion begriffen werden?4

Das ist nur ein Ausschnitt der Fragestellungen und der Themenbereiche der gegenwärtigen Geschichtsschreibung, die ihre Wirkung auf die neutestamentliche Geschichtsschreibung haben. Vor dem Hintergrund ihres Gegenstandes hat die Ge­schichtsschreibung im Kontext der neutestamentlichen Wissenschaft zu­dem ihre eigene Ausprägung. Und es ist weiter zu bedenken, ob nicht manche mo­dern erscheinende Frage bereits in anderem Ge­wand in der Tradition begegnet ist. Jedenfalls scheint es derzeit weniger klar zu sein, wie eine Geschichtsschreibung durchzuführen sei, als es etwa im Anschluss an die Aufklärung behauptet wurde oder als es die idealistische Geschichtsphilosophie des 19. Jh.s vorgab.

Die Frage nach der Geschichte wird in sehr unterschiedlichen Bereichen der neutestamentlichen Forschung relevant. Seit spä-tes­tens der zweiten Hälfte des 19. Jh.s ist der Blick auf die Jesusgeschichte, auf die sich alle neutestamentlichen Texte in irgendeiner Weise beziehen, ein herausragender Ort neutestamentlicher Wissenschaft, sich mit Geschichte ausdrücklich zu befassen. Die bis heute geradezu klassische Frage nach dem sogenannten historischen Jesus in allen ihren Phasen ist dabei nur ein, wenn auch ein wichtiger Aspekt. Die Frage nach der Geschichte erscheint ebenso im Rahmen der Interpretation des Todes Jesu als bedeutsam, be­sonders wenn in diesem Kontext auch noch die Texte zur Auferstehung Jesu mit bedacht werden sollen. Weiter ist die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel zu benennen. Auf diese Geschichte bleibt auch die Geschichte der christlichen Gemeinden als Kollektiv und der Glaubenden als Individuen bezogen. Und in einer apokalyptisch ge­prägten Welt spielt innerhalb der im Neuen Testament erzählten Geschichten auch die Frage nach dem Ausgang dieser Geschichten, also die christlich gewendete Eschatologie eine Rolle. Diese Andeutungen machen darauf aufmerksam, dass die Frage nach der Ge­schichte für die neutestamentlichen Texte und ihre Auslegung keineswegs marginal ist. Mit der Frage nach der Ge­schichte befinden wir uns in der Mitte der neutestamentlichen Wissenschaft.5

II

Zur Geschichte im Umgang mit der Geschichte


Im Umfeld der Aufklärung entwickelte sich ›Geschichte‹ zu einer Leitkategorie für die Auslegung neutestamentlicher Texte.6 In der zumindest impliziten Auseinandersetzung mit der lutherischen Orthodoxie bekam die Vorstellung von Geschichte etwa bei Johann Salomo Semler einen die Unangreifbarkeit der biblischen Schriften relativierenden Ton.7 Den biblischen Kanon nimmt Semler wahr als eine »bloß historische Sache«8. Solch eine ›bloß historische Sache‹ kann dann aber auch nach historischen Methoden untersucht und kritisiert werden.9 Die Zusammenstellung von Büchern zu einem Kanon war nach Semler weder im Judentum noch bei den frühen Christen einheitlich. Es gibt in den jüdisch-christlichen Gemeinschaften nicht den einen Kanon, vielmehr können differierende Buchlisten wahrgenommen werden, die auf »Verabredung« entstanden sind.10 Solche Verabredung führt nach Semler wohl zu einem verbindlichen öffentlichen Gebrauch der ka­nonischen Schriften, zum Zweck einer »äußerliche[n] allgemeine[n] Kircheneinigkeit«, die aber nicht notwendig »zu der ächten Beförderung der christlichen innern Religion, so den Wachstum in Vollkommenheiten des Verstandes so gut als des Willens mit sich bringt«, führen muss.11 So hält Semler es nicht für angemessen, »alle Bücher der sogenannten heiligen Schrift ohne Unterschied der Reihe nach in Predigten jährlich vorzulesen oder zur Hausandacht als eine göttliche Ordnung für alle Menschen einzuführen«12. Vielmehr sollen die gegenwärtigen und durchaus kundigen Leser die Schriften auf ihre heilsame Wirkung selbst prüfen, wie es in früherenZeiten geschehen sei, als die Schriften zu einem Kanon zusammengefügt worden sind.13 Trotz eines zum Zweck der äußeren Einheit der Kirchen geltenden Kanons meint Semler, »daß die besondre Un­tersuchung dieser Bücher für alle nachdenkende Leser, was ihren eigenen Privatgebrauch betrifft, frei geblieben [sei]«14.

Auch wenn ein Kanon für die Kirche zur Geltung gekommen ist, muss die Freiheit für die Leser bleiben, »sowohl von einzeln Bü­chern (jener alten Sammlungen) als von einzelnen Teilen mancher Bücher nach ihrem moralischen gemeinnützigen Wert zu ur­teilen nach ihrer eigenen Erkenntnis (und Erfahrung;)«15. Semler unterscheidet die historische Zufälligkeit der Entstehung des Ka­nons von der moralischen und allgemein geltenden Bedeutsamkeit mancher Inhalte der biblischen Schriften, die der einzelne Leser letztlich selbst bestimmen muss.16 Im Anschluss an Luther und an Melanchthon greift Semler die Unterscheidung von Schrift und Wort Gottes auf.17 Die heilige Schrift ist für ihn ein historischer, relativer Terminus, das davon zu unterscheidende Wort Gottes macht dagegen »alle Menschen in allen Zeiten weise […] zur Seligkeit«18.

Für die Frage nach der Geschichte in der neutestamentlichen Wissenschaft sind durch Semler bleibende Einsichten gewonnen. Die Kanonbildung als historischer Prozess ist zu unterscheiden von der Gewinnung moralischer und allgemein für die Menschen verbindlicher Einsichten. Um es mit Lessing auf den Punkt zu bringen: »zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden«19. Die Kontingenz der Geschichte steht den allgemeinen und notwendigen Vernunftwahrheiten gegenüber. Es bedarf deshalb mit Blick auch auf die neutestamentlichen Schriften ausdrücklich der Kritik zur Unterscheidung von geschichtlichen Kontingenzen und Vernunftwahrheiten. Das unterscheidende und kritische Subjekt ist der erfahrene und kundige Leser. Die Geschichtsschreibung selbst erweist sich für Semler als ein Akt der Interpretation. »Alle Historie ist eine Erzählung, Darstellung, Sammlung solcher Begebenheiten, welche ihr Urheber für merkwürdig, für nützlich, auch wohl selbst, was ihn betrifft, für wahr hält.«20

Das Moment der Kritik der biblischen Schriften durch das vernünftige Subjekt wird zu einem integralen Moment im Umgang mit den neutestamentlichen Texten. Der geschichtliche Ort der Texte ist zu unterscheiden von ihrer Bedeutung für eine jeweilige Gegenwart. Die Geschichte relativiert die biblischen Texte, sie müssen in ihren Kontexten begriffen werden, was nur durch eine aktuelle Kontextualisierung möglich ist.

Gotthold Ephraim Lessing hat die Kritik Semlers an seiner Publikation der Schriften des Reimarus im Kontext des Fragmentenstreits mit heftigen Worten kommentiert.21 In der Bestreitung der Inspiration und in der grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber den biblischen Schriften, die nicht identisch mit dem Wesentlichen, nämlich der vernünftigen Religion, seien, finden sich zwischen beiden Aufklärern Übereinstimmungen. Hat Semler die Unterscheidung von Schrift und Wort betont, so will Lessing im Anschluss an 2Kor 3,6 – in freilich nicht ganz sachgemäßer Exe­-gese– zwischen Geist und Buchstabe differenzieren. Der Buchstabe repräsentiert für ihn die Bibel als historisch kontingentes Buch, der Geist steht für die Vernunftreligion.22 In den biblischen Schriften findet sich nach Lessing die positive Religion ihrer Zeit, die wohl von der Vernunftreligion zu unterscheiden ist, die aber in ihrem Kontext ihre konkrete geschichtliche Gestalt hat. Die biblischen Schriften erfüllen für ihre Zeit auf der jeweiligen Entwicklungsstufe eine wichtige und geradezu notwendige Funktion zur Erziehung des Menschengeschlechts mit dem Ziel der Einsicht in die allgemeine Vernunftreligion.23 Die biblischen Schriften bilden den Ort der urchristlichen positiven Religion, die der Bildung der Menschen hin zur vernünftigen Religion dient. Die biblischen Schriften sind also der Ort der Religion in einer geschichtlichen, kontingenten Gestalt und bilden so allerdings ein notwendiges Moment in der Entwicklung zur Vernunftreligion.

