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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

727–730

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, u. Uta Poplutz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Narrativität und Theologie im Johannesevangelium. M. Beiträgen v. D. Felsch, J. Frey, Z. Garský, M. Moser, U. Poplutz, M. Theobald u. R. Zimmermann.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2012. 240 S. = Biblisch-Theologische Studien, 130. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-7887-2579-2.

Rezensent:

Hans-Christian Kammler

Die in dem Aufsatzband veröffentlichten Beiträge gehen auf das erste »Colloquium Iohanneum« zurück, das am 3. und 4. Dezember 2010 auf Initiative der Herausgeber an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich durchgeführt wurde.
Am Anfang des Bandes steht ein von den Herausgebern gemeinsam verantworteter programmatischer Beitrag, der unter der Überschrift »Narrativität und Theologie im Johannesevangelium« in die Gesamtthematik des Colloquiums einführt (1–18). Durch eine knappe forschungsgeschichtliche Skizze (1–8) gelingt es Jörg Frey (Zürich) und Uta Poplutz (Wuppertal), die Komplexität der gegenwärtigen Johannesauslegung zu dokumentieren und zu­gleich die den Aufsatzband leitende Frage nach Narrativität und Theologie innerhalb der aktuellen Forschungslage zu verorten. Insbesondere zwei wesentliche Folgerungen ergeben sich aus der Forschungsgeschichte: 1. An die Stelle einer primär literarkritisch bzw. redaktionsgeschichtlich orientierten Lektüre des Johannesevangeliums tritt die synchrone Lektüre des Textes in seiner Ganzheit und damit die Wahrnehmung seiner Kohärenz auf narrativer wie auf theologischer Ebene. 2. Das vornehmliche Interesse hat nicht der historischen Rückfrage und Rekonstruktion zu gelten (der Zugriff auf Ereignisse der Vergangenheit ist, wie gerade die neuere ge­schichtswissenschaftliche Diskussion zeigt, prinzipiell nur in sehr gebrochener Form und notwendigerweise perspektivisch und se­lektiv möglich), sondern der theologischen Interpretation des Johannesevangeliums und des in ihm erhobenen Wahrheitsanspruchs. Diese theologische Interpretation hat freilich unter ständiger Berücksichtigung der narrativen Struktur des Johannesevangeliums zu erfolgen, da in ihm Theologie und Narrativität unauflöslich miteinander verwoben sind: »Im Unterschied zu Ansätzen, die im Evangelium vornehmlich dogmatische Wahrheiten finden wollten, führt der Blick auf die erzählerische Einbettung der Textpassagen zu einer wesentlich differenzierteren und perspektivenreicheren Sichtweise.« (12) In hermeneutischer Hinsicht suchen die Autoren Einsichten der neueren literaturwissenschaftlichen Theoriebildung und hier insbesondere der Rezeptionsästhetik aufzu nehmen. Im Blick auf die Bestimmung eines eindeutigen »Ur­sprungssinns« bzw. einer »intentio auctoris« sei Skepsis geboten (9); der Sinn eines Textes sei diesem »nicht einfach inhärent«, sondern werde – in durchaus unterschiedlicher Weise – »erst im ›Akt des Lesens‹ generiert« (10). Mit einer solchen rezeptionsästhetischen Perspektive harmoniere das Johannesevangelium ganz ausgezeichnet, da dessen Sprache »in ihren metaphorischen und symbolischen Dimensionen ausgesprochen offen für eine mehrdimensionale und plurale Lektüre« sei (11).
Der Aufsatz von Zbynĕk Garský (Bern) »Das erste Zeichen Jesu bei Johannes und seine zweite Bedeutung. Intertextualität und Allegorie in Joh 2,1–12« (67–101) stellt für mich im Blick auf die Themenstellung »Narrativität und Theologie« den innovativsten und anregendsten Beitrag des gesamten Bandes dar. Garský gelingt es zum einen, den enormen hermeneutischen und narratologischen Theorieaufwand für die theologische Erschließung eines zentralen johanneischen Textes fruchtbar zu machen, und zum anderen, an einem konkreten Textbeispiel zu verdeutlichen, wie eng der innere theologische Sachgehalt des Evangeliums mit seiner äußeren Erzählgestalt verzahnt ist. Das Johannesevangelium erweist sich so als »ein hochpoetischer Text«, der »auf mehrfache Lektüre angelegt ist«, und damit »als ein literarisches Kunstwerk« (89). Das