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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

765–768

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ahrens, Theodor, u. Werner Kahl[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

GegenGewalt. Ökumenische Bewährungsfelder.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 220 S. = Beihefte Interkulturelle Theologie. Neue Folge, 15. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-03127-6.

Rezensent:

Torsten Meireis

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Berner, Knut, Lange, Sebastian, u. Werner Röcke [Hrsg.]: Gewalt: Faszination und Ordnung. Berlin u. a.: LIT Verlag 2012. 225 S. = Villigst Profile, 15. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-643-11638-3.
Williams, James G.: Girardians. The Colloquium on Violence and Religion, 1990–2010. Berlin u. a.: LIT Verlag 2012. 336 S. = Beiträge zur mimetischen Theorie, 32. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-90281-8.


Das Problem des Gewaltbegriffs ist bekannt: Definiert man zu eng, gerät man in die Gefahr, Ausdrucksformen der Gewalt zu übersehen, oder in den Verdacht, sie zu verschleiern, definiert man zu weit, droht eine Inflation des Begriffs, die die Aufmerksamkeit von denjenigen Formen abzieht, deren Bekämpfung am dringlichsten ist.
Extrem weit ist der Gewaltbegriff, der dem auf eine Berliner Ringvorlesung zurückgehenden Sammelband »Gewalt: Faszination und Ordnung« zugrunde liegt, der von Knut Berner, Sebastian Lange und Werner Röcke herausgegeben worden ist. Als Ausdruck von Gewalt werden hier unterschiedlichste Phänomene behandelt: Naturereignisse, laute Musik, aggressives, literarisch provoziertes Lachen, die als Herrschaftsform konzeptualisierte Strukturierung von Semantiken und Wissensgebieten, Aggression und antisoziales Verhalten, aber natürlich auch unmittelbare zerstörerische phy-sische Einwirkung. Dem entspricht ein Themenbogen, der von kulturtheoretischen Analysen der Thematisierung von Katastrophenbildern (Jörg Trempler, 9–26), Musikdarbietungen extremer Lautstärke (Dörte Schmidt, 27–46) und mittelalterlicher Literatur (Werner Röcke, 47–62) über die systematisch-theologische Erörterung der Gewaltförmigkeit des Kreuzes (Knut Berner, 63–80), religionswissenschaftliche Überlegungen zu physischer, tödlicher Ge­walt im Kontext zeitgenössischer Religiosität (Hans G. Kippenberg, 81–111), Erwägungen zu epistemischer Gewalt im Zusammenhang der Bibel in gerechter Sprache (Ulrike Auga, 112–134), die historische Darstellung des Nährbodens der stalinistischen Gewaltexzesse (Jörg Baberowski, 135–163) und ein kriminologisches Plädoyer für die Ermöglichung von Verhandlungen mit Terroristen (Sebastian Scheerer, 163–190) bis zu psychologischen Analysen über die Entstehung von Aggressivität (Jens B. Asendorpf, 191–208) und die Konstruktion der Triebkategorie (Joseph Vogl, 209–222) reicht. All dies ist für sich genommen zweifellos interessant, doch fehlt ein systematisches Band, das die unterschiedlichen Beiträge in Beziehung zu setzen erlaubte, zumal eine begriffliche Analyse des Spektrums der verwendeten Gewaltkonzepte fehlt (und durch die knappen Bemerkungen K. Berners zum Gewaltbegriff, 68–69) nicht ersetzt werden kann: Wie epistemische Gewalt, die Ausübung oder Androhung physischer Gewalt, die Überwältigung als Mittel der Kunst, das Konzept der »Naturgewalt« oder Aggression zusammenhängen, bleibt weitgehend dunkel. Auch die Relation von »Faszination und Ordnung« der Gewalt wird an keiner Stelle kulturtheoretisch, soziologisch oder theologisch ausgelotet. Unbefriedigend ist zu­dem, dass der Band als Dokument einer Ringvorlesung, deren Ziel ausweislich der Einleitung der Herausgeber darin bestand, »Probleme der Gewalt als Probleme interdisziplinärer Forschung deutlich zu machen«, eher pluri- als interdisziplinär erscheint: Die Problemzugriffe unterschiedlicher Disziplinen und Fragestellungen stehen unvermittelt nebeneinander. Was im lebendigen Ge­spräch der Ringvorlesung gelungen sein mag, wird im Band, der an eini gen Stellen auch handwerklich nachlässig wirkt – so sind etwa die Sonderzeichen der mittelhochdeutschen Zitate im Beitrag W. Röckes (51–53) ausgefallen – so nicht mehr deutlich.