In welcher Weise ›Geschichte‹ zu einem systematisch gesättigten und zugleich kritischen Leitbegriff der Auslegung der neutestamentlichen Texte und der daran anschließenden Entwicklung einer Theologie- und Kirchengeschichte insgesamt werden kann, führt in besonderer Weise Ferdinand Christian Baur vor.24 Ge­schichte ist für ihn nur im Rahmen eines größeren Denkzusammenhangs zugänglich. Tatsächlich programmatisch ist der oft zitierte Satz aus seiner Schrift Symbolik und Mythologie (1824): »ohne Philosophie bleibt mir die Geschichte ewig todt und stumm«25. Geschichte erschließt sich nicht ohne einen Denkzusammenhang, weshalb sie auch nicht ohne Interpretation zugänglich ist. Geschichte ist nicht selbstverständlich.26 Die Ge­schichte ist für Baur der Raum, in dem sich das Wesen des Christentums, der Geist, ja letztlich das Absolute entfaltet. Diese Entfaltung des Geistes durchläuft dabei Entwicklungsstufen.27 Der Fortgang in der Geschichte wird durch Auseinandersetzungen befördert. Für die Texte des Neuen Testaments sieht Baur den Antagonismus zwischen Judentum und Christentum, und innerhalb des frühen Christentums den Konflikt zwischen petrinischer Theologie und Paulinismus als treibenden Kräften der Entwicklung der Idee des Christentums in der Ge­schichte. Das Ziel dieser teleologisch gedachten Entwicklung ist die vollständige Entfaltung des Absoluten. Das Neue Testament ist in­sofern ein bedeutsamer Gegenstand der gegenwärtigen Ge­schichtsbetrachtung, als sich in seinen Texten die Anfänge des Christentums finden. Die Idee ist schon vorhanden im Ursprung des Christentums, wenn sie auch noch nicht sichtbar entfaltet ist. Insbesondere das paulinische Christentum verschafft dem menschlichen Bewusstsein einen – freilich ebenfalls geschichtlich vermittelten und deshalb noch begrenzten – Zugang zum Absoluten. Auch die jeweilige gegenwärtige Auslegung hat ihren Ort in der Geschichte. Der Blick auf die in der Geschichte sich entfaltende Idee kann nur in einer je vom betrachtenden Subjekt abhängigen Perspektive ermöglicht werden. Diese Zeitabhängigkeit hat die historische Kritik, die das Wesen der Auslegung der neutestamentlichen Texte ausmacht, zu erhellen. Das soll sowohl mit Blick auf den historischen Ort der Schriften wie auch vor dem Hintergrund des je gegenwärtigen historischen Kontextes des die Texte Interpretierenden geschehen. Auch wenn Baur eine Idee voraussetzt, die sich in der Geschichte entfaltet, so entwickelt er zugleich einen konsequent historischen Blick auf die biblischen Texte, um deren historische Besonderheit zu entdecken und um den eigenen ge­schichtlichen Ort des Auslegenden vor dem Hintergrund der Texte ausdrücklich machen zu können. 28 Die historische Konkretion der Idee muss mit den geis-tigen Mitteln und Möglichkeiten der Gegenwart wahrgenommen werden. Das Interesse Baurs richtet sich dabei stets auf die Frage, wie das Absolute in der Gegenwart konkret wird.

Baur verbindet Idee und Geschichte. Die Idee geht nicht in der Geschichte auf, sie hat aber in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstadium ihren Ort genau in der Geschichte, wodurch diese auch ihre einzigartige Bedeutung erhält. Es bedarf deshalb ausdrücklich der historischen Kritik, durch welche die Idee und das Absolute unterschieden werden können von dem historisch Zufälligen und dem Einzelnen. Über die Kritik kommt das Moment des Absoluten in der Geschichte zu seiner Geltung und mit ihm die Subjektivität, die Persönlichkeit und die Freiheit dessen, der historisch-kritische Forschung betreibt.29

Das 19. Jh. war auch für die Theologie die Zeit des konzentrierten historischen Forschens und Nachdenkens. Dies entwickelte sich im weiten Umfeld des Historismus in vielen Ausformungen. Der Historismus sucht das historisch Erkennbare. Dieses findet seine Konkretion in kulturellen Entwicklungen, Strukturen und Einzelphänomenen der Geschichte, die als Voraussetzungen für das je gegenwärtige Selbstverstehen und Handeln begriffen werden.30 Das Moment der Unterscheidung, also der historischen Kritik, bekam eine zentrale Bedeutung für die historische Forschung auch im Raum der Theologie. Eine geradezu klassische Form der historischen Kritik findet ihre Konkretion in den von Ernst Troeltsch im Jahr 1898 formulierten Kriterien für die historische Methode: Kritik, Analogie und Korrelation.31 Wo diese Kriterien eingesetzt werden, erscheinen historische Einzelphänomene zunächst als ungesichert und relativiert. Es können aus ihnen im Raum der Theologie keine dogmatischen Schlüsse gezogen werden. Der Glaube kann nicht auf einzelnen ›Tatsachen‹ aufgebaut werden.32 Die historische Methode »relativiert Alles und Jedes«33. Die Fortsetzung der Argumentation von Troeltsch ist bedeutsam. Die Relativierung allen ge­schichtlichen Geschehens ist nur zu verstehen »in dem Sinne, daß jeder Moment und jedes Gebilde der Geschichte nur im Zusammenhang mit anderen und schließlich mit dem Ganzen gedacht werden kann«34. Die Relativierung erfordert geradezu den Blick auf das Ganze. Ginge der Blick auf das Ganze verloren, würde sich das Einzelphänomen, das Ereignis oder die wie auch immer verstandene Tatsache verselbständigen, eine Kritik derselben wäre dann nicht mehr zu begründen. Den Zusammenhang zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen muss die kritische Geschichtswissenschaft also wahrnehmen. Als weitere Konsequenz ergibt sich für Troeltsch »die Verflechtung des Chris­tentums in die allge-meine Geschichte«, und er fordert den Aufbau der Theologie »auf historischer, universalgeschichtlicher Methode«35. So begründet Troeltsch die »Idee einer religionsgeschichtlichen Theologie«36, die er der alten dogmatischen Theologie entgegensetzen will.37 Troeltsch erkennt sehr klar, dass auch die von ihm geforderte historische Methode metaphysische Einsichten voraussetzt. Die historische Methode entsteht geradezu »aus der metaphysischen Annahme eines Gesamtzusammenhangs des Universums und damit auch der Betätigungen des menschlichen Geistes«; die dogmatische Me­thode hat nach Troeltsch ihre »metaphysische Grundlage« »in dem Beweise für die Übernatürlichkeit der Autorität oder für das Wunder« und der Vorstellung, dass Gott durch sein Handeln den Gesamtzusammenhang unterbrechen könnte.38 Letzteres ist für Troeltsch im Kontext konsequent historischen Denkens keine Möglichkeit. Gott verliert seinen Ort in der Ge­schichte. Die dogmatische Methode geht an der Geschichte vorbei. Dagegen führt die historische Me­thode »mit innerer Notwendigkeit zu einer grundsätzlich religionsgeschichtlichen Theologie«39. Die historische Methode fragt dann ausschließlich nach den Konkretionen religiöser Lebensäußerungen in der Geschichte. Die Frage nach Gottes Handeln in der Geschichte hat ihren Sinn verloren. Was aber treibt nach Troeltsch die Entwicklung in der Geschichte an, die ja doch nach Troeltsch zu einer »beständigen Vertiefung des persönlichen Lebens« führt, womit er zumindest auch eine Weiter- und Höherentwicklung ethisch-moralischer Standards meint? Es ist schlicht »der Glaube an eine in der Geschichte waltende und sich fortschreitend offenbarende Vernunft«, die Troeltsch in der Entwicklung der Geschichte bestätigt sieht. 40 Konkret wird für Troeltsch diese sich in der Geschichte offenbarende Vernunft im Christentum »als der höchsten religiösen Macht der Geschichte«41. Nicht die Voraussetzung der Geschichte sei das Christentum, vielmehr sei es »ein Ab­schlußpunkt«42. Ein Spötter hätte ein leichtes Spiel, eine solche Teleologie ad absurdum zu führen, und das ist auch vielfach geschehen. Wo Troeltsch Gott aus der Geschichte entfernt, da setzt er an dessen Stelle ein Christentum, das den eigenen Ansprüchen niemals wird genügen können.

