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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

795–798

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wermke, Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionspädagogik und Reformpädagogik. Brüche, Kontinuitäten, Neuanfänge. Eine Veröffentlichung des Arbeitskreises für Historische Religionspädagogik.

Verlag:

Jena: Garamond Imprint der Format Druckerei & Verlagsgesellschaft 2010. 264 S. m. Abb. = Arbeiten zur Historischen Religionspädagogik, 8. Kart. EUR 27,90. ISBN 978-3-941854-00-0.

Rezensent:

Thomas Schlag

Dass sich die Religionspädagogik seit den 1990er Jahren verstärkt mit ihren historischen Wurzeln befasst, kommt ihr in vielerlei Hinsicht zugute. Nicht nur erweitert dies den Blick auf die Genese der wissenschaftlichen Disziplin und der im jeweiligen Zeitraum maßgeblich prägenden Diskurse und Kontexte. Sondern dies wirft auch in hilfreicher Weise Licht auf aktuelle Fragestellungen, indem durch eine solche historische Forschung zweifellos eine bessere Orientierung über den eigenen Standort und die damit verbundenen Herausforderungen für die Theorie und Praxis religiöser Bildung möglich wird. Dieses Miteinander von synchroner und diachroner Perspektive lässt sich nun durch den Blick auf das Verhältnis von Religionspädagogik und Reformpädagogik in besonders aufschlussreicher Weise abbilden. Zum einen ist historisch gesehen insbesondere im ersten Drittel des 20. Jh.s hier eine enge und verbindungsreiche und zugleich international ausgreifende Dynamik zu konstatieren, zum anderen stellen einige der damals getroffenen Grundunterscheidungen inzwischen unhintergehbare Standards für die religionspädagogische Lehre und Praxis dar: Zu denken ist hier an die Rede einer subjektorientierten »Pädagogik vom Kinde aus«, das Ideal freiheitlicher und selbstbestimmter Bildung oder an die immer wieder hervorgehobene Bedeutung erfahrungs- und erlebnisorientierter Zugänge zu religiösen Glaubens- und Wissensbeständen.
Allerdings ist nun im Einzelfall eben nicht klar, wie es um das Verwandtschafts- und Bedingungsverhältnis zwischen beiden pädagogischen Perspektiven eigentlich historisch bestellt ist: Viele der institutionellen, personellen und konzeptionellen Bezüge zwischen Religionspädagogik und Reformpädagogik harren immer noch der eingehenderen Erforschung. Der vom Jenenser Religionspädagogen Michael Wermke herausgegebene Band wirft nun durch die Hinwendung zu den Brüchen, Kontinuitäten und Neuanfängen in höchst aufschlussreicher Weise weiteres Licht auf dieses Verhältnis und markiert zugleich weitere Forschungsdesiderate. Versammelt sind konkret die Beiträge der IV. Jahrestagung des inzwischen weit ausstrahlenden ökumenischen Arbeitskreises für Historische Religionspädagogik, der sich 2009 diesem Themenkomplex widmete.
Dabei sind es vor allem drei Leitfragen, zu deren Klärung die Tagung selbst beitragen sollte und die auch in den einzelnen Beiträgen in wenn auch unterschiedlich intensiver Weise verhandelt werden: erstens die Frage, inwiefern denn die Religionspädagogik und ihre Protagonistinnen und Protagonisten in den unterschiedlichen Bildungsbereichen selbst von reformpädagogischen Einsichten und den damit verbundenen Debatten beeinflusst wurden; zweitens, inwiefern Religion überhaupt als ein wesentlicher, gar konstitutiver Bezugsgegenstand der Reformpädagogik angesehen werden kann, und drittens, wie sich eigentlich im allgemein-pädagogischen Diskurszusammenhang die Wahrnehmung schulisch-religiöser Bildung im Einzelnen manifestierte und