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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

718–721

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Heffelfinger, Katie M.

Titel/Untertitel:

I Am Large, I Contain Multitudes. Lyric Cohesion and Conflict in Second Isaiah.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2011. XVI, 328 S. = Biblical Interpretation Series, 105. Geb. EUR 127,00. ISBN 978-90-04-19383-3.

Rezensent:

Uta Schmidt

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Oosting, Reinoud: The Role of Zion/Jerusalem in Isaiah 40–55: A Corpus-Lingustic Approach. Leiden u. a.: Brill 2012. XIV, 314 S. = Studia Semitica Neerlandica, 59. Geb. EUR 131,00. ISBN 978-90-04-23298-3.


Nachdem sich die synchrone Analyse erzählender Texte in der Exegese des Alten Testaments inzwischen weitgehend etabliert hat, entstehen in den letzten Jahren zunehmend mehr Studien, die sich in ähnlicher Weise nicht-erzählenden Texten widmen. So auch die Arbeiten von Katie M. Heffelfinger und Reinoud Oosting: Beide entwickeln an Jesaja 40–55 eine literatur- bzw. sprachwissenschaftliche Herangehensweise, um auf diesem Wege zu einer neuen Lesart dieser Kapitel des Jesajabuches zu kommen. Das allein schon macht die Arbeiten lesenswert.
Heffelfingers Buch ist die überarbeitete Fassung ihrer Dissertation an der Emory University, Atlanta GA, betreut von Brent A. Strawn. Ihr Ziel ist eine umfassende Interpretation des gesamten Textzusammenhangs, ohne die vielseitigen und vieldeutigen Einzeltexte auf ein einziges Thema oder eine Aussage festzulegen. Aufgrund des poetischen Charakters, der schon früher in der Exegese gesehen wurde (s. Forschungsüberblick Kapitel 1 zu Muilenburg, Melugin, Clifford u. a.), wählt die Vfn. Methoden der Lyrikanalyse aus der Literaturwissenschaft, um sie auf die Deuterojesajatexte zu übertragen. Mit ihrer Ausgangsthese nimmt sie Form und Inhalt der Texte in den Blick: »My thesis is that Second Isaiah explores the tensions, emotions, and conflicts that are bound up in the notion of reconciliation between Yhwh and Israel. Through its particulary poetic features, Second Isaiah works to overcome its exilic audience’s hesitancy to accept its proclamation.« (33) Dieser Gegensatz zwischen dem Versöhnungswillen Jhwhs und Zweifeln an Jhwhs Vertrauenswürdigkeit ist das »unlösbare (intractable) Problem«, das den Dtjes-Texten zugrunde liegt. Mit Rosenthal und Gall geht die Vfn. davon aus, dass jede lyrische Sequenz und jedes lyrische Gedicht aus solch einem Problem entsteht, das im Text nicht ge­löst, sondern vielmehr ausgelotet wird. Die Texte haben dabei die Aufgabe, konfliktierende Kräfte und Spannungen im Gleichgewicht zu halten (67 ff.).
Dass es sich bei Jes 40–55 um lyrische Poesie handelt, zeigt die Vfn. in Kapitel 2 anhand von literaturwissenschaftlichen Definitionskriterien überzeugend auf: kein Plot, dafür weitgehend parataktische Struktur, Anredecharakter (»vocality«), »musicality«, die sich in den Texten in Form von Hymnen und Liedern sowie in Rhythmisierung äußert (53 f.); außerdem eine hohe tropologische Dichte bild- und metaphernreicher Sprache, oft emotional aufgeladen (»tropological density«; 54 f.). Das aus der modernen Literaturwissenschaft übernommene Modell der lyrischen Sequenz nutzt die Vfn., um die Gesamtkomposition und die Einzeltexte im Verhältnis zueinander zu beschreiben. Die Anordnung mehrerer lyrischer Gedichte zu einer lyrischen Sequenz ist demzufolge strukturell mit dem oben dargestellten Charakter der Gedichte selbst vergleichbar (59), so dass die Kriterien für lyrische Texte auch geeignet sind, Dtjes als absichts- und bedeutungsvolle Gesamtkomposition zu erfassen.