Dass Gott aus der Geschichte ausgeschlossen sein soll, ist theologisch eine bemerkenswerte Forderung. In jedem Fall wird mit einer so verstandenen religionsgeschichtlichen Forschung eine an­dere Geschichte erzählt als die Geschichten, die im Neuen Testament oder in den biblischen Texten überhaupt zu finden sind. Im Raum des Historismus und der daran anschließenden religionsgeschichtlichen Forschung geht es eher um die Geschichte hinter den biblischen Geschichten, also um die Geschichte, in die auch die biblischen Erzählungen und ihre Umstände zeitgeschichtlich eingebettet sind. Leopold von Rankes berühmtes und seiner Absicht nach die Aufgabe des Historikers relativierendes Diktum, zumindest sein Versuch von Historie wolle »blos zeigen, wie es eigentlich gewesen«, markiert die entscheidende Differenz.43 Dass damit der Geschichtsschreibung, anders als Ranke dies beabsichtigte, eine un­endliche Last auferlegt wurde, zeigen die geschichtstheoretischen Diskurse der letzten gut einhundert Jahre. Auch im Raum der neutestamentlichen Wissenschaft scheint die Suche nach der Geschichte hinter den Geschichten gründlich zerbrochen zu sein. Zunächst aber evoziert die religionsgeschichtliche Forschung Irritationen aus sich selbst heraus.

Die Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh.s sich entwickelnde religionsgeschichtliche Forschung hat große Leistungen erbracht und Einsichten in die Lebensverhältnisse früherer Zeiten verschafft. Der frühe Rudolf Bultmann findet seine Themen in einem produktiven und ausdrücklich religionsgeschichtlich orientierten Milieu. Die Frage nach der Geschichte erweist sich für ihn als zentral und wird ihn in allen Phasen seiner akademischen Wirksamkeit begleiten. Schon im Jahr 1913 meint er, es entstünden »die meisten Nöte für die Kirche aus dem Gebiet der Theologie, das eine Wissenschaft im eigentlichen Sinn ist, aus der historischen Theologie«44. Die historische Wissenschaft schafft eine Distanz zur kirchlichen Praxis. Aber immerhin ist sie tatsächlich eine Wissenschaft. Die biblischen Texte fordern nach Bultmann geradezu eine konsequent historische Auslegung. Denn die biblischen Texte sind historische Dokumente. Bultmann konstatiert: »Die alte dogmatisch orientierte biblische Theologie ist zu einer historischen Wissenschaft geworden.«45 Ganz konsequent notiert er, dass diese historische Wissenschaft sicher nicht das Ziel habe, »den Glauben zu stärken, die Gemeinde zu erbauen«46. Vielmehr sei »die moderne Bibelwissenschaft eine völlig uninteressierte Erforschung der Schrift, die gar nicht an die kirchliche Praxis denkt«47. Allerdings gelte auch die Einsicht: »Wer nicht im lebendigen Zusammenhang einer Ge­schichte steht, kann sie nicht schreiben.«48 Es bleibt freilich die Frage offen, welchen Ort genau die Frage nach der Geschichte in der Theologie hat. Später wird Bultmann im Kontext seiner existentialen Interpretation der neutestamentlichen Texte diesen Topos vertiefen. Der Mensch ist in seinem Menschsein in die Geschichte verwoben.49 Schon die paulinische Theologie zeigt, dass die Ge­schichtlichkeit eine anthropologische Kategorie ist. Eine Betrachtung der Geschichte zielt deshalb immer auch auf ein aktuelles Interesse. Wird die Geschichtlichkeit des Menschen wahrgenommen, dann ist die Frage nach der Geschichte immer auch eine Frage nach der Existenz des Menschen. Geschichte wird über die Geschichtlichkeit der Existenz des Menschen theologisch hoch bedeutsam. Genauer wird die Geschichtlichkeit als eigentliche, als erfüllte Geschichtlichkeit auch zu einer soteriologischen Kategorie. In seiner Geschichtlichkeit gewinnt der Mensch sein Wesen.50 Die Geschichtlichkeit des Menschen kommt im verstehenden Vollzug seines gegenwärtigen Lebens zu ihrer Eigentlichkeit. Dieses gegenwärtige Leben umfasst auch einen Bezug auf die Geschichte in der Vergangenheit über die verstehende Interpretation von Texten. Eine solche Interpretation setzt voraus, dass die Verfasser der alten Texte »in der gleichen geschichtlichen Welt leben« wie deren Interpreten.51 Welt und Geschichte werden von Bultmann als eine Einheit verstanden, wodurch eine Auseinandersetzung mit der Ge­schichte im Sinne einer Vergangenheit auch in der Gegenwart sinnvoll und notwendig wird. Der Gegenstand der Erkenntnis in der Geschichte ist dann der Mensch, der sich in seinem subjektiven Sein selbst erkennt.52 Erkennt sich der Mensch in seiner Geschichtlichkeit selbst, dann öffnet sich dem intentional handelnden Menschen auch seine Zukunft. Diese Zukunft erschließt sich aus der Vergangenheit, die wiederum unsere Gegenwart bestimmt.53 Als ein Wesen, das in Gemeinschaft lebt, verbindet sich mit dieser Zu­kunft für den Menschen nach Bultmann auch eine Verantwortung für andere Menschen.54 Diese aus der Vergangenheit verstehbare, in der Gegenwart wirksam werdende und auf die Zukunft ausgerichtete Verantwortung, die der einzelne Mensch für sich und als Gemeinschaftswesen wahrnimmt, kommt nach Bultmann im christlichen Glauben zu ihrer Geltung. In der Verkündigung wird der Mensch vor diese komplexe Verantwortung gestellt. Genau hier erfüllt sich dann der Sinn der Geschichte, also in der eschatologischen Gegenwart, in der ein Mensch mit seiner Entscheidung im Glauben dieser Verantwortung auch entspricht.55

Aus einer distanzierten Betrachtung von Lebensverhältnissen in der Vergangenheit wird eine Wahrnehmung des Anspruchs an die je eigene Existenz innerhalb der Geschichte. Gegenüber einer aus dem Historismus sich entwickelnden und religionsgeschichtlich orientierten neutestamentlichen Wissenschaft scheint mit Bultmanns hermeneutischem Zugang zur Geschichte diese als ausdrücklich theologisches Thema wiedergewonnen worden zu sein. Vor dem Hintergrund der historischen Wissenschaft und deren Rezeption in der neutestamentlichen Forschung hat sich Bultmann aber doch von der von ihm einst selbst geforderten rein historischen Wissenschaft wieder entfernt, zumindest besteht weiterer Klärungsbedarf. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen einer theologischen Interpretation der neutestamentlichen Texte und der Frage nach der Geschichte bleibt weiter offen.