mit den konkreten bildungspolitischen und schulorganisatorischen Grund­entscheidungen der damaligen Zeit verkoppelte. Dabei sind alle drei Fragedimensionen von der Problemstellung durchzogen, in­wiefern und in welchem Sinn überhaupt im Kontext der weltanschauungspluralen Moderne noch sinnvollerweise von einer Lehr- und Lernbarkeit von Religion gesprochen werden sollte. So spiegelt sich im Gesamten der Beiträge über die historische Perspektive hinaus zugleich die hochaktuelle Fragestellung nach der angemessenen Form der Thematisierung von Religion im schulischen Kontext überhaupt wider.
Um die Komplexität der genannten Fragestellungen noch zu steigern, wird dabei in den einzelnen Beiträgen immer wieder deutlich, dass schon die Zuschreibung »Reformpädagogik« als solche sehr viel mehr ein normatives Konstrukt und Konstruktionsphänomen (H. E. Tenorth) darstellt als eine bestimmte zeitlich, inhaltlich oder methodisch ganz eindeutig abgrenzbare Größe. Dies betont ebenso Michael Wermke in seinen orientierenden Eingangsüberlegungen (5-14) wie auch Ralf Koerrenz in seinem systematischen Einführungsbeitrag zur Religion als kultureller Grundierung pädagogischer Reform (15–30). Bei aller internen kon-zeptionellen Pluralität stellt Koerrenz dabei grundsätzlich die re­formpädagogische Bedeutungszuschreibung des Lebensbegriffs heraus und verweist auf deren tendenziell antiaufklärerischen und antirationalistischen Grundton. Bekanntermaßen waren reformpädagogische Protagonisten aus grundsätzlichen Erwägungen heraus gegenüber allen Formen eines konfessionellen Religionsunterrichts höchst skeptisch bis gänzlich ablehnend eingestellt. Dies bedeutete allerdings gerade nicht, dass man das Thema Religion überhaupt aus Klassenzimmer und Schule zu verbannen gedachte. Allerdings sollte Religion eben primär als ein kultureller und die Sittlichkeit befördernder Faktor zur Sprache kommen. Eindrücklich sind Koerrenz’ Beobachtungen zu den theologischen Spuren des pädagogischen Reform-Motivs, etwa die »religiös-soteriologische Dimension des Lernens« (24), wie sie sich etwa in der Projektion des Reich-Gottes-Ideals auf konkrete schulische Ge­meinschaftsideale bis hin zu diskursiven, aber durchaus auch zu strukturiert rhythmisierten Lernprozessen hin manifestierte.
In systematischer Weise geht auch der Beitrag von Robert Schelander dem komplexen Wechselverhältnis nach, konzentriert dies allerdings auf die Grundfrage der religionspädagogischen Rezeption der Reformpädagogik (97–112). Dafür unterscheidet er nicht nur unterschiedliche Rezeptionsphasen, sondern gleichsam auch verschiedene Tiefen der Kenntnisnahme. Diese konnten – exemplarisch dargestellt an Helmuth Kittel und Walter Uhsadel – von einer Orientierung an der gesamten Bewegung und ihren Ideen bis hin zur Übernahme ganz konkreter unterrichtspraktischer bzw. unterrichtsmethodischer Aspekte reichen. Schelander kommt dabei allerdings auch zu dem einleuchtenden Schluss, dass der Rückzug der Religionspädagogik auf die Didaktik des schulischen Religionsunterrichts letztlich eine pädagogisch breiter abgestützte Auseinandersetzung mit reformpädagogischen Grundfragen verhinderte.