Die Kapitel 3 bis 5 der Arbeit entfalten wesentliche Aspekte dieser Bestimmung von Jes 40–55 als Lyrik. Kapitel 3 geht vom zentralen »unlösbaren Problem« aus: »The Problem of Comfort: Second Isaiah’s Rhetorical Environment and its Intractable Problem.« Die Vfn. verortet Jes 40–55 spätexilisch um 540 v. Chr. in Babylon (84 f.89) und erschließt aus dieser Situation die Spannung zwischen Trost und An­klage, die ihrer Meinung nach Dtjes insgesamt zugrunde liegt (93). – Hier halte ich eine Unterscheidung zwischen 40–48, für die dies zutreffen kann, und 49–55, die m. E. nachexilisch sind, für wichtig.
Die Besonderheit der parataktischen Struktur der Texte und des Zusammenhangs von Jes 40–55 insgesamt sowie die lyrische Einheit (»lyric unity«) von Dtjes behandelt die Vfn. in Kapitel 4. Bemerkenswert ist die Beschreibung der Eigenart der Texte in der Spannung von sehr kurzen Sequenzen, wenigen deiktischen Verknüpfungen und der dadurch entstehenden parataktischen Struktur einerseits (die Vfn. bezeichnet dies als zentrifugale Kräfte), und andererseits der Kohärenz, die durch thematische Linien, lexikalische Wiederholungen, vor allem aber durch die Stimme Jhwhs erreicht wird (zentripetale Kräfte). Diese Beobachtungen ermöglichen der Vfn. eine Interpretation von Jes 40–55, die deren Offenheit und teilweise auch Opazität erhält (und aushält) und dennoch zu substanziellen Aussagen über deren Inhalt kommt.
Die Stimme Jhwhs in ihrer Ambivalenz von Anklage und Trost steht im Zentrum von Kapitel 5. Hier nimmt die Vfn. unter dem Stichwort »tonality« vor allem die emotionale Qualität der Äußerungen der einzelnen Stimmen im Text in den Blick. Den Titel des Buches »I am large, I contain multitudes«, einem Gedicht von Walt Whitman entnommen, wählt die Vfn. im Hinblick auf diese Stimme Jhwhs. Mit dem Abschluss diese Kapitels hat die Vfn. die zentrale These ihres Buches endgültig formuliert/entwickelt: »The sequence’s intractable problem, the problem of whether or not re­conciliation will be possible given audience reluctance and grow­ing divine restiveness over that reluctance, comes to resolution with the definitive answer in Isa 54:1–17.« (269) Die Stimme Jhwhs stellt in diesem Prozess das einende, die lyrische Sequenz verbindende Moment dar, in dem die Spannungen in mehrfacher Hinsicht aufgehoben sind.
Auch wenn man Entscheidungen zu exegetischen Detailfragen im Einzelnen kritisch diskutieren könnte, hat die Vfn. mit dieser Studie einen überzeugenden Ansatz geliefert, um Jes 40-55 methodisch reflektiert als Ganzes und in seinen Einzeltexten zu erfassen. Die Stärke ihrer Herangehensweise liegt darin, dass sie die Polyvalenz der Texte bewahrt und dennoch zu einer konkreten Interpretation kommt. Für die Diskussion um die Methodik der alttestamentlichen Exegese hat die Vfn. mit dieser Untersuchung einen weiterführenden Beitrag geleistet.
Bei Oostings Werk handelt es sich um die überarbeitete Fassung seiner Dissertation von 2011 an der Vrije Universiteit Amsterdam. In den Kontext der Forschungsinteressen von deren »Werkgroep Informatica« (WIVU) ordnet er seine eigene Untersuchung ein. Der Vf. verfolgt mit der Arbeit zwei Ziele: Er will den Ertrag einer Untersuchung auf der Basis einer corpus-linguistischen Analyse (= CLA) erweisen und die Rolle Zions/Jerusalems in der literarischen Komposition von Jes 40–55 erfassen (2).
Grundlage der CLA ist die Analyse der linguistischen Struktur der Äußerungen in einem Textkorpus (hier Jes 40–55) im Kontext vergleichbarer linguistischer Konstruktionen, um so Regelhaftigkeiten und Ausnahmen zu erkennen und darauf aufbauend die Texte zu interpretieren (6). Entsprechend entwickelt der Vf. in Kapitel 1 sein Vorgehen: 1.) Die Untersuchung und Kategorisierung aller syntaktischen Muster mittels der Analyse von Valenzmustern, d. h. aller vorkommenden Kombinationen eines Verbs mit anderen Satzelementen (19). Diese Ergebnisse bilden die Basis für die Untersuchung der Syntax in den folgenden Textanalysen (24) und sind in den zwei Appendizes aufgeführt. 2.) Die Untersuchung der »discourse structure« aller Texte, in denen Zion/Jerusalem vorkommt. Dieser Schritt fußt auf der Prämisse des Vