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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

725–727

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Felsch, Dorit

Titel/Untertitel:

Die Feste im Johannesevangelium. Jüdische Tradition und christologische Deutung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XIII, 344 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 308. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150888-2.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Die hier leider verspätet zur Anzeige kommende Untersuchung von Dorit Felsch wurde im Jahr 2010 am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. Betreuer der Arbeit war Friedrich Avemarie, der am 13. Oktober 2012 im Alter von nur wenig mehr als 50 Jahren verstarb. Wie wohl kein anderer der jüngeren Neutestamentlergeneration hatte Friedrich Avemarie in seinen Forschungen zum Neuen Testament und zum antiken Judentum seine einzigartige Kompetenz im Umgang mit den Quellen des rabbinischen Judentums mit einer reflektierten theologischen Position verbunden. Die Lücke, die sein Tod riss, ist auf absehbare Zeit nicht zu schließen. Die Arbeit von F. ist aber ein erfreuliches Hoffnungszeichen dafür, dass auch künftig neutestamentliche Exegese und Erforschung rabbi nischer Traditionsliteratur nicht völlig getrennte Wege gehen müssen.
Thema der Untersuchung sind die jüdischen Wallfahrtsfeste, die im Johannesevangelium, im Unterschied zu den Synoptikern, eine wesentliche, ja, strukturbildende Funktion für die Gestaltung der Jesuserzählung haben. Dass Jesus während seines öffentlichen Wirkens nach johanneischer Darstellung mehrfach zwischen Galiläa und Jerusalem hin und her wechselt, hat nicht bloß biographisch-historischen Wert, sondern verleiht der Erzählung eine theologisch zugespitzte Dramaturgie, die in der Ausgestaltung des »Todespessach« (ab Joh 11,55) weit über diejenige der Synoptiker hinausgeht. Aber auch schon die vorangehenden Aufenthalte Jesu in Jerusalem haben theologisch markanten Sinn, der sich über die traditionellen Festinhalte der jüdischen Wallfahrtsfeste erschließen lässt – so die These F.s: »Zahlreiche zentrale christologische Aussagen des Johannesevangeliums stehen im Kontext jüdischer Feste.« (1)
Dass die Bedeutung jüdischer Feste für die Christologie des Jo­hannesevangeliums in der Forschung bisher unterbelichtet blieb, zeigt ein kurzer Durchgang durch einschlägige Arbeiten seit etwa 1960 (9–20). Es folgt ein wichtiger methodischer Abschnitt, in dem F. ihren Umgang mit den rabbinischen Quellen offenlegt und begründet, dass und auf welche Weise es trotz der bekannten Datierungsprobleme möglich und sinnvoll ist, diese für die Interpretation neutestamentlicher Texte heranzuziehen (21–30). Nach einer weiteren methodischen Reflexion zum Stichwort »Antijudaismus im Johannesevangelium« (30–38) und einem knappen Überblick über Sinn und Form der jüdischen Wallfahrtsfeste (39–50) folgt in vier Hauptteilen das Korpus der Untersuchung. Nacheinander werden das »Fest der Juden« (Joh 5), Sukkot (Joh 7–9), Chanukka (Joh 10,22–39) und Pessach (Joh 2,13 ff.; 6,4 ff.; ab 11,55) abgehandelt. Immer werden dabei zunächst die literarischen Kontexte im Jo-hannesevangelium erhoben, daran anschließend die spezifischen Funktionen herausgearbeitet, die die jeweilige Festszene und das Verhalten Jesu auf dem betreffenden Fest für die narrative und theologische Darstellungskonzeption des Evangelisten haben, und dann, vorwiegend anhand rabbinischer Zeugnisse, aber soweit vorhanden auch mit Hilfe von frühjüdischen Quellen, die Festinhalte im Kontext des antiken Judentums erschlossen. Schließlich erfolgt eine eingehende theologische Interpretation der johanneischen Perikopen mit Schwerpunkt auf den christologischen Aussagen.
Am umfangreichsten ist das Kapitel zu Joh 5 (51–170), nicht nur, weil hier zunächst zu klären ist, um welches der Wallfahrtsfeste es sich bei dem »Fest der Juden« überhaupt handeln soll, sondern auch deshalb, weil Jesu Auftritt auf diesem Fest noch mit einer Sabbatheilung verknüpft ist, somit der christologische Tiefensinn der Perikope doppelt durch den Konflikt Jesu mit traditioneller jü-discher Festfrömmigkeit bestimmt wird. F. begründet die These, dass sich hier die Festinhalte sowohl des jüdischen Neujahrsfestes (Rosch haSchana) als auch des Wochenfestes (Schawuot) spiegeln, die beide vom Autor des Evangeliums gezielt miteinander verbunden worden sind, um Grundaspekte seiner Christologie zu entfalten. Schon in der jüdischen Überlieferung waren beide Feste darin miteinander verbunden, dass sie auf die Gottesbegegnungen Israels, das Hören von Gottes Stimme und den Empfang seines Leben schenkenden Wortes verwiesen, wie es in den Bundesschlüssen Gottes und seiner Gabe der Tora an Israel zum Ausdruck kommt. Johannes habe solche Erwartungen gezielt aufgegriffen und sie mit dem Auftreten der Person Jesu als des ewigen Gotteswortes verbunden.
