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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

655 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jürgensen, Sven

Titel/Untertitel:

Freiheit in den Systemen Hegels und Schellings.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 1997. 357 S. gr.8 = Epistemata, 158. Kart. DM 84,-. ISBN 3-8260-1258-5.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

1. Mit seiner bei Heribert Boeder an der Universität Osnabrück erstellten, philosophischen Dissertation geht Sven Jürgensen wahrlich aufs Ganze. Nach einer kurzen Einleitung (I., 9-14) und der Skizze des gemeinsamen Ausgangspunktes bei der "Wissenschaftslehre" (1794) des frühen Fichte (II., 15-39) versucht der Vf. die durch Spezialisierung entstandene Forschungslücke zu schließen, mittels eines luziden Vergleichs von Schelling und Hegel die prinzipielle Differenz ihrer Systeme auf das unterschiedliche Freiheitsverständnis zurückzuführen (11). Dabei wird nun so vorgegangen, daß diese beiden Philosophen zwar gleichsam monographisch behandelt sind, die analoge Strukturierung des Schelling- (III., 40-152) und Hegelkapitels (IV., fälschlich als "III" verdruckt!, 153-337) gleichwohl den Vergleich hinsichtlich des Freiheitsthemas ermöglicht. Ein kurzes Resümee (V., 338-346) beschließt den Band. Global gesehen ziehen Schelling und Hegel verschiedene Konsequenzen aus der problematischen Amalgamierung Fichtes von absolutem Ich ("Thathandlung") und Selbstbewußtsein, wobei Schelling zunehmend das Selbstbewußtsein in den Vordergrund rückt, Hegel aber den Freiheitsbegriff als Freiheit des Begriffs in Abstreifung der Bewußtseinsproblematik entwickelt. Demnach sei Schellings "analogisches" mit Betonung der Differenz dem Hegelschen "logischen" Denken mit Akzentuierung der Identität zu kontrastieren (12 f., 90, 97, 105 ff., 343 f.).

2. Der Vf. ist sich darüber im Klaren, daß Schellings Philosophie nicht die Geschlossenheit der Hegelschen "Enzyklopädie" aufweist. Insofern sind die Verschiebungen und Neuansätze des "Systems des transzendentalen Idealismus" (1800) (45-73), Schellings "Darstellung meines Systems der Philosophie" (74-83), "Philosophie und Religion" (1804) (83-100) und schließlich die Freiheitsschrift von 1809 (113-152) zu behandeln. Schon Schellings Dopplung einer produktiven und "gegebenen" Freiheit im "System" von 1800 widerspricht der Fichteschen rein produktiven Freiheit im Ansatz. Für Schelling muß dagegen Freiheit als "Synthesis in der Harmonie von genommener (subjektiver) und gegebener (objektiver) Freiheit" gedacht werden (47). Entsprechend ist Schellings Prinzip des "Selbstbewußtseins" hier im Gegensatz zur "Thathandlung" von vornherein als Subjekt-Objekt in sich unterschieden (50ff.). "Das Selbstbewußtsein hat das absolute Ich verloren." (54, vgl. 62 f.)

Schellings Weg zur Freiheitsschrift besteht zugleich in Selbstdistanzierung insofern, als der Freiheitsbegriff zunehmend vom Selbstbewußtsein abgelöst wird (75, vgl. 114ff.). Schelling bestimmt zwar die menschliche Freiheit nun als das "Vermögen des Guten und des Bösen", aber so, daß dieses Vermögen im Absoluten selbst verankert wird. Denn die für Gott eingeführte Leitdifferenz von Existenz und Grund ermöglicht es per analogiam endliche Wesen Gott entgegengesetzt sein zu lassen. Durch diese Unterscheidung in Gott "kann Schelling die Existenz Gottes als die Geburt des in der Sehnsucht produktiven Grundes denken" (128). Demnach definiert sich menschliche Freiheit von vornherein nicht als Selbstbestimmung bzw. Selbstunterscheidung, sondern über ihr Verhältnis zum Absoluten (132, 138). Die relative Unabhängigkeit des Menschen gegenüber dem Absoluten bedingt seine Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse. "Wegen dieser Abkehr von Gott, welche die Zukehr zu seiner Einzelheit ist, ist er (sc. der böse Mensch) in der Sünde der umgekehrte Gott." (144) Emphatische Freiheit besteht daher allein in Übereinstimmung mit der göttlichen Ordnung (145 f., 152).