Auch die von Theodor Ahrens und Werner Kahl besorgten Aufsätze aus dem Umkreis der Missionsakademie der Universität Hamburg decken ein weites Spektrum von Themen ab, die inhaltlich allerdings durch die Thematik der ökumenischen Dekade gegen Gewalt verbunden werden und besonders den Kontext junger christlicher Kirchen fokussieren. Zudem setzt sich bereits der erste Aufsatz von Michael Biehl (13–35) mit dem Gewaltbegriff ausdrücklich auseinander, benennt die Spannung von engem und weitem Gewaltbegriff im Rahmen der Erörterung der Ökumenischen Erklärung zum gerechten Frieden (ÖRK 2011) und bietet so einen geglückten Einstieg in den Band. Werner Kahl sucht in einem exegetisch orientierten Beitrag (36–49) neutestamentliche Beiträge zur Gewaltthematik religions- und sozialgeschichtlich einzuordnen, um Kriterien für den legitimatorischen Bezug auf die Schrift entwickeln zu können. Den aktuellen Problembezug liefert Kahl im nächsten Aufsatz (50–66) gleich mit, in dem er sich mit spiritueller Gewalt in neopfingstlichen westafrikanischen Migrationsgemeinden beschäftigt. Es geht um Gebete zur »Umkehr« eines in Tötungsabsicht aus der Heimat abgesandten Schadenszaubers. Kahl sucht die Praxis entsprechend agierender Pastoren mithilfe einer Exegese einschlägiger synoptischer Exorzismuserzählungen kritisch zu reflektieren. Eine ähnliche Thematik verfolgt der Aufsatz von Nick Elorm (172–193) sowie der zu Hexereibeschuldigungen von Theodor Ahrens (126–153). Ebenfalls auf die Praktiken westafrikanischer Pfingstkirchen hebt Ernestina Novietos Beitrag (194–202) ab. Elorm beschreibt vorrangig Fälle von Machtmissbrauch durch die als unmittelbar durch den Geist inspiriert geltenden Pfarrer in charismatischen, westafrikanischstämmigen Migrationskirchen Deutschlands und regt eine genauere Prüfung der jeweiligen Praktiken in den Kontakten der traditionellen deutschen Kirchen mit diesen an. Novieto beschreibt den Befreiungsanspruch der stark von Frauen frequentierten charismatischen und pfingstlichen Kirchen Ghanas, wobei »Befreiung« hier vor allem auf satanische und dämonische Einflüsse zielt und einen Prozess impliziert, der die seelsorgliche Beratung (pastoral counsel-ing) durch in der Regel männliche Pfarrer regelmäßig einschließt. Novieto zufolge sind die Resultate ambivalent, weil neben Befreiungserfahrungen auch neue Abhängigkeiten und Missbrauch nicht selten seien; Lösungswege skizziert sie in der verbesserten Ausbildung und Supervision der Geistlichen, der Steigerung des Anteils von Pfarrerinnen und der Einrichtung von Anlaufstellen für Ge­schädigte.
Ahrens analysiert Hexereibeschuldigungen und Hinrichtungsbündnisse am Beispiel der postkolonialen Gesellschaft Neu-Guineas, deren kultureller Hintergrund das Amalgam christlicher und traditioneller Vorstellungen bildet. Auf dem Hintergrund sozialpolitischer, historischer und psychologischer Erklärungsmodelle entwickelt er pastoraltheologische Optionen zum Umgang mit den Betroffenen solcher Vorgänge – Anklägern und Beschuldigte –, die einen Mittelweg zwischen der Konfrontation des traditionellen lebensweltlichen Wissens mit wissenschaftlichen Denkmustern und der Übernahme und symbolischen Umdeutung entsprechender Vorstellungen suchen.
Der Überwindung der Gewalt dient auch die – ebenfalls von Ahrens stammende – theoretische Erörterung der religiösen Ge­waltunterbrechungsthese Hans-Martin Gutmanns (67–97), der ihrerseits ein konkretes Anwendungsbeispiel, wiederum im Kontext Papua-Neuguineas, folgt. Gutmann hatte gegen die These der Verbundenheit von Religion und Gewalt die friedensstiftende und verbindende Funktion von Religion durch Konzepte guter Reziprozität mit den theoretischen Mitteln von Mauss und Girard gabetheoretisch zu rekonstruieren gesucht. Ahrens erörtert nun erstens empirische Studien zum Konnex von Religion und Gewalt, die eher die religiöse Gewaltförderung thematisieren, um dann zweitens René Girards kritische Opfertheorie mit Roberto Calassos Betonung der bleibenden Bedeutung des Opfers zu kontrastieren und diese Opfertheologie drittens durch die Betonung der Bedeutung der freien und ungeschuldeten