III

Geschichte und Neues Testament im gegenwärtigen Diskurs


Die Frage nach der Geschichte in der neutestamentlichen Wissenschaft hat in der Geschichte des Umgangs mit dieser Geschichte bereits in der ersten Hälfte des letzten Jh.s eine hohe Komplexität erreicht. Der gegenwärtige Diskurs zur Geschichtsschreibung im Anschluss an die neutestamentlichen Texte erhält durch die Beachtung narrativer Zugänge zur Geschichte einen besonderen Akzent. Die Fragestellungen verschieben sich, die Pluralität, die Textualität und die Bestreitung der Referentialität von Geschichtsentwürfen auch im Anschluss an das Neue Testament werden diskutiert.

Eine erste Beobachtung mit Blick auf die konkrete neutestamentliche Geschichtsschreibung ist bemerkenswert. Obwohl der geschichtstheoretische Diskurs in der neutestamentlichen Wis­senschaft derzeit intensiv geführt wird, scheinen insbesondere zeitgeschichtliche Darstellungen davon in ihrem Vollzug nicht nachhaltig berührt zu sein. Die Quellen werden sorgfältig ausgewertet, die Darstellung wird nach den Regeln der Kunst abgewogen und gut begründet. So entsteht der Eindruck, dass die zeitgeschichtlichen Verhältnisse gerade so dargestellt würden, wie sie sich – bei allen Unschärfen aufgrund lückenhafter und vielleicht widersprüchlicher Quellen – dem gegenwärtigen forschenden Geist darstellen. Es wird – ganz im Sinne Rankes – berichtet, wie es gewesen sei, g­e­schichtstheoretische Reflexionen finden allenfalls am Rande eine ausdrückliche Aufnahme in solche Untersuchungen.56 In gewisser Weise wird Geschichtsschreibung hier als eine Art der »Rekonstruktion« begriffen.57

Die Metapher der ›Rekonstruktion‹ ist allerdings auch für die neutestamentliche Geschichtsschreibung nicht konsequent genug gewählt, setzt sie doch die Möglichkeit der Einsicht in eine zu rekonstruierende Vorlage voraus, die aber ebenfalls wieder nur in einem sprachlich verfassten Entwurf zu greifen wäre. So wählt Jens Schröter auch für die neutestamentliche Geschichtsschreibung den Ausdruck der »Konstruktion von Geschichte«58. Er stellt fest, »dass Geschichtsschreibung nicht auf Faktizität reduziert werden darf, wenn sie gegenwärtige Wirklichkeit als gewordene verstehbar machen will«59. Geschichtsschreibung hat die Aufgabe, die gegenwärtige Wirklichkeit als gewordene für die Menschen und ihre Kommunikationsgemeinschaft verstehbar zu machen, um so sich selbst in der eigenen Gegenwart zu verstehen.60 Zu ergänzen wäre, dass für eine neutestamentliche Geschichtsschreibung auch die zu erwartende Zukunft mit in die Konstruktion einer Geschichte einbezogen werden müsste. Ein solches Verstehen wäre die Voraussetzung zur Gewinnung von Handlungs- und Orientierungswissen für die Gegenwart. Um sich selbst innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft und überhaupt in der Welt zu verstehen, bedarf es einer Deutung des eigenen Gewordenseins aus der Vergangenheit und mit Blick auf die Zukunft. Es bedarf eines Entwurfs, der als je eigener Entwurf tatsächlich konstruktiven Charakter hat. Im Raum der christlichen Geschichtsschreibung bleibt ein solcher Entwurf immer auf die Person Jesus Christus bezogen. Dennoch finden wir bereits in den Texten des Neuen Testaments eine Pluralität von Geschichtsentwürfen vor, die wiederum in der Geschichte der Beschäftigung mit diesen Geschichtsentwürfen potenziert wird.61 Auch die neutestamentliche Geschichtsschreibung ist in ihrer Endlichkeit und Vorläufigkeit nur als plurale Geschichtsschreibung erkennbar und denkbar. Und nur als plurale Ge­schichtsschreibung kann sie überhaupt in den jeweils gegenwär-tigen Kontexten Orientierungs- und Handlungswissen für diese Kontexte erschließen.

Eine solche Konstruktion von Geschichte ist allerdings auch für einen »spezifisch christlichen Deutungshorizont«62 nur möglich, wenn Geschichte als ein Ganzes, als eine Einheit verstanden wird, als ein komplexer Kontext, der vorausgesetzt werden muss, auch wenn er für die menschliche Erkenntnis niemals vollständig zugänglich sein wird. Die Differenz zwischen der notwendigen Voraussetzung der Einheit von Geschichte und der Unmöglichkeit einer abschließenden Erkenntnis dieser umfassenden Geschichte ist wesentlich.63 Gerade der vorausgesetzte umfassendere Kontext birgt für jeden spezifischen Entwurf von Geschichtsschreibung ein kritisches Potential in sich, insofern sich jeder Entwurf wiederum in diesem Kontext bewähren, bewahrheiten und bestätigen muss. Kein Entwurf auch einer christlichen Geschichtsschreibung erschöpfte sich in sich selbst und wäre damit unangreifbar. Die Einheit der Geschichte muss vorausgesetzt werden, um sich in der angedeuteten Weise aus der Geschichte selbst zu verstehen und um sein dadurch gewonnenes Selbstverständnis kritisch befragen zu können.64

Wenn aber auch die neutestamentliche Geschichtsschreibung konsequent als Konstruktion zu verstehen ist, verliert sie dann nicht ihren Gegenstand, dem sie sich überhaupt erst verdankt? Die Feststellung der grundsätzlichen Sprachabhängigkeit und Konstruiertheit unserer Einsichten in die Geschichte löst die im Hintergrund stehende Frage nach der Referentialität der Geschichtsschreibung keinesfalls in dem Sinne, dass eine solche prinzipiell bestritten werden könnte. Darin zumindest ist Gerd Häfner zu-zustimmen, der in der Auseinandersetzung mit narrativen Ge­schichtstheorien die Referentialität von Geschichtsschreibung auch im Kontext der Interpretation neutestamentlicher Texte verteidigt.65 Unsere Wirklichkeit und die Geschichte erschöpfen sich nicht in ihrer Sprachlichkeit. Wir leben und handeln in einer Welt voller Dinge und Geschehnisse, die nichtsprachlicher Art sind, auch wenn unsere Erkenntnis und unser Zugang zu dieser Welt wie auch zur Geschichte immer sprachlich verfasst sein werden. Für uns als erkennende Subjekte bleiben die Welt und die Ge­schichte also wesentlich sprachlich verfasst.

Für die neutestamentliche Geschichtsschreibung ist der Bezug auf eine außersprachliche, aber nur sprachlich zugängliche Wirklichkeit in der Vergangenheit und in der Gegenwart entscheidend. Dies gilt für jede auf Orientierungs- und Handlungswissen zie-lende Kommunikation. Damit ist nicht gemeint, dass diese außersprachliche Wirklichkeit an sich, also unabhängig von unserer Sprache, als Kriterium für unsere Geschichtsschreibung wahrgenommen werden könnte. Diese ist tatsächlich nur sprachlich vermittelt zugänglich. Anders als über die sprachlich verfassten Traditionen und deren Interpretation können wir etwa zum Tod Jesu als einem für die neutestamentlichen Texte zentralen und zu interpretierenden Geschehen keinen Zugang finden. Schon für die ur­christliche Gemeinde war das Christusgeschehen ein Traditionsgegenstand.66 Selbstverständlich ist jede Redeweise über den Tod Jesu ein Entwurf, ein Vorschlag, eine Interpretation von Quellen und Texten verschiedenster Art. Aber genau als ein solcher Entwurf wird eine Geschichtsdarstellung erst intersubjektiv kommunikabel und kritisierbar.67

Es stellt sich dann die Frage, woraufhin eine Kritik zielen soll. Soll sie, wie im Anschluss an die Ursprünge der historischen Kritik vermutet werden könnte, alleine darauf zielen, kritisch zu bewerten, ob geschichtliche Abläufe in dieser oder eher in einer anderen Abfolge gedacht werden können oder ob sie überhaupt vorstell-bar sind? Die Jesusgeschichte erschöpft sich gerade nicht in ihren darstellbaren Abläufen. Die Jesusgeschichte meint vielmehr einen Zusammenhang, der unsere Welt in ihren zeitlichen Dimensio-nen und in ihren Sinnzusammenhängen zugleich in einer entscheidenden Hinsicht beschreibt. Eine Beschreibung von sol-chen ge­deuteten Ereignisabfolgen ist als Entwurf stets eine zu­mindest implizite Interpretation der eigenen Welt, in der sich der interpretierende Mensch befindet. Eine Interpretation schafft den behaupteten geschichtlichen Zusammenhang, der sich dann in der intersubjektiven Kommunikation bewähren und bewahrheiten muss.