besondere Interesse des Aufsatzes gilt der Frage, wie sich die »Intratextualität« (d. h. die »Relektüre« johanneischer Texte von anderen Texten des Johannesevangeliums her) und die »Intertextualität« (d. h. die »Relektüre« von außerjohanneischen, insbesondere synoptischen Texten her) auf die Bedeutung der Erzählung von dem Weinwunder in Kana auswirken. Hinsichtlich der Intratextualität misst Garský dem Text Joh 3,29 eine Schlüsselrolle zu: Joh 3,29 sei »eine Analepse, die den Modell-Leser zu einer Relektüre von Joh 2,1–12 einlädt und eine zweite (allegorische) Bedeutung der Erzählung etabliert«, der gemäß »in Wirklichkeit Jesus der wahre Bräutigam ist« (85 f.). Hinsichtlich der Intertextualität versucht Garský aufzuzeigen, dass der vierte Evangelist seine Erzählung auf dem Hintergrund von Mk 2,18–22 parr verfasst habe, weshalb sie »auch der moderne Exeget mit gutem Gewissen auf der synoptischen Folie lesen« dürfe (93).
So anregend die Ausführungen Garskýs auch sind, zwei kritische Anfragen drängen sich gleichwohl auf:
1. In hermeneutischer Hinsicht ist zu fragen, ob es unter rezeptionshermeneutischen Vorgaben überhaupt noch intersubjektiv kommunikable und von der wissenschaftlichen Interpretationsgemeinschaft kontrollierbare Kriterien gibt, um zwischen sachgemäßer und unsachgemäßer Textinterpretation und damit zwischen Ex-egese und Eis-egese zu unterscheiden. Ist der Raum möglicher Interpretationen hier nicht so weit und so unscharf, dass beim »Spiel der Interpretationen« (insbesondere auf der Ebene der Intertextualität!) der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet sind? 2. Eine zweite kritische Frage stellt sich im Blick auf die Unterscheidung zwischen einem »einfachen Modell-Leser, der nur das Johannesevangelium kennt«, und einem »versierten Modell-Leser, der auch die synoptischen Prätexte kennt« (100). Ganz abgesehen davon, dass eine solche Unterscheidung in eine nicht unproblematische Nähe zu einem Zwei- bzw. Mehr-Stufen-Christentum (mit seinen möglichen Folge-Unterscheidungen zwischen »exoterisch« und »esoterisch« bzw. zwischen »Pistis« und »Gnosis«) gerät, ist darauf zu insistieren, dass der Intratextualität der hermeneutische Vorrang gegenüber der Intertextualität zukommt, weil Texte primär aus ihrem unmittelbaren literarischen Kontext verstanden sein wollen.
Der Aufsatz von Dorit Felsch (Wuppertal) »Leben durch Hören. Rosch haSchana-Traditionen in Joh 5,19–30« (103–131) geht zu Recht von der Beobachtung aus, dass die Feste des jüdischen Kalenders den Aufbau des Johannesevangeliums prägen und ihn wie ein roter Faden durchziehen. Bei dem in Joh 5,1 erwähnten »Fest«, das im Zentrum der Überlegungen steht, sei nicht an ein einzelnes Fest zu denken, vielmehr spiele der Evangelist »mit der Assoziations- und Motivwelt mehrerer Feste« (109): in 5,19–30 werde auf das Neujahrfest (Rosch haSchana) verwiesen, in 5,31–47 dagegen auf das Wochenfest (Schawuot).
Zum Aufweis des Bezugs von 5,19–30 auf das Neujahrsfest beruft sich Felsch vor allem darauf, dass dieses Fest nach der rabbinischen Tradition mit der Gerichtsvorstellung und dem Thema »Tod und Leben« verknüpft und diese Thematik auch für den Abschnitt 5,19–30 prägend sei (112 ff.). Dieses Argument kann aber schon deshalb nicht überzeugen, weil in den angeführten rabbinischen Texten unter dem Gericht etwas ganz anderes verstanden wird als im Johannesevangelium. Während die rabbinischen Texte das endzeitliche Gericht als ein neutrales Geschehen mit einem doppelten Ausgang (Tod und Leben) begreifen, ist das Gericht in Joh 5,19 ff. streng negativ qualifiziert: Es meint das sich schon gegenwärtig in der Begegnung mit der Christusverkündigung ereignende Todes- und Verdammungsgericht, das ausschließlich die Nicht-Glaubenden trifft, während die an Christus Glaubenden mit diesem Gericht de­finitiv nichts zu tun haben (3,18; 5,24). Hinzu kommt, dass der Hauptakzent in 5,19–30 nicht auf dem negativen Gerichtsaspekt liegt, sondern auf der positiven Aussage, dass Jesus der Geber und Träger des ewigen Lebens und also der (Neu-)Schöpfer ist (5,21.26). Man wird deshalb im Blick auf die Ausführungen von Felsch urteilen müssen, dass die im Zeichen der »Intertextualität« herangezogenen rabbinischen Texte den johanneischen Text nicht erschließen, sondern zu verstellen drohen.