Gabe in der maussschen Tradition zu komplementieren. In dieser Richtung sieht Ahrens auch den produktiven Beitrag der gutmannschen These (85), die er dann in pastoraltheologischen und liturgischen Überlegungen konkretisiert, wobei Gott als »Quellgrund alles Guten, damit auch des ungezwungenen Gebens« (89) thematisiert wird, so dass die Perspektive auf das »Umsonst im sozialen Miteinander« (93) als kritischer Maßstab dienen kann, an dem sowohl die der Reziprozitätslogik verhafteten Missions- und Pfingstkirchen als auch die ökumenischen Beziehungsfelder selbst zu messen sind. Die praktische Reichweite der Vorstellung eines Gabentausches als Gewaltunterbrechung untersucht Ahrens dann paradigmatisch am Westlichen Hochland Papua-Neuguineas (98–125). Er schildert die Probleme der postkolonialen Gesellschaft im Übergang von traditionellen zu eigenständigen modernen Politik- und Sozialformen: Weil die mo­derne, »wilde Gewalt« eindämmende Vorstellung eines staatlichen Ge­waltmonopols von einem nicht fehlerfreien Exekutiv- und Jus­tizapparat beansprucht wird, der für die Problemperspektiven aus traditioneller Sicht systembedingt blind ist, haben sich Formen außergerichtlichen Konfliktmanagements ausgebildet, die auf der klas­sischen Gabentauschvorstellung basieren und auf Kompensation abheben, aber ihrerseits nicht gewalt- oder missbrauchsfrei sind. Am Fallbeispiel der Melpa Lutheran Church zeigt er, wie eine christliche Kirche in Anknüpfung an traditionale Formen als Vermittlerin der gewaltlosen Konfliktregelung Friedensarbeit leistet, indem sie »Foren und Interaktionsmuster gestaltet, in denen be­gründet darüber entschieden werden kann, in welchen Bereichen und zu welchem Grade die Logik der Gabe oder die Logik der Reziprozität gelten sollen« (121).
Mit kriegerischer Gewalt beschäftigen sich die Beiträge von Sabine Förster und Heinz Stobbe. Försters Beitrag (154–171) be­schreibt die Lage der Frauen im Nachkriegsliberia, die einerseits Opfer einer stark gestiegenen Gewaltbereitschaft werden und an­dererseits – als Ex-Kombattantinnen und ehemalige Täterinnen – Reintegrationsprobleme erleben, und zeigt heilsame Wirkun-gen christlicher Friedensbemühungen auf. Heinz-Günter Stobbe schließlich (203–218) weist im Licht des konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und die Integrität der Schöpfung sowie der Dekade zur Überwindung von Gewalt auf die Gefahr von ›Klimawandelfolgenkriegen‹ (210) hin, die sich an der Abwehr von Flüchtlingsströmen und an Kämpfen um Wasser und Nahrungsmittel entzünden könnten, und betont die Verantwortung der Christinnen und Christen zur Gewaltprävention durch die Aufklärung über Folgen des Klimawandels und die Bedeutung der Selbstbegrenzung. Insgesamt bietet der Band ein breites Spektrum spannender Beiträge, die die Untersuchungen zu Religion und Gewalt besonders durch ihren Fokus auf postkoloniale Zusammenhänge des Christentums bereichern.
Das letzte hier anzuzeigende Buch von James G. Williams, »Girardians. The Colloquium on Violence and Religion, 1990–2010« (Münster 2012), unterscheidet sich von den bisher besprochenen, insofern es nicht die Gewalt selbst, sondern den durch die mimetische Theorie René Girards inspirierten Diskurs über Gewalt zum Thema hat, wie er im Kolloquium über Gewalt und Religion ge­führt worden ist. Der Vf. des Werks, der langjähriges Mitglied des Kolloquiums war und während der ersten acht Jahre auch als sein Geschäftsführer ( executive secretary) fungierte, rekapituliert die Entstehungsgeschichte der vorwiegend römisch-katholisch be­setzten Forschergruppe um Raymond Schwager, Wolfgang Palaver, Charles Mabee, Williams selbst und andere, bietet die Lebensläufe wichtiger Mitglieder und zeichnet am Leitfaden der Treffen des Kolloquiums, deren formale und inhaltliche Verläufe jeweils knapp geschildert werden, die thematischen Entwicklungen und Auseinandersetzungen um Girards Theorie nach, so dass das Werk zwischen wissenschaftshistorischer Darstellung und Autobiographie changiert und so vor allem für jene fruchtbar sein dürfte, die an der Wirkungsgeschichte von Girards mimetischer Theorie und der Wissenschaftsgeschichte seiner Auslegung interessiert sind.