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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

778–780

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ernsting, Heike

Titel/Untertitel:

Salbungsgottesdienste in der Volkskirche. Krankheit und Heilung als Thema der Liturgie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 288 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03102-3.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

Salbungsgottesdienste gehören in den evangelischen Landeskirchen Deutschlands nicht zu den selbstverständlichen Angeboten im Gottesdienstprogramm, aber sie erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Bisher ist diese Form des öffentlichen Gottesdienstes, bei der die Besucher – so sie dies denn wollen – einzeln mit Öl ge­salbt und gesegnet werden, in der praktisch-theologischen Literatur kaum systematisch dargestellt und reflektiert worden. Diese Lücke auszufüllen ist das Anliegen der Bochumer Dissertation von Heike Ernsting. Bewusst verwendet E. den Terminus »Salbungsgottesdienste« und nicht »Heilungsgottesdienste«: Denn gerade die Frage, ob und inwieweit es theologisch angemessen sei, diese liturgischen Salbungen als ein therapeutisches Handeln zu verstehen, wird von E. kritisch bedacht. Weiterhin ist es ihr Ziel, die Salbungsgottesdienste als eine neue Kasualie zu verstehen und den Kasus, auf den sie sich bezieht, genauer zu bestimmen.
Nach der Einführung in ihre Forschungsfrage entfaltet E. in einem ersten Kapitel die Heilungsdiskurse in der Ökumene der Gegenwart, die sich vor allem aus drei Quellen speisen: einer Aufnahme der altkirchlichen Christus-medicus-Theologie, der missionstheologisch und charismatisch geprägten Diskussion zu Heil und Heilung sowie der anglikanischen Modelle des ministry of healing. Letztere sind für die evangelische Praxis in Deutschland besonders einflussreich, und das wird von E. als angemessen be­wertet. Denn – so E. – die hier verwendeten theologischen Be­gründungen entsprächen der Notwendigkeit, in der modernen Gesellschaft zwischen religiöser und schulmedizinischer Perspektive auf Krankheit und Heilung zu differenzieren, keine unrealistischen Erwartungen einer körperlichen oder psychischen Genesung an das liturgische Handeln zu schüren und sich von esoterischen Heilungsversprechen und -praktiken zu unterscheiden.
Das zweite Kapitel reflektiert Krankheit und Heilung in der modernen Gesellschaft in einem systemtheoretischen Rahmen: Einerseits sei die Ausdifferenzierung von Gesundheits- und religiösem Funktionssystem der Gesellschaft zu beachten. Religion habe mit dem Thema der Heilung in therapeutischer Hinsicht nichts mehr zu tun. Andererseits könne in den letzten Jahrzehnten die Tendenz beobachtet werden, dass sich die Leitdifferenz Ge­sundheit-Krankheit in andere Funktionsbereiche der Gesellschaft hinein ausbreite und insofern das gesamte gesellschaftliche Leben dominiere: Alles drehe sich um Gesundheit. Die religiöse Konjunktur des Themas der Heilung müsse in diesem Kontext gesehen und kritisch relativiert werden. E. warnt vor einer Therapeutisierung des religiösen Handelns, wie es in der Esoterik-Szene zu beobachten sei. Der christliche Gottesdienst müsse sich vom Gesundheitswahn der Gesellschaft unterscheiden, er sei orientiert an einem realistischen Blick auf das ganze Leben in Gesundheit und Krankheit, der Akzeptanz der Gesunden wie der Kranken in der Liebe Gottes und der selbstverständlichen Zugehörigkeit der Kranken zur Gemeinschaft aller Christen.
Eine Auseinandersetzung mit der gängigen Praxisliteratur – untersucht werden die Lutherische Agende »Dienst am Kranken« sowie Texte von Walter Hollenweger, Rainer Stuhlmann und Waldemar Pisarski – rundet die theoretischen Kapitel ab, aus der einige Fragen in den empirischen Teil der Untersuchung mitgenommen werden: Wie ist die Salbung theologisch zu bestimmen? Welches Verständnis von Heilung ist in der Praxis leitend und theologisch angemessen? Wie ist das Verhältnis von sinnlicher Erfahrung und Deutung zu sehen? Welche Rolle können die Geistlichen, welche die Laien in den Gottesdiensten spielen?
In fünf städtischen Gemeinden mit unterschiedlichem theologischem Profil – von charismatisch bis liturgisch-hochkirchlich – hat E. Salbungsgottesdienste teilnehmend beobachtet und mit den beteiligten Pfarrerinnen und Pfarrern Experteninterviews geführt. Leider fehlt hier die Perspektive der Rezeption durch die Gottesdienstbesucher: Warum kommen sie? Wie erleben sie diese Gottesdienste? Inwieweit sind sie tatsächlich mit dem Thema Krankheit beschäftigt? Darüber erfährt die Leserin nichts. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Perspektive der Professionellen, durch die das Thema der Salbung zu einem Thema ihrer Gemeinde geworden ist. Fast alle haben durch Kontakte zu Walter Hollenweger oder zur Anglikanischen Kirche Salbungsgottesdienste kennengelernt und in ihren Gemeinden etabliert. Durchweg wird erkennbar, dass die Pfarrer und Pfarrerinnen sich der Gratwanderung bewusst sind, einerseits das Thema der Heilung als ein genuin biblisches Thema in den Gottesdienst integrieren zu wollen, andererseits aber keine unangemessenen Erwartungen im Blick auf eine therapeutische Wirkung der Salbung zu wecken. Die Salbungen erfolgen in einer klaren Form, die Nähe und Distanz klar regelt. Kirchenjahreszeitlich liegen die Salbungsgottesdienste in der Passionszeit bzw. am Kirchenjahresende, also in Zeiten, in denen die Verletzlichkeit des Menschen besonders im Blick ist. Nicht selten werden Salbung und Abendmahl in einem Gottesdienst miteinander verbunden.
Im letzten Kapitel entfaltet E. auf der Basis dieser Vorarbeiten ihr eigenes Verständnis von Salbung als einer Kasualie, bei der »Krankheit und Gefährdung der Geschöpflichkeit in ritueller und liturgischer Weise« (249) thematisiert werden. Dabei stehen vier Aspekte im Vordergrund: die Solidarität mit den Kranken, die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit als dem Leben gleichermaßen zugehörige Momente, der liturgische Ausdruck des »Seufzens der Schöpfung« und die Vergewisserung der Einzelnen in ihrer Verletzlichkeit. Die Salbung sei durch ihre Zentrierung auf das Subjekt und das Ineinander von sinnlicher Erfahrung und theologischer Deutung eine Vergewisserung der »ganzen Person«, wie dies sonst kaum noch in der modernen Gesellschaft zu erfahren sei (vgl. 255). Nicht charismatische Geistheilung stehe also im Zentrum volkskirchlicher Salbungsgottesdienste, sondern eine Auseinandersetzung mit der Verletzlichkeit und Bedürftigkeit der Kreatur und eine Vergewisserung der Menschen in dieser Situation.
Das Buch entfaltet sein Thema überlegt, gut lesbar und facettenreich. Wer sich mit dem Thema der Salbung auseinandersetzen möchte, findet hier eine reichhaltige Präsentation von Konzepten, empirischem Material und weiterführenden Überlegungen. Insgesamt schwimmt E. sich im Zuge ihrer Darstellung zunehmend frei. Während die ersten Kapitel sich eng an bekannten Positionen ihrer Lehrerin Isolde Karle orientieren, wird die Darstellung im weiteren Verlauf origineller. Dass eine Salbung durchaus Heilsames bewirken kann, auch wenn sie nicht einer therapeutischen Intention folgt, kommt deutlicher in den Blick. Salbungsgottesdienste werden kritisch auf ein gesellschaftliches Bedürfnis bezogen und als eine liturgische Form gewürdigt, die existentielle, theologische und ästhetische Dimensionen des Gottesdienstes auf ansprechende Weise verbindet. Man kann verstehen, warum Menschen sich durch solche Gottesdienste angezogen fühlen, auch und gerade, wenn sie diese vom notwendigen Arztbesuch zu unterscheiden wissen.