Eine Interpretation muss kritikfähig sein, um wirklich interessant für eine Kommunikationsgemeinschaft zu werden.68 Dabei steht die neutestamentliche Wissenschaft vor der bei Bultmann sich andeutenden prinzipiellen Wahl. Sie kann unter der Voraussetzung des Christusglaubens und im Anschluss an die Texte des Neuen Testaments diese und andere Quellen interpretieren und so ihre Geschichte schreiben. Eine so verstandene theologische Ge­schichtsschreibung stellt die starke Behauptung auf, dass sie ge-rade unter der Bedingung des Christusglaubens angemessen ge­schieht.

Eine sich mit den neutestamentlichen Texten beschäftigende Geschichtsschreibung kann aber auch anders verfahren, den Chris­tusglauben für ihr eigenes Vorgehen ausblenden und die Rede von Gott als nicht in den Geschichtsentwurf gehörig, sondern allenfalls als religiöse Äußerung in bestimmten sozio-kulturellen Kontexten verstehen. Auch in diesem Fall einer primär religionsgeschichtlich orientierten Geschichtsschreibung wäre eine kritische Betrachtung möglich.69 Positionell, perspektivisch und endlich sind beide Weisen der Geschichtsschreibung, und ebenfalls handelt es sich jeweils um Interpretationen der Texte, Quellen und Traditionen. In beiden Fällen wird die Welt in bestimmter Weise interpretiert. So gesehen hat keine der beiden Vorgehensweisen einen Vorsprung vor der anderen. Welcher Weg im Umgang mit der Geschichte im Raum der neutestamentlichen Wissenschaft gewählt werden wird, wird sich zumindest auch an der einer Geschichtsschreibung zugeschriebenen Funktion entscheiden.

Gute Geschichten werden erzählt. Ob Geschichte immer er­zählt werden muss oder ob Geschichte nicht auch diskursiv dargestellt werden kann, ist eine wichtige Frage, der hier nicht weiter nachgegangen werden soll. Man könnte immerhin noch davon sprechen, dass Geschichte in einem weiteren Sinn erzählt würde, dass eine jede Darstellung von Geschichte letztlich eine Erzählung sei. Die Behauptung der grundsätzlichen Narrativität von Ge­schichte, wie sie etwa von Hayden White vertreten wird, hat freilich Konsequenzen.70 Die neutestamentlichen Texte selbst, ins-besondere die Evangelien, die Apostelgeschichte, aber auch die Apokalypse, bieten viele schöne und beeindruckende Beispiele, wie Ge­schichte erzählt wird. Die erzählten Geschichten haben ausdrücklich fiktive Elemente, sie beanspruchen aber dennoch, die Jesusgeschichte und ihre Fortsetzung in der Perspektive des Chris­tusglaubens angemessen zu erzählen.71 Sie verlieren in ihrer Narrativität ihre Wahrheitsfähigkeit gerade nicht. Die erzählte Jesusgeschichte ist wahr, insofern sie für die Erzähler und für die Rezipienten in ihrem Weltkontext einen stimmigen Zusammenhang darstellt.

Über die Akzeptanz der Wahrheit der erzählten Jesusgeschichte ist damit natürlich noch nicht entschieden. Aber im­merhin können in einer erzählten Geschichte Wahrheitsansprüche identifiziert werden, die sich nicht in der Frage nach einer bestätigten Faktizität er­schöpfen, die vielmehr auf eine Interpretation der Geschehnisse im Kontext des je eigenen Weltverständnisses zielen. Damit wird der Blick geöffnet auf die Frage, worum es einer theologischen Ge­schichtsschreibung in der neutestamentlichen Wissenschaft geht.

IV

Zur Funktion einer theologischen Geschichts-schreibung in der neutestamentlichen Wissenschaft


Die neutestamentlichen Texte erzählen die Jesusgeschichte als das Eintreten Gottes in die Welt.72 Das ist ein basales Element der Interpretation der Jesusgeschichte, das sich dem Christusglauben verdankt. Außerhalb des Christusglaubens wird eine solche Interpretation allenfalls als eine bestimmte Art der religiösen Lebensäußerung wahrgenommen werden können. Für den Christusglauben bedeutet dies aber – zumindest nach den neutestamentlichen Texten – die entscheidende Ausrichtung des Blickes der Glaubenden auf die Welt. Aus dieser Perspektive erschließt sich der Sinn der christlich-religiösen Weltwahrnehmung und ihrer Handlungsorientierung. Aus dieser Perspektive entwerfen und konstruieren, also interpretieren die neutestamentlichen Texte die von ihnen erzählte Geschichte. Und in dieser Perspektive erschließt sich das Sprach- und Sinnpotential der neutestamentlichen Texte für den Glauben. Dieses Sprach- und Sinnpotential ist der Horizont, in dem Handlungs- und Orientierungswissen in der je gegenwärtigen Welt gewonnen werden.

Eine solche in der Perspektive des Christusglaubens formulierte Wahrnehmung der Geschichte meint nicht, dass sie sich an einer außersprachlichen Wirklichkeit für uns ausweisen lassen könnte. Vielmehr muss sich diese Wahrnehmung von Geschichte in ihrer Kohärenz und im sprachlichen Diskurs über die Deutung der Welt insgesamt bewähren. Ein solcher Entwurf von Geschichte muss kritisch befragt werden können. Schon aufgrund der Offenheit der Geschichte ist auch ihre Deutung weder in den neutestament­-lichen Texten noch in der Gegenwart abgeschlossen. Der Blick auf die Geschichte im Sinn eines vorausgesetzten Gesamtzusammenhangs allen Geschehens in der Welt in den zeitlichen Dimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft lässt aber das die Geschichte interpretierende Subjekt seinen je eigenen Ort in dieser Geschichte mittels seines Geschichtsentwurfs bestimmen. Wer Geschichte schreibt, der erklärt und interpretiert seine Welt. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Geschichte in den neutestamentlichen Texten zumindest nicht primär die Frage, ob das in diesen Texten Erzählte geschehen und als Abfolge histo-rischer Ereignisse auch glaubhaft sei. Diese Frage stand in der Zeit der Aufklärung im Vordergrund, weil mit offensichtlich widersprüchlichen oder nicht glaubhaften Geschichtsberichten dogmatische oder überhaupt theologische De­duktionen erfolgten, die mit der vorgeblichen Historizität der Berichte begründet und mit Autorität versehen wurden. Der sinn erschließende Charakter für ein Verstehen des Menschen und der Welt jenseits dieser Fragestellung wurde nicht erkannt. Es ist aber nicht die Absicht der neutes­tamentlichen Texte, eine widerspruchslose Darstellung von Er-­eignissen mitzuteilen. Diese Texte haben eine größere Kraft. Das zeigt bereits ihre eigene Arbeit an der Tradition, mit der sie sehr frei umgehen können. Die neutestamentlichen Texte setzten die Sprach­formen ihrer Zeit ein, um ihre Interpretation der Welt in der Perspektive des Christusglaubens zu bieten und um genau so einen Zugang zur Jesusgeschichte zu verschaffen. 73 So erzählen sie Ge­schichte. Ihr Wahrheitsgehalt liegt nicht in der korrekten Darstellung von Ereignisabfolgen in der Vergangenheit, sondern in deren sinnerschließender Bedeutung für die jeweilige Gegenwart.

