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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

745–747

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Selderhuis, Herman J., Leiner, Martin, u. Volker Leppin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Calvinismus in den Auseinandersetzungen des frühen konfessionellen Zeitalters.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 196 S. = Reformed Historical Theology, 23. Geb. EUR 74,99. ISBN 978-3-525-55050-2.

Rezensent:

Harm Klueting

Im Vorwort dieses Bandes steht der Satz, »die Reformation« sei »mehr als nur ein Luther mit Umfeld« – ein Satz, den man in Deutschland tatsächlich aussprechen muss, während in der Schweiz – wo in der Deutschschweiz ebenso wie in der Suisse romande »reformiert« synonym mit »evangelisch« gebraucht wird und »reformé« dasselbe meint wie »protestant« – eher gesagt werden müsste, dass die Lutheraner auch zu den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und Gemeinschaften gehören. Der Band vereinigt die auf einer Tagung in Jena im Calvinjahr 2009 gehaltenen Vorträge, ergänzt um einen Beitrag von Robert Kolb, der – so das Vorwort – »schon veröffentlicht war, aber jetzt leichter zugänglich geworden ist«. Es handelt sich um den bereits zweimal – 1977 im »Journal of Modern History« und 1996 in Kolbs »Luther’s Heirs Define His Legacy. Studies on Lutheran Confessionalization« – veröffentlichten Aufsatz »Dynamics of Party Conflict in the Saxon Late Reformation. Gnesio-Lutherans vs. Philippists« von Kolb, von dem der Band mit »Die theologische Pilgerschaft von Viktorin Strigel. Vom ›gnesiolutherischen‹ Hoftheologe (sic!) zum ›calvinistischen‹ Professor« noch einen zweiten Beitrag enthält. Darüber hinaus bietet der Band acht weitere Aufsätze, von denen hier fünf herausgegriffen werden sollen – die übrigen drei stammen von Martin Leiner, Matthias Freudenberg und Wim Janse.
Volker Leppin behandelt unter dem Titel »Der calvinische Antichrist« Samuel Huber, der, aus Bern stammend, als reformierter Theologe und Kritiker der Prädestinationslehre Theodor Bezas be­gann, als Gegner der Prädestinationslehre des Abraham Musculus nach dem Berner Religionsgespräch von 1588 seines Heimatlandes verwiesen wurde und als »innerreformierter Dissident« (12) und konfessioneller Flüchtling nach Württemberg kam, die Konkordienformel unterschrieb und hier lutherischer Pfarrer wurde, um bald darauf als Professor nach Wittenberg zu gehen, wo es zum Streit mit Aegidius Hunnius um die Prädestination kam, der für Huber nach dem Torgauer Kolloquium von 1594 auch hier mit Entlassung und Landesverweisung endete. Leppin zeigt, dass Huber »in seinen theologischen Auffassungen ein […] hochgradiger Individualist« war, der »zu den Reformierten so wenig wie zu den Lutheranern« passte, aber »anders als etwa die Spiritualisten seiner Zeit, durchaus eine konfessionelle Existenz führen« wollte, woran er gescheitert sei (16). 1598 veröffentlichte er die Schrift »Wider den Abfall zum Calvinischen Antichrist« und wandte den Antichrist-Begriff auf den Calvinismus an, der innerhalb der wahren – lutherischen – Kirche den universalen Gnadenwillen Gottes verdunkele.
Friederike Nüssel lenkt den Blick auf den evangelischen »Übergangstheologen« – um an diesem Begriff festzuhalten – Johann Franz Buddeus, der in seinen Werken »reformiertes Denken konstruktiv rezipiert« und »neben der lutherischen und römisch-katholischen auch die reformierte Literatur systematisch erschlossen« (21), aber in der »ecclesia reformata« nicht weniger als in der »ecclesia romana« lediglich »depravierte Gestaltungsformen der göttlichen Bestimmung der Kirche« (22) gesehen habe. Nüssel stellt die auffällig positive Beurteilung Calvins durch Buddeus und sein Lob der Reformatoren der reformierten Seite für die Verteidigung der Kindertaufe und der Abwehr des Täufertums sowie seine Sympathie mit den reformierten Gegnern der doppelten Prädestination heraus, deren Position ihm bestätigt habe, dass »die Evidenz des universalen Bundeswillens Gottes auch in der reformierten Lehrbildung nicht habe vollkommen unterdrückt werden können« (27).