Hein Retter stellt in gewohnt detaillierter und engagierter Weise einen sachkundigen Vergleich zur Bedeutung der Religion in der Pädagogik Peter Petersens und John Deweys an (31–65). In seinem Beitrag wird am deutlichsten die internationale Dimension der Fragestellung deutlich und tatsächlich sind hier wohl noch erhebliche weitere Forschungen zu diesem grenzüberschreitenden Wissens- und Erfahrungstransfer anzustellen. Durchaus erschreckend ist die von Retter herausgearbeitete Tatsache, dass bei Petersen die soziologisch und pädagogisch grundierte – und am Beispiel der amerikanischen Demokratie orientierte! – Betonung von »Volk« und »Volksgemeinschaft« letztlich zur »Projektionsfläche nationaler Sehnsüchte« (32) wurde. Dann vermag es auch kaum noch zu überraschen, dass dies bei ihm am Ende zu einer »Ideologie völkischer Bruderschaft« führt, »die das Judentum als ›nicht artgemäß‹« exkludiert (63), was Schelander zu Recht von Petersens moralischer Selbstbeschädigung im vollen Ausmaß (vgl. 65) sprechen lässt.
Von katholischer Seite aus liefern Ulrich Kropacˇ und Werner Simon aufschlussreiche Beiträge zur Rezeption der Reformpädagogik: Während Kro-pacˇ dabei auf die Entwicklungen in der katholischen Religionspädagogik eingeht (67–80), stellt Simon am Beispiel Paul Bergmanns dessen reformkatechetisch-bibeldidaktischen Ansatz dar (81–96). In beiden Beiträgen wird die sicherlich nicht nur historisch zu konstatierende, immer wieder neu notwendig werdende Ab­grenzung gegenüber katechetisch-dogmatistischen und neuscholastischen Vermittlungsversuchen der katholischen Lehre überdeutlich, der gegenüber reformpädagogische Einsichten, vor allem die der Arbeitsschulkonzeptionen Kerschensteiners und Gaudigs, als zweifelsohne wichtiges Widerlager entgegengestellt werden konnten.
Durch eine ganze Reihe von weiteren detaillierten historisch orientierten Einzelstudien werden die im Einzelfall komplexen und keineswegs immer ganz eindeutig beschreibbaren Beziehungsdynamiken zwischen beiden pädagogischen Perspektiven entfaltet. Antje Roggenkamp-Kaufmann macht dabei in ihrer Untersuchung protestantischer religionspädagogischer Zeitschriften (113–138) deutlich, dass die Implementierung des Arbeitsschulprinzips in der Weimarer Reichsverfassung erhebliche Dynamik auslöste, die grundsätzliche pädagogische Auseinandersetzung mit reformpädagogischem Gedankengut allerdings eher dünn ausfiel. Im spannenden Porträt Kristian Kronhagels zu Otto Eberhard und dessen Wirken als Religionspädagoge, Erziehungswissenschaftler und Lehrerausbilder in Thüringen zwischen 1920 und 1927 bildet sich eindrücklich ab, wie sehr sich schon am Ort einer einzelnen Person diese Rezeptionsweisen teilweise grundstürzend ändern konnten (139–154),
Dass es auch sehr pragmatische und vor allem durch die Schulgesetzgebung motivierte – extrinsische Gründe gab, sich auf reformpädagogische Entwicklungen einzulassen, zeigt Jonas Flöter anhand der Erziehungsideale der Landesschule Pforta und des Joachimsthalschen Gymnasiums, wie diese sich für das erste Drittel des 20. Jh.s nachzeichnen lassen (155–175).
In erschreckender Deutlichkeit weist Matthias Blum anhand der Diskussion um die Neukonzeption einer volkstümlichen Schulbibel und deren völkische Argumentationsfiguren auf, mit wie viel antijudaistischem Ressentiment auch die Reformpädagogik der Zeit behaftet sein konnte (177–194), und bestätigt damit nochmals J. Oelkers Charakterisierung dieser pädagogischen Strömung als »liberal im Gedanken der kindgemäßen Erziehung, aber autoritär in der nationalpolitischen Zielbestimmung« (194).
Eine bisher eher wenig beachtete Strömung der Rezeption reformpädagogischer Einsichten stellen die deutschen Quäker dar, auf die Claus Bernet ausführlich eingeht (195–221), auch wenn die detaillierten historisch-biographischen Einzelerkenntnisse gegenüber der zentralen Fragestellung doch etwas zu sehr ins Zentrum rücken.