Jede Zeit findet im Umgang mit der den neutestamentlichen Texten zugrunde liegenden Geschichte eigene Kategorien für die Beschreibung des erschließenden Gehalts dieser Geschichte. Für die Zeit der Aufklärung schienen die Texte auf die allgemeine Vernunft hinzuführen. Im Raum der idealistischen Geschichtsphilosophie wurden die neutestamentlichen Texte als eine Phase der Entwicklung des sich immer weiter entfaltenden Geistes gelesen. Und für die existentiale Interpretation haben die neutestament­-lichen Texte das Selbstverständnis des Menschen erschlossen. In aktuellen Entwürfen neutestamentlicher Geschichtsschreibung wird mit dem Motiv der Erinnerung eine Deutungskategorie aufgegriffen, die einen biblischen Hintergrund hat, die aber auch in gegenwärtigen außertheologischen Diskursen eine wichtige Rolle spielt.74 Wenn im Raum des Judentums nach Dtn 6,4–8 das Shema‘ ge­sprochen wird, dann wird an das heilvolle Handeln Gottes in der Geschichte Israels erinnert, und der Beter weiß sich in diese Ge­schichte mit einbezogen. Die in den neutestamentlichen Texten eröffnete Erinnerungsleistung besteht zunächst auch darin, dass die Jesusgeschichte in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel aufgenommen wird. Darüber hinaus wird die Jesusgeschichte als der Schlüssel zur Geschichte Gottes mit seinen Menschen überhaupt verstanden. Als das die ganze Geschichte Gottes mit seinen Menschen erschließende Geschehen gelten den neutestament­-lichen Erinnerungstexten Tod und Auferweckung Jesu einschließlich seiner Erhöhung in die göttliche Machtposition. 75 Die Interpretation des Todes und der Auferweckung Jesu bildet die »Grundlage für die in deutenden Entwürfen festgehaltene Erinnerung an Wirken und Geschick Jesu«76. Die Erinnerung verschafft als Interpretation der neutestamentlichen Texte eine bleibende Bindung an das Christusgeschehen und an eine nicht nur aus der Vergangenheit die Gegenwart, sondern auch die Zukunft erschließende Be­deutung.77 So entwickelt sich durch Erinnerung und die damit verbundene Wahrnehmung, vom Christusgeschehen her be­stimmt zu sein, eine durch den Christusglauben bestimmte Identität für die Einzelnen wie für die christliche Gemeinschaft.

Eine solche Erinnerung stellt sich nicht von selbst ein. Die Rezipienten der neutestamentlichen Texte sind es selbst, die diese Texte lesend interpretieren, um in ihren Kontexten Orientierungs- und Handlungswissen zu gewinnen. Eine solche Interpretation geschieht in der jeweiligen Gegenwart, in den besonderen Kontexten und in je unterschiedlichen Lebensumständen, Sozialstrukturen und gesellschaftlichen wie politischen Verhältnissen. Viele solcher Faktoren werden die Interpretation der Texte prägen und zu besonderen Geschichtsentwürfen führen. Es ergibt sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kontexte notwendig eine Pluralität von Geschichtsentwürfen im Anschluss an die neutestament­-lichen Texte.

Der Gewinn der Geschichte im Umgang mit der den neutestamentlichen Texten zugrunde liegenden Geschichte besteht zu­nächst tatsächlich in der Öffnung auf eine Pluralität der Deutungs­möglichkeiten für die je eigene Gegenwart. Das meint nicht, dass es gleichgültig wäre, welchem Geschichtsentwurf gefolgt würde.Eine an den neutestamentlichen Texten orientierte Ge­schichtsschreibung bleibt vor dem Hintergrund ihrer Sprachlichkeit kritikfähig. Sie hat zugleich ihren ebenfalls bleibenden notwendigen Bezug zum Christusgeschehen. Das Christusgeschehen ist ihr wie­derum nur über ihre Interpretation zugänglich. Gerade so er­schließt sich im Umgang mit der den neutestamentlichen Texten zugrunde liegenden Geschichte und im Umgang mit der Geschichte des Um­gangs mit dieser Geschichte ein Horizont des Verstehens von Gott und Welt. Das bedeutet, dass der glaubende Mensch im interpretierenden Umgang mit der den neutestamentlichen Texten zu­grunde liegenden Geschichte ein Orientierungs- und Handlungswissen und damit Freiheit gewinnen kann. Im Umgang mit der Geschichte findet der so die Geschichte interpretierende Mensch in der je eigenen Geschichte den Raum, in dem sich ihm selbst aus der Geschichte seine Gegenwart und zu­gleich seine Zukunft eröffnet.

Abstract


Interpretation is a way of making the historical basis of NT texts accessible. Such an interpretation depends on language and perspectival standpoints, and it is always part of particular contexts. New Testament texts tell the story of Jesus from the perspective of faith in Christ. Contemporary historical approaches to the his-torical realties underlying the NT texts have to make explicit their particular points of view as well. Theology must take into account insights from the theory of history past and present in its own critical accounts of the history of the NT texts.

Fussnoten:

1) Mit diesem Aufsatz greife ich ein Thema auf, das ich in früheren Überlegungen mit ausdrücklichem Blick auf die Texte des Neuen Testaments erörtert habe (C. Landmesser, Geschichte als Interpretation. Momente der Konstruktion im Neuen Testament, in: A. Klein, U. H. J. Körtner [Hrsg.], Die Wirklichkeit als Interpretationskonstrukt? Herausforderungen konstruktivistischer Ansätze für die Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 147–164). Habe ich mich in dem früheren Aufsatz eher auf die Texte des Neuen Testaments konzentriert, so steht in diesem Text die Geschichtsschreibung mit Blick auf diese Texte im Zentrum der Überlegungen, also die Geschichte im Umgang mit der in den neutestamentlichen Texten erzählten Geschichte und was aus dieser zu gewinnen ist.
2) Für die antiken neutestamentlichen Texte ist es noch eine Selbstverständlichkeit, von einer Geschichte zu reden, in der Gott als Subjekt gedacht oder vorausgesetzt wird. Nur drei Beispiele seien hier erinnert, die aber leicht vermehrt werden könnten. Nach Mt 1,1–17 hat das Eintreten Jesu in die Welt einen besonderen Ort in der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Dies wird dadurch kenntlich gemacht, dass von Abraham an besondere Einschnitte in diese Geschichte jeweils nach 14 Generationen erfolgen, und Christus erscheint 14 Generationen nach dem babylonischen Exil (Mt 1,17). Dieser Christus ist aber der ›Gott mit uns‹ (Mt 1,23). – Wie das Christusgeschehen und der Christusglaube vor dem Hintergrund der Geschichte Gottes mit seinem Volk angemessen zur Sprache gebracht werden können, beschäftigt Paulus besonders in Röm 9–11. Eine Einordnung in einen noch umfassenderen Geschichtsrahmen scheint in Gal 4,4 vorausgesetzt zu sein, wenn Paulus notiert, dass Gott seinen Sohn sandte, ὅτε δὲ ἦλθεν τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου. – Und zuletzt sei an Hebr 1,1–4 erinnert, wonach im Drama seiner Geschichte mit den Menschen Gott in seinem Sohn zu den Menschen redet.
3) Zur Diskussion in der Geschichtstheorie vgl. etwa H.-J. Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Universal-Bibliothek 17035, Stuttgart 2001.
4) Diese vier Themenkomplexe sind Gegenstand der genannten Studie von H.-J. Goertz (a. a. O., 5). – Selbstverständlich können diese Fragen hier allenfalls angedeutet werden, sie müssen als Fragen aber präsent bleiben, um den Ort des hier vorgetragenen Arguments wahrzunehmen.
5) Aus der Vielzahl der einschlägigen Publikationen zur Frage nach der Geschichte in der gegenwärtigen neutestamentlichen Wissenschaft seien hier nur wenige exemplarisch genannt: B. M. Sheppard, The Craft of History and the Study of the New Testament, SBL.RBS 60, Atlanta 2012; E. Ebel, S. Vollenweider (Hrsg.), Wahrheit und Geschichte. Exegetische und hermeneutische Studien zu einer dialektischen Konstellation, AThANT 102, Zürich 2012; R. Zimmermann, Geschichtstheorien und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Nar- ­ration in der historiographischen Diskussion, EC 2, 2011, 417–444; A. J. M. Wedder­burn, Jesus and the Historians, WUNT 269, Tübingen 2010; J. Frey, S. Krauter, H. Lichtenberger (Hrsg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, WUNT 248, Tübingen 2009; K. Backhaus, G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese, BThSt 86, Neukirchen-Vluyn 2007; J. Schröter, Geschichte im Licht von Tod und Auferweckung Jesu Christi. Anmerkungen zum Diskurs über Erinnerung und Geschichte aus frühchristlicher Perspektive, in: Ders., Von Jesus zum Neuen Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons, WUNT 204, Tübingen 2007, 55–77; U. Schnelle, Historische Anschlußfähigkeit. Zum hermeneutischen Horizont von Geschichts- und Traditionsbildung, in: J. Frey, U. Schnelle (Hrsg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive, unter Mitarbeit von J. Schlegel, WUNT 175, Tübingen 2004, 47–78; E. Reinmuth, Neutestamentliche Historik. Probleme und Perspektiven, ThLZ.F 8, Leipzig, 2003; K. Neumann, Die Geburt der Interpretation. Die hermeneutische Revolution des Historismus als Beginn der Postmoderne, Forum Systematik 16, Stuttgart 2002; S. Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 83, Tübingen 1993.
6) Vgl. C. Rowland, Art. Geschichte/Geschichtsauffassung V. Neues Testament, in RGG4 3 (2000), 783–789: 783.
7) Zu Semlers Hermeneutik vgl. M. Schröter, Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums, HABEI 44, Berlin/ Boston 2012; zu Semlers Bibelkritik vgl. G. Hornig, Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen, HABEI 2, Tübingen 1996, 229–245.
8) J. S. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, hrsg. von H. Scheible, TKTG 5, Gütersloh 21980, 15.
9) Vgl. C. Markschies, Epochen der Erforschung des neutestamentlichen Kanons in Deutschland. Einige vorläufige Bemerkungen, in: E.-M. Becker, S. Scholz (Hrsg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Berlin/Boston 2012, 578–604: 583; vgl. insgesamt zu Semler: 582–585.
10) Semler, Abhandlung (s. Anm. 8), 21.
11) A. a. O., 25.
12) A. a. O., 57.
13) A. a. O., 17.
14) A. a. O., 24.
15) A. a. O., 29.
16) Zu diesem Zusammenhang vgl. M. Bauspieß, Geschichte und Erkenntnis im lukanischen Doppelwerk. Eine exegetische Untersuchung zu einer christlichen Perspektive auf Geschichte, ABG 42, Leipzig 2012, 39–44.
17) Semler, Abhandlung (s. Anm. 8), 60. Vgl. Schröter, Semlers Hermeneutik (s. Anm. 7), 148–154; Hornig, Semler (s. Anm. 7), 237–239.
18) Semler, Abhandlung (s. Anm. 8), 60.
19) G. E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hgrs. von W. Barner u. a., Band 8: Werke 1774–1778, hrsg. von A. Schilson, Frankfurt a. M. 1989, 437–445: 441.
20) J. S. Semler, Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären, Leipzig 1788, 1–7, Teilabdruck in: H. W. Blanke, D. Fleischer (Hrsg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Band 2: Elemente der Aufklärungshistorik, Fundamenta Historica. Texte und Forschungen 1.2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 397–400: 398. – Zur an der Geschichte orientierten Hermeneutik Semlers vgl. auch U. Barth, Die Hermeneutik Johann Salomon Semlers, in: C. Danz (Hrsg.), Schelling und die Hermeneutik der Aufklärung, HUTh 59, Tübingen 2012, 29–50.
21) Vgl. dazu C. Landmesser, »Elementarbuch« oder »Kanon«. Lessings Deutung des Neuen Testaments, in: C. Bultmann, F. Vollhardt (Hrsg.), Gotthold Eph-raim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata, Frühe Neuzeit 159, Berlin/New York 2011, 200–218: 204 f.
22) G. E. Lessing, Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen giebt, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hrsg. von W. Barner u. a., Band 9: Werke 1778–1780, hrsg. von K. Bohnen, A. Schilson, Frankfurt a. M. 1993, 53–89: 63 f. Lessing erinnert hier ausdrücklich an die aus der lutherischen Theologie stammende Unterscheidung zwischen heiliger Schrift und Wort Gottes.
23) Vgl. dazu Landmesser, »Elementarbuch« (s. Anm. 21), 214–218.
24) Zum Verständnis von Geschichte bei Baur vgl. C. Landmesser, Ferdinand Christian Baur als Paulusinterpret. Die Geschichte, das Absolute und die Freiheit, in: M. Bauspieß, C. Landmesser, D. Lincicum (Hrsg.), Ferdinand Christian Baur und die Geschichte des frühen Christentums, WUNT, Tübingen (voraussichtlich 2014), 161–194: 163–168; M. Bauspieß, Geschichte (s. Anm. 16), 62–70; C. Landmesser, Mythos und Geschichte bei Ferdinand Christian Baur, in: C. Danz (Hrsg.), Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2013, 131–149; P. C. Hodgson, The Formation of Historical Theology. A Study of Ferdinand Christian Baur, New York 1966; W. Geiger, Spekulation und Kritik. Die Geschichtstheologie Ferdinand Christian Baurs, FGLP 10/28, München 1964.
25) F. C. Baur, Symbolik und Mythologie oder die Naturreligion des Altertums. In 2 Teilen (Teil 2 in 2 Abteilungen). Teil 1: Allgemeiner Teil. Neudruck der Ausgabe Stuttgart 1824, Aalen 1979, XI.
26) Vgl. S. Alkier, Urchristentum (s. Anm. 5), 212 f.
27) Baur nimmt hier Vorstellungen Schellings und später Hegels auf.