Irene Dingel stellt die Schrift »Pia et fidelis adminitio, scripta ad ecclesias Gallicas et Belgicas« des Lucas Osiander, eines Sohnes des lutherischen Nürnberger Reformators Andreas Osiander, von 1580 vor, die an die Reformierten in Frankreich und den Niederlanden gerichtet und anscheinend die einzige Schrift war, »die angesichts der innerhalb der Reichsgrenzen sich vollziehenden lutherischen Bekenntnisbildung den Versuch unternahm, einen Konsens mit jenen herbeizuführen, die sich von den Lehrverwerfungen der nunmehr zur Unterschrift vorliegenden Konkordienformel ganz offensichtlich betroffen fühlen mussten« (54), die er – ihrem eigenen Verständnis entsprechend – als Märtyrerkirchen apostrophier te und deren Opfer er an die Seite der Märtyrer der Alten Kirche rückte. Ohne von der Konkordienformel abzuweichen, vermied Osiander jede negative Konnotation der reformierten Lehren als calvinistisch oder zwinglianisch, machte aber deutlich, wo seiner Ansicht nach die Irrtümer lagen – nämlich vor allem in der Abendmahlslehre, während die Prädestinationslehre bei ihm deutlich im Hintergrund blieb –, die die Reformierten aufgeben müssten, um zur Einheit der reformatorischen Kirchen zu gelangen. Der irenische Ton, den Osiander anschlug und der »auf eine Rückführung der Irregeleiteten auf den Weg der Wahrheit zielte« (65), wurde auf der reformierten Seite als Täuschung verstanden, so von Lambertus Danaeus in seiner unter dem Titel »Ad insidiosum scriptum Lucae Osiandri« veröffentlichten Entgegnung. Dingel schließt: Es wäre »verfehlt, von einer verpassten Chance zu sprechen. Die Chance, einen Konsens zu erwirken, hatte es nie gegeben« (65).
Walter Sparn behandelt »Die fundamentaltheologische Fixierung des Anticalvinismus im deutschen Luthertum« oder – anders ausgedrückt – »die konfessionelle Selbstidentifikation des Luthertums« (128) mit ihrer Platzierung in einem »schroff exklusiven Gegenüber zum Calvinismus« (128). Er geht zunächst auf den dä-nischen lutherischen Hofprediger Hector Gottfried Masius und seinen »Kurtzen Bericht von dem Unterscheid der wahren Evan- gelisch-Lutherischen und der Reformirten Lehre« von 1704 ein. Masius argumentierte politisch und theologisch, stellte die Reformierten politisch als umstürzlerisch und unzuverlässig, die Lutheraner hingegen als der Obrigkeit treu ergeben und politisch nützlich hin und hob theologisch die »fundamental-Streitigkeiten« und hier vor allem »die harte Lehre der Praedestination« (130) hervor –, um sodann die lutherische Auseinandersetzung mit der reformierten Prädestinationslehre seit dem Consensus Tigurinus von 1549 nachzuzeichnen: von Tileman Heshus und Johannes Marbach über Aegidius Hunnius und den damals noch reformierten Kritiker Samuel Huber bis zu dem »Irenicum sive de unione et synodo Evangelicorum« des reformierten David Pareus von 1614, das – 1615 auch auf Deutsch erschienen – den Lutheranern »geistlichen Frieden« (140) vorschlug, bis zur Dordrechter Synode: Erst »der rabiate Umgang der Dordrechter (auch von deutschen Reformierten be­schickten) Synode 1618/19 mit den heterodoxen Arminianern veranlasste lutherische Theologen nicht nur, der arminianischen Prädestinationslehre große Nähe zu ihrer Erwählungslehre zu attestieren, sondern auch, diese nun ins Fundament ihrer konfessionellen Identität zu legen und sich so dem Calvinismus konträr gegenüberzustellen« (141).
Sparn geht sodann auf die Konstatierung »eines Fundamentaldissenses, d. h. eines Dissens, der nicht versöhnt werden kann« (142), bei Nicolaus Hunnius, einem Sohn des Aegidius Hunnius, in dessen »[Diaskespsis] theologica de fundamentali dissensu doctrinae Evangelicae-Lutheranae, et Calvinianae« von 1626 ein, dessen Sicht bis ins 18. Jh. – bis zu Jakob Carpov 1737 – wirksam geblieben sei, und gelangt zu der wichtigen Feststellung: »Die auf lange Sicht erfolgreiche Relativierung des fundamentaltheologischen Anti-calvinismus seit etwa 1690 verdankte sich nicht dem Calixt’schen Programm, sondern der Relativierung konfessioneller Differenz überhaupt im Rahmen pietistischer Zu­kunftsorientierung einerseits, der säkular-naturrechtlichen Toleranzforderung andererseits« (146).
Ärgerlich ist der – thematisch wichtige – Beitrag des Mitherausgebers Herman Selderhuis, »Wem gehört die Reformation? Das Reformationsjubiläum 1617 im Streit zwischen Lutheranern und Reformierten« – nicht wegen des Inhalts, sondern wegen der sprachlichen Form. Der niederländische Kirchenhistoriker mutet dem Leser ein Deutsch zu, das nicht nur Rechtschreibfehler – »Paralellen« (71) – und unsinnige Begriffsbildungen – »die friedliche Führungsform, wie sie von der Pfalz aus gehandhabt wurde« (71); »das die deutschen Reformierten auch zu den Bundesgenossen der Augustana gehören« (75) – aufweist, sondern Sätze, die nicht einmal als Stilblüten durchgehen können.
Drei Beispiele: »Ungeachtet dieser Erklärung von Pareus, bedeutete diese Vorgehensweise, worin ein eigener Eindruck von dem entsteht, was der Text sagt und dem Text selbst vorausgeht, ein wesentlicher Schritt zur Orthodoxie« (67); »gegenüber den katholischen Parteien, welche mit einer recht erfolgreichen Gegenreformationsbewegung beschäftigt waren« (71); »Als Antwort gibt er eine Übersicht der Gebiete und Jahreszahlen an, an denen sie wählten der Formula Concordia abzuschwören und zur reformierten Religion überzutreten« (73). Würde ein deutscher Autor ein solches Kauderwelsch auf Englisch zur Ver­-öffentlichung in den Vereinigten Staaten einreichen, er würde an jeder Peer Review scheitern.