Der Ertrag des Aufsatzes von Ruben Zimmermann (Mainz) »Narra-tive Ethik im Johannesevangelium am Beispiel der Lazarus-Perikope Joh 11« (133–170) liegt nach meinem Urteil weniger auf exegetischer als vielmehr auf systematisch-theologischer und hermeneutischer Ebene. Zimmermann stimmt der in jüngerer Zeit von philosophischer und theologischer Seite erhobenen Kritik an einer (in der Nachfolge Kants) rein rational begründeten Prinzipienethik zu und nimmt die mit dieser Kritik einhergehende Wiederentdeckung des Gemeinschaft stiftenden Zusammenhangs von Erzählung und Ethik positiv auf. Die Frage nach der johanneischen Ethik wird so aus der prinzipienethischen Engführung befreit, die im Blick auf diese Ethik in der Neutestamentlichen Wissenschaft nicht selten zu sachkritischen Urteilen geführt hat. Auf diese Weise gelingt es zudem, die Frage nach der Ethik des Johannesevangeliums als Frage nach einer »Narrativen Ethik« zu stellen und in die Weite der johanneischen Erzählung zu rücken. Hat das Johannesevangelium gerade in seiner narrativen Gestalt ethische Relevanz, so dass »die Erzählung als Reflexionsform der Moral« gelten kann, dann muss »das Defizit an rational begründeter Ethik im vierten Evangelium […] nicht weiter beklagt werden, sondern erweist sich mit einem Mal als eine besondere Chance« (153). Durch die hermeneutische Einsicht, dass »der biblische Text nicht nur rezeptionsästhetisch zu mir, sondern auch inhaltlich von mir spricht«, wird »der hermeneutische Fokus von einer Ethik des Johannesevangeliums zu einer Ethik durch das und mit dem Johannesevangelium verlagert« (154).
Die Suche nach der in der Narratio des Johannesevangeliums enthaltenen »impliziten Ethik« (145) erscheint mir durchaus verheißungsvoll. Was Zimmermann selbst dazu in seinen exegetischen Ausführungen zu Joh 11 beiträgt, bleibt jedoch hinter dem Niveau seiner systematischen Überlegungen zurück. So muss etwa, um nur das zu nennen, die Auskunft, dass es sich bei dem Bekenntnis von 11,27 nicht um eine vollgültige Glaubensaussage der Martha handle (162 f.), schon von der Parallele 20,31 her als ausgeschlossen gelten.
Der abschließende Beitrag von Jörg Frey stellt die theologisch ge­wichtige Frage: »Was trägt die johanneische Tradition zum christlichen Bild von Gott bei?« (217–257). Frey zeichnet in knappen Strichen die johanneische Rede von Gott – die johanneische »Theo-logie« im engeren Sinn – nach und stellt dabei mit Grund heraus, dass Gott (der Vater) so wenig ohne Jesus (den Sohn) zu denken und zu glauben ist wie umgekehrt der Sohn ohne den Vater. Insofern kann im Blick auf das Johannesevangelium von einer »theolo-gischen Christologie« und einer »christologisierten Theologie« ge­sprochen werden (243). Frey betont zu Recht, dass der Evangelist den christologischen Streit mit dem zeitgenössischen Judentum nicht mit einer Subordinationschristologie zu entschärfen sucht, sondern im Gegenteil darauf insistiert, dass Jesus gottgleiche Würde zukommt (246). Die in 10,30 behauptete Einheit von Vater und Sohn gründet »in der gemeinsamen Teilhabe am göttlichen Wesen« (247). Bezieht man die pneumatologischen Aussagen des Johannes evangeliums (insbesondere die Parakletsprüche) in die Rekonstruktion der johanneischen Rede von Gott mit ein, dann wird deutlich, dass die johanneischen Schriften unter allen neutestamentlichen Texten diejenigen sind, »in denen sich trinitarisches Denken am dichtesten zeigt« (257). Insbesondere in diesem »proto-trinitarischen Denken« erblickt Frey den theologischen Ertrag der johanneischen Rede von Gott.
Am Ende meiner Rezension, die aufgrund des beschränkten Um­fanges nicht auf alle Aufsätze eingehen konnte, bleibt festzuhalten, dass dem Band aufs Ganze gesehen gelingt, was sich die beiden Herausgeber in ihrem Vorwort von ihm erhoffen: »die Diskussion um das Vierte Evangelium als ein literarisches Kunstwerk einerseits und als einen theologisch gewichtigen und wirkungsvollen Text andererseits [zu] fördern und voran[zu]treiben« (VI).