28) Die neutestamentlichen Schriften unterzieht Baur einer Tendenzkritik, um die besondere und subjektive Ausrichtung eines Textes wahrzunehmen. Dadurch wird es nach Baur auch möglich, den Abstand einer Schrift zum tatsächlich historischen Geschehen zu erkennen und in erkennbaren Tendenzschriften eben keine historisch zuverlässige Darstellung zu suchen (zur Tendenzkritik Baurs vgl. U. Köpf, Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß, in: Bauspieß, Landmesser, Lincicum [Hrsg.], Baur [s. Anm. 24], 3–51, bes. 35–43; M. Bauspieß, Das Wesen des Christentums. Zu Ferdinand Christian Baurs Sicht der synoptischen Evangelien, in: Bauspieß, Landmesser, Lincicum [Hrsg.], Baur [s. Anm. 24], 195–225; Ders., Geschichte [s. Anm. 16], 62–70).
29) Vgl. dazu Landmesser, Mythos (s. Anm. 24), 131.
30) Vgl. J. Rüsen, Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenskultur, stw 1082, Frankfurt a. M. 1993, 17.
31) E. Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie. Bemerkungen zu dem Aufsatze »Über die Absolutheit des Christentums« von Niebergall (1898), in: G. Sauter (Hrsg.), Theologie als Wissenschaft. Aufsätze und Thesen, TB 43, München 1971, 105–127.
32) A. a. O., 111 f.
33) A. a. O., 112.
34) Ebd. Troeltsch fährt fort: »Diese Relativierung und der Blick auf das Ganze gehören zusammen«.
35) A. a. O., 113 f.
36) A. a. O., 114.
37) A. a. O., 115.
38) A. a. O., 117.
39) A. a. O., 119.
40) A. a. O., 121.
41) Ebd.
42) A. a. O., 123.
43) L. v. Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Sämtliche Werke 33/34, Leipzig 21874, VII. – Knut Backhaus weist mit Recht darauf hin, dass ein solcher Blick auf die Geschichte schon bei Lukian von Samosata, hist. conscr. 39, wahrzunehmen ist (K. Backhaus, Spielräume der Wahrheit: Zur Konstruktivität in der hellenistisch-reichsrömischen Geschichtsschreibung, in: Ders., Häfner, Historiographie [s. Anm. 5], 1–29: 1 f.).
44) R. Bultmann, Theologische Wissenschaft und kirchliche Praxis, Oldenburgisches Kirchenblatt 19, 1913, 123–127.133–135: 124.
45) Ebd.
46) A. a. O., 125.
47) Ebd.
48) A. a. O., 125 f.
49) Vgl. zum Verhältnis von Geschichte und Geschichtlichkeit bei Bultmann besonders die Gifford Lectures, die Bultmann im Jahr 1955 in Edinburgh gehalten hat (R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie. Von Studienrätin E. Krafft besorgte deutsche Übersetzung der vom 7. Februar bis 2. März 1955 in Edinburgh gehaltenen Gifford Lectures nach der englischen Originalausgabe History and Eschatology, Edinburgh 1957, Tübingen 11958, 31979).
50) A. a. O., 49.
51) A. a. O., 127.
52) A. a. O., 134.
53) A. a. O., 168.
54) A. a. O., 168 f.
55) A. a. O., 184.
56) Vgl. etwa die grundständig gelehrte und faszinierende Studie von D.-A. Koch, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 2013, und die einem knappen Überblick dienende Arbeit von B. Kollmann, Einführung in die Neutestamentliche Zeitgeschichte, Einführung Theologie, Darmstadt 32014.
57) Koch, Urchristentum (s. Anm. 56), 17.
58) J. Schröter, Konstruktion von Geschichte und die Anfänge des Christentums: Reflexionen zur christlichen Geschichtsdeutung aus neutestamentlicher Perspektive, in: Ders., Von Jesus (s. Anm. 5), 37–54.
59) A. a. O., 43.
60) Vgl. Reinmuth, Historik (s. Anm. 5), 41: »Am Anfang des historischen Fragens steht somit nicht ›die‹ Vergangenheit, sondern die durch sie jeder Gegenwart aufgegebene Fraglichkeit. Die Gegenwart mit ihren vielfältigen und widersprüchlichen Prozessen der Sinnorientierung ist der primäre Kontext dieser Arbeit.«
61) Vgl. dazu C. Landmesser, Die Schrift und ihre Pluralität. Eine hermeneutische Anmerkung, in: Ders., H. Zweigle (Hrsg.), Allein die Schrift!? Die Bedeutung der Bibel für Theologie und Pfarramt, Theologie Interdisziplinär 15, Neukirchen-Vluyn 2013, 29–45.
62) Schröter, Konstruktion (s. Anm. 58), 54.
63) Es kann hier nur angedeutet werden, dass zu der Frage der vorausgesetzten Einheit der Geschichte im Sinne eines Gesamtzusammenhangs mit manchen gegenwärtigen geschichtstheoretischen Entwürfen diskutiert werden muss.
64) Vgl. Reinmuth, Historik (s. Anm. 5), 53 f.: »Der unabschließbare Prozess seiner Erforschung und Interpretation bleibt darauf angewiesen, dass jedes Vergangene in seinem Gesamtkontext, also in der von jeder Rekonstruktion ausgeschlossenen Totalität alles Vergangenen situiert wird«.
65) Vgl. dazu die Auseinandersetzung Häfners mit Hans-Jürgen Goertz, vor allem aber mit den Geschichtstheorien von Hayden White und Frank Ankersmit (G. Häfner, Konstruktion und Referenz: Impulse aus der neueren geschichtstheoretischen Diskussion, in: Backhaus, Häfner, Historiographie [s. Anm. 5], 67–96). Häfner notiert: »Wenn Geschichtsschreibung einen Sinn haben soll, dann muss sie sich auf eine außersprachliche vergangene Wirklichkeit beziehen« (a. a. O., 89). Häfner verweist damit auf eine grundlegende Intuition, die jede Rede von Welt und Geschichte voraussetzt, die aber nicht gezeigt werden kann.
66) Vgl. den Hinweis von Paulus in 1Kor 15,3, dass er der Gemeinde in Korinth das Christusgeschehen überliefere, wie er es selbst empfangen habe.
67) Die sprachliche Verfasstheit unseres Zugangs zur Geschichte macht eine Interpretation kritikfähig. Zu solchen Kriterien vgl. meine Argumentation in C. Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, WUNT 113, Tübingen 1999, 9–107.427–505. Zu wichtigen Aspekten einer Kriteriologie innerhalb der Geschichtswissenschaft vgl. C. Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, BzG 13, Köln/ Weimar/Wien 1997, 17–64.
68) Gemeint ist natürlich eine Kommunikationsgemeinschaft, die einen argumentativen und keinen gewaltsam zu entscheidenden Diskurs führt.
69) Selbstverständlich wird eine theologische Geschichtsschreibung im Anschluss an die neutestamentlichen Texte religionsgeschichtliche, sozialgeschichtliche und vergleichbare Fragen aufnehmen und gründlich bearbeiten. Sie kann sich nur nicht darin erschöpfen (vgl. dazu die wichtigen Anmerkungen von Schnelle, Historische Anschlußfähigkeit [s. Anm. 5], 77 f.). Eine theologische Geschichtsschreibung wird sich allerdings wie jede andere im Kontext einer umfassenden Interpretation der Geschichte in ihrer eigenen Gegenwart bewähren müssen, sie kann sich der aktuellen Argumentation und Kritik gerade nicht entziehen.
70) Vgl. H. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Aus dem Amerikanischen von Peter Kohlhaas, Frankfurt a. M. 1991.
71) Ulrich Luz zeigt dies am Beispiel des Matthäusevangeliums (U. Luz, Geschichte und Wahrheit im Matthäusevangelium. Das Problem der narrativen Fiktionen, EvTh 69, 2009, 194–208). Über die fiktiven Elemente der großen und der kleinen Reden, über die Verdoppelung von Erzählungen und frei erfundenen Geschichten und Szenen schuf sich Matthäus »seine eigene ›Fiktion‹ der wirklichen Geschichte des Herrn Jesus« (a. a. O., 202 [im Original kursiv]).
72) Exemplarisch kann auf den Beginn des Johannesevangeliums hingewiesen werden: Der λόγος, der bei Gott war, tritt in die Welt ein (Joh 1,1–18). – Mit dem heilvollen Auftreten und der Predigt Jesu erscheint nach dem Markusevangelium die βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Welt (Mk 1,14 f.). Die Erzählungen vom Handeln Jesu in der Welt erinnern an die Schilderung des Eintretens Gottes in die Welt im Anschluss an Jes 35,1–10.
73) Zur Bedeutung der Sprachformen für eine Geschichtsschreibung im Anschluss an die neutestamentlichen Texte vgl. R. Zimmermann, Formen und Gattungen als Medien der Jesus-Erinnerung. Zur Rückgewinnung der Diachronie in der Formgeschichte des Neuen Testaments, JBTh 22, 2007, 131–167.
74) Auch dazu sollen aus der inzwischen großen Fülle von Titeln nur wenige exemplarisch genannt werden: M. Theobald, R. Hoppe (Hrsg.), »Für alle Zeiten zur Erinnerung«. Beiträge zu einer biblischen Gedächtniskultur. Festgabe für Franz Mußner zum 90. Geburtstag, SBS 209, Stuttgart 2006; J. Schröter, Geschichte (s. Anm. 5); A. Kirk, T. Thatcher (Eds.), Memory, Tradition, and Text. Uses of the Past in Early Christianity, SBL Semeia Studies 52, Atlanta 2005; J. D. G Dunn, Chris­tianity in the Making I: Jesus Remembered, Grand Rapids (Michigan/Cambridge) 2003. – Zu den Kategorien ›Erinnerung‹ und ›Gedächtnis‹ vgl.exemplarisch als einschlägige Titel: J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Aus dem Französischen von L. Geldsetzer, stw 538, Frankfurt a. M. 1985.
75) Mit Schröter, Geschichte (s. Anm. 5), 68 f. – Vgl. exemplarisch Phil 2,6–11.
76) Schröter, Geschichte (s. Anm. 5), 77.
77) Der Zusammenhang von Erinnerung und Erschließung der Zukunft wird sehr gut zugänglich in den Worten Jesu beim letzten Mahl mit seinen Jüngern (Mk 14,22–25; Mt 26,26–29; Lk 22,15–20; 1Kor 11,23–26).

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