3. Demgegenüber zielt Hegels Freiheit des Begriffs auf absolute Selbstbestimmung und -unterscheidung. "Nach der negativen Arbeit der Phänomenologie - dem Untergang des natürlichen Bewußtseins - wird die ,Logik’ diejenige Vernunft systematisch entfalten, die sich von sich als Vernunft des natürlichen Bewußtseins unterschieden hat. Erst die ,Logik’ wird daher das spekulative Prinzip jenseits des natürlichen Bewußtseins als System darstellen." (155 f., Hervorh. von mir) Im ersten Schritt weist der Vf. nach, wie Hegel in der "Phänomenologie des Geistes" die einzelnen Bewußtseinsgestalten jeweils ihrer Unwahrheit überführt, so daß das "absolute Wissen" das natürliche Bewußtsein hinter sich gelassen hat (159-239). Im Durchgang durch das abstrakte (165-187), vernünftige (188-201), moralische (201-220) und religiöse (220-238) Selbstbewußtsein wird Hegels Kritik am frühen Fichte richtig beim moralischen Selbstbewußtsein verortet. Im Gegensatz zu Schelling ist hier das Böse nicht an einer vorgegebenen, göttlichen Ordnung ablesbar, sondern es wird als die abstrakte Allgemeinheit der reinen Negationsfähigkeit überhaupt (Fichtes "Ich=Ich") identifiziert (215 f.). Das religiöse Selbstbewußtsein als die wahre Gestalt des Geistes scheitert schließlich an der Insuffizienz seiner Form, wenn es sich in endlichen und äußerlichen Vorstellungen ausspricht, die zu keiner Gegenwart der gottmenschlichen Versöhnung gelangen (226-236).

Positiv wird die Freiheit des Begriffs im zweiten Schritt an der "Wissenschaft der Logik" entfaltet (240-337). Die absolute Idee ist "als Resultat ihrer selbst absolut erfüllt, weil vollkommen durch sich selbst bestimmt" (333, Hervorh. von mir). Die spekulative "Logik" entwickelt im reinen Denken die "Wissenschaft der absoluten Form" (Hegel, zitiert 242). Erfreulicherweise ist dem schwierigen Übergang von der Wesens- in die Begriffslogik, von der Substanz in die Subjektivität, breiten Raum gewidmet (246-291). Zu Recht ist festgehalten, daß der Denkweg Hegels über Substantialität, Kausalität und Wechselwirkung "vom Absoluten der Reflexion zur Reflexion des Absoluten" selbst fortschreitet (278, 289 f.).

Die explizierte Wechselwirkung denkt die philosophische Gottesbestimmung der "causa sui" - allerdings zugleich in ihrem Scheitern, da die anfängliche Asymmetrie von aktiver und passiver Substanz, von Ursache und Wirkung, nicht gehalten werden kann. Aus dem Verhältnis Selbständiger, die sich "nicht mehr hinsichtlich ihrer Aktivität und Passivität" unterscheiden lassen (286), geht die Freiheit des Begriffs hervor. Während bei Schelling "das Absolute schlechthin getrennt von der Reflexion" bleibt (289), vermag Hegel das Endliche ins spekulative Denken zu integrieren. "Im absoluten System zeigt sich das Endliche an dem Nacheinander der Bestimmungen, die doch ihrem Wesen nach zeitlos zugleich ineinander übergehen." (290)

Auch wenn J.s Sympathien dem scheinbar offeneren, analogischen Denken Schellings gehören, zeigen seine eindrucksvollen Beobachtungen zu Hegel dessen überlegene argumentative Stringenz, die mitnichten weniger Differenzbewußtsein als Schelling verrät. Insofern bewahrheitet sich Odo Marquards ironisches Bonmot, die Schwierigkeit, ein Hegelianer zu sein, werde nur von derjenigen übertroffen, es nicht sein zu wollen.