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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

750–752

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Heymel, Michael, u. Christian Möller

Titel/Untertitel:

Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Glauben und Denken Sören Kierkegaards am Beispiel seiner Reden.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2013. 246 S. m. Abb. Kart. EUR 29,20. ISBN 978-3-290-17698-3.

Rezensent:

Johannes Block

Aus Anlass des 200. Geburtstages von Sören Kierkegaard führt der Band in dessen »Glauben und Denken« am Beispiel seiner Reden ein. Die insgesamt 14 Beiträge gehen auf zwei Vorlesungen zurück, die die Autoren – je auf ihre Weise langjährige Kenner der Werke Kierkegaards – an der Universität Heidelberg für Hörer aller Fakultäten gehalten haben (7). Im Mittelpunkt stehen die erbaulichen Reden, die in der Forschung häufig »unbeachtet« bleiben und in ihrer Bedeutung für das Verstehen von Kierkegaards Glauben und Denken »nicht erkannt« werden (7). Denn die erbaulichen Reden sind weit mehr als bloßes Beiwerk zu den weithin bekannten Schriften Kierkegaards wie Entweder-Oder, Der Begriff Angst oder Die Krankheit zum Tode. Sie verhalten sich zu den Schriften wie die Rhetorik zur Dialektik oder wie die Therapie zur Diagnose (35–37.171). Mit den erbaulichen Reden erreicht das Gesamtwerk Kierkegaards seinen rhetorischen und therapeutischen Ziel- und Höhepunkt, insofern der Einzelne auf sein Verhältnis zu sich selbst, zur Welt und zu Gott angesprochen und ausgerichtet wird. Die erbaulichen Reden führen ein in das »Wagnis, ein Einzelner zu sein« (Titel), der – einmal zu sich selbst gekommen – die »Widerstandskraft« gewinnt, »den trügerischen Schutz der Menge und des ›Meinungssuffs‹ [zu] verlassen« und sich in einer Epoche religiös zu beheimaten, der »die Leidenschaft des Denkens und des Glaubens abhandengekommen ist« (7 f.147). Die humane Frage, in Wahrheit Mensch zu werden (155 f.221 f.), und die polemische Stoßrichtung wider ein spannungsloses, gewohnheitsmäßiges Christentum (8.147) machen die Beschäftigung mit den erbaulichen Reden zu einem das eigene Selbst-Bewusstsein öffnenden wie angriffslus-tigen Vergnügen. Die Autoren greifen die Polemik in Kierkegaards Werken auf und beziehen sie in vielfältiger Weise auf die gegenwärtige Kirche und Gesellschaft: etwa im Blick auf den Reformprozess der evangelischen Kirche (55 f.73.119 ff.231 ff.) oder auf die Medien- und Spaßgesellschaft (72 ff.87 ff.159 f.234 ff.). Die Leidenschaft und das Vorurteil der Autoren klingen dabei immer wieder an, was im Rahmen von gehaltenen Vorlesungen sein Recht haben kann. Der Vorlesungscharakter wurde beibehalten, was der Lesbarkeit und Verständlichkeit entgegenkommt, aber aufs Buchganze gesehen nicht immer aufeinander abgestimmt wirkt (vgl. beispielsweise 216 ff. und 235 ff.).
Im Mittelpunkt des Bandes steht die Auseinandersetzung mit zehn ausgewählten erbaulichen Reden (45–214), die jeweils in einem »Dreischritt« (8) erfolgt: Wiedergabe »in gekürzter Fassung« (8), »Interpretation« und »Bezug zur Gegenwart«. Dabei wird eine Fülle von existentiellen, religiösen und kirchlichen Fragen berührt und ausgelotet: das Gebet (45–58), der innere Mensch (59–75), die Existenz des Einzelnen (76–91), die Sprache der Erbauung (92–108), die Sorge (109–122), die Gestalt der Kirche (123–142), das Christentum als Erzählgemeinschaft (143–160), die Seelsorge Jesu (161–177), das Lesen der Bibel (178–195), Gericht und Gnade (196–214). Die Lektüre bereitet vor allem dann existentielle und theologische Lust, wenn die Fragen des Lebens und des Glaubens einen frappierenden Zug ins Wesentliche gewinnen: etwa im Blick auf die Unterscheidung zwischen dem kindlichen und dem erwachsenen Beten (50 ff.), die Schwierigkeit, ein Einzelner zu bleiben (83 ff.), die religiöse Sprache (103 ff.153 ff.), die Macht und Ohnmacht des seelsorglichen Trostes (166 ff.) oder das nicht moralistische Verständnis von Sünde (15 f.33.122.171 f.).