Mit dem Sukkot-Fest (171–218) sind die johanneischen Bildworte vom lebendigen Wasser (Joh 7,37 f.) und vom Licht (Joh 8,12) verknüpft. Dies entspricht der Metaphorik, die auch nach jüdischer Überlieferung mit dem Laubhüttenfest verbunden war. Detailliert werden die Motive aus biblischen (Jes 48,21; 12,3; 44,3; Ez 47,1–12; Sach 14,8; Ps 78,16.20), frühjüdischen (Jub 16,20–31) und rabbinischen (BerR 70,8; mSuk 4,9; tSuk 3,3–18; mSuk 5,2–4 u. a.) Texten erhoben und für die Interpretation der johanneischen Aussagen fruchtbar gemacht. Auf dem Hintergrund solcher Überlieferungen erscheint Jesus im Johannesevangelium als »personifizierte[r] Ort der Gotteszuwendung« (211). Chanukka (219–245), das Tempelweihfest, steht in jüdischer Tradition mit der Licht-Metaphorik in Verbindung, hat aber vor allem den Tempel zum zentralen Fest-inhalt. Entsprechende Motive werden auch in der johanneischen Perikope 10,22–39 aufgegriffen bzw. assoziiert, mit der entscheidenden christologischen Pointe: »Jesus in Person ist für den vierten Evangelisten rechtmäßiges und wahres Heiligtum, in dem Gott begegnet werden kann und in dem dieser zu verehren ist. Das bedeutet dann aber auch, dass, indem seine Gegner Jesus steinigen wollen, nach johanneischem Verständnis sie diejenigen sind, die sich am Heiligtum Gottes vergreifen und es zu schänden beabsichtigen.« (231)
Relativ knapp geht F. am Ende auf Pessach ein (246–271), mit der nachvollziehbaren Begründung, dass dazu bereits relativ viel erarbeitet worden ist, aber darüber hinaus auch mit dem Ergebnis, dass von diesem Fest her vergleichsweise wenig Neues für die Haupt-these der Untersuchung abfällt. Freilich unterstreichen auch die das Passafest betreffenden Passagen, dass im Johannesevangelium die Festinhalte der jüdischen Wallfahrtsfeste keineswegs außer Kraft gesetzt sind oder gar ihr Ende proklamiert wird, wie es in einer zeitweise führenden Linie der Johannesforschung behauptet worden war (R. Bultmann, C. Dietzfelbinger). Freilich impliziert die exklusiv christologische Interpretation der Feste bei Johannes zwangsläufig einen Konflikt mit den Repräsentanten jüdischer Überlieferung, wie er in der narrativen Darstellung der Konflikte Jesu mit »den Juden« im Johannesevangelium exemplarisch ausgetragen wird.
Hier setzt die Sachdiskussion um die theologische Wahrheit der johanneischen Jesus-Darstellung ein, die von F. am Schluss (272–279), aber auch schon vorher passim, aufgenommen wird. Sie sollte ausgehen von dem wichtigsten Ergebnis der Arbeit: »Der johanneische Jesus wird durch sein Reden und Handeln auf den Festen als eben das Heil beschrieben, das Israel durch ihre Feiern erhofft und erfährt.« (272) Überzeugend nachgewiesen hat F., dass die Heilsgeschichte Israels im Johannesevangelium keineswegs ausgeblendet oder marginalisiert wird, vielmehr die theologische Basis bildet, auf der der Evangelist das Heilsgeschehen in und mit Jesus Chris­tus narrativ entfaltet. Zu wenig gewichtet erscheint mir aber in ihrer Interpretation der endzeitlich-endgültige Aspekt der johanneischen Christologie. Zwar sieht F. zu Recht, dass »der johanneische Jesus vielleicht als die Erfüllung der jüdischen Feste bezeichnet werden [kann], jedoch sicher nicht als ihre Überbietung oder Ablösung« (275). Allerdings kann nicht in Abrede gestellt werden, dass nach johanneischem Verständnis mit und durch Jesus die prinzipielle Wiederholbarkeit, die ja per definitionem zu einem je­den Jahresfestzyklus gehört, aufgehoben ist. Nach dem »Todespessach« Jesu können Christen eben nicht wieder und weiter Pessach feiern, sondern nur noch Ostern. Die Christen haben nicht den jüdischen Festkalender übernommen, sondern von Anfang an ihren eigenen, christologisch neu gefüllten an dessen Stelle gesetzt, und das Johannesevangelium hat dazu mit seiner Jesus-Darstellung theologisch maßgeblich beigetragen.