Es ist nun sachlich so angemessen wie auch weiterführend, dass der Band mit zwei unmittelbar gegenwartsbezogenen Beiträgen und gleichzeitigen Einblicken in aktuelle reformpädagogische Schullandschaften abschließt. In eindrücklicher Weise beschreibt Barbara Hanusa die bis heute gepflegte re­formpädagogische Praxis an der 1910 von Paul Geheeb gegründeten schweizerischen École d’Humanité und zeigt dabei in plastischer Weise die besondere gleichsam überkonfessionelle Pflege der Religion und des religiösen Rituals auf (223–231). Gabriele Obst geht zum einen nochmals in systematischer Weise auf das Verhältnis von religionspädagogischer und reformpädagogischer Perspektive ein, konkretisiert deren Potential dann anhand des 1974 von Hartmut von Hentig gegründeten Oberstufen-Kollegs Bielefeld (233–249). Eindrücklich skizziert sie hier die Theologie-Kurse bzw. den Religionsunterricht, der gerade in interreligiöser Perspektive wissenschaftspropädeutisch an der Evangelischen Theologie als Bezugswissenschaft orientiert ist.
Der Band legt auf instruktive und historisch detaillierte Weise ein Plädoyer dafür ab, dass Religion in der Allgemeinpädagogik bzw. Erziehungswissenschaft nicht mehr länger ein tendenziell unterbelichtetes Thema darstellen, sondern als Teil eines pädagogischen Lebens- und Lernweges wie auch als weltanschaulich-kultureller Faktor im Schulleben und allen Re­formdebatten seine angemes-sene Berücksichtigung erfahren sollte. Gerade angesichts der jüngs­ten Diskussionen über die dunklen Seiten der Reformpädagogik, etwa in Gestalt der Landerziehungsheimbewegung, wird in der wei­teren Forschung noch stärker als bisher danach zu fragen sein, welch fatale Rolle religiöse Legitimationsfiguren für bestimmte Formen indoktrinierender und gewalttätiger Erziehung gespielt haben und wie hier durch ein bestimmtes Gemeinschaftspathos jegliche individuellen Lebensäußerungen dann eben doch systema­tisch und in unheilvoller Weise unterdrückt wurden. Dabei kann von den historischen Forschungen gelernt werden, dass ein erheblicher Unterschied zwischen säkularisierter Theologie (so konstatiert dies etwa Retter bei Dewey, 49) und einer Theologie, die sich mit den säkularen Verhältnissen auseinandersetzt, besteht.
Durch die hier vorgelegten Beiträge wird zugleich deutlich, dass sich historische und gegenwartsorientierte sowie international ausgerichtete religionspädagogische Forschung nicht nur wechselseitig bereichern können, sondern hinsichtlich der Herausarbeitung zentraler Fragestellungen sinnvollerweise eng aufeinander bezogen sein sollten. Dies kann beispielhaft für die Herausforderung eines konfessionellen Religionsunterrichts in den faktischen religionspluralen Verhältnissen der Gegenwart gelten, aber auch für ein subjektbezogenes religiöses Lehren und Lernen überhaupt. Und dabei ist es doch wieder erstaunlich, dass die Bildungspolitik offenbar nach wie vor zu Einschätzungen und Entscheidungen hinsichtlich der konfessionellen Verortung des Religionsunterrichts gelangen kann, die deutlich hinter den Einsichten der entsprechenden Fachdebatten und auch dem Anspruch der diesen Unterricht erteilenden professionellen Lehrkräfte zurückbleiben.
Dass sich im ökumenischen Kreis der Historischen Religionspädagogik eben nicht nur historisch-systematisch arbeitende, sondern auch in der unmittelbaren institutionellen Bildungspraxis in Universität, Kirche und Schule tätige Forscherinnen und Forscher zu diesem Sammelband zusammengefunden haben, kann als eine besondere Chance für intradisziplinäre Perspektiven angesehen werden, die auch für andere religionspädagogische Themenbearbeitungen fruchtbar zu sein verspricht.