Die Auseinandersetzung mit den erbaulichen Reden (45–214) wird gerahmt durch eine Einführung in das Leben und Werk Kierkegaards (11–44) und durch Beiträge zu »Kierkegaards Leben in der Spannung von Freude und Schwermut, Himmel und Hölle« (Klappentext) (215–240). Im Einzelnen ergeben sich wertvolle Ausführungen etwa zur »rätselhaft« (11) bleibenden Persönlichkeit Kierkegaards, zu dessen Selbstbezeichnung als »religiöser Schriftsteller« (13 f.37.43 f.), zur Methode der »indirekten Mitteilung« (16.31 f.), zu dessen Vorliebe für »Gleichnisse und Gleichniserzählungen« (23), zur »Kunst der Dialektik« (23 ff.), zu unterschiedlichen Textsorten im Gesamtwerk (34 ff.), zur philosophischen Vereinnahmung (30 ff.) und zur theologischen Wiederentdeckung Kierkegaards (33 f.43 f.), der »nicht als Philosoph, sondern als religiöse[r] Schriftsteller der Moderne« (43) und als »Prediger für Gläubige« (44) zu begreifen ist. Im Ganzen allerdings ist der Zusammenhang der beiden rahmenden Hauptteile mit den im Mittelteil interpretierten erbaulichen Reden nicht immer augenfällig. Die Annährungen an das Leben (11–27) brechen ohne Quintessenz und ohne besondere Bezüge zu den erbaulichen Reden ab. Vor allem der abschließende Hauptteil (215–240) bietet eher persönlich motivierte Deutungen seitens der Autoren denn bündelnde Schlussbemerkungen zur Sache der erbaulichen Reden.
Der Band ist ein anspruchsvolles und anregendes Lese- und Studienbuch. Die Autoren habe eine Textauswahl vorgelegt, die hilf-reiche Schneisen in das umfangreiche und teils auch unzugänglich wirkende Werk Kierkegaards schlägt. Dem Anfänger im Kierkegaard-Studium ist der Band nachdrücklich zu empfehlen. Der Kenner wird vieles dankbar repetieren, aber auch ins Nachdenken kommen über zentrale Grundeinsichten wie etwa die Neubewertung der erbaulichen Reden im Gesamtwerk, die Wiederentdeckung Kierkegaards als religiösen Schriftstellers oder die positive Würdigung von dessen literarisch-ästhetischem Ar­beitsstil (218–221). – Für weitere Auflagen, die dem Band angesichts seiner vielfältigen Auseinandersetzung mit den erbaulichen Reden zu wünschen sind, sollten folgende Beobachtungen Berücksichtigung finden:
a) Die ausgewählten Reden sollten in gleicher Schriftgröße wiedergegeben werden wie der übrige Fließtext. Das würde das Studium der Originaltexte ebenso erleichtern wie eine zitierfähige Einrichtung. Editorische Hinweise hätten dem Leser helfen können, die Auswahl und die Anordnung der abgedruckten Reden besser zu verstehen. Auch ein Überblick über den Forschungsstand hinsichtlich der erbaulichen Reden könnte hilfreich sein, um deren Neubewertung im Gesamtwerk besser einschätzen zu können.
b) So anerkennenswert das Anliegen erscheint, »von Kierkegaards Impulsen aus einen Bezug zur Gegenwart herzustellen« (8), so unbefriedigend wirkt die Ausführung. An mancher Stelle arbeitet der Bezug zur Gegenwart recht assoziativ (89 ff.119 ff.) oder greift Namen und Kontroversen auf, die bereits Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen (122: Andreas Gryphius; 136 ff.: Dietrich Bonhoeffer; 173 ff.: therapeutische Seelsorge), oder referiert Forschungsliteratur (103ff.153 ff.212 f.). Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob ein »hergestellter« Bezug zur Gegenwart einer belehrenden Nutzanwendung gleichkommt, die Kierkegaards sokratischer Methode der indirekten Mitteilung gerade zu widersprechen scheint. In den erbaulichen Reden geht es nicht um das Praktischwerden einer Doktrin, sondern um die Erhellung der »individuellen Situation« (67), die aus sich heraus um die Praxis weiß. So besehen müsste der Bezug zur Gegenwart nicht am Ende des gewählten Dreischritts stehen, sondern an dessen Anfang, um die vielfältige und verworrene Lebenserfahrung sodann mit Hilfe Kierkegaards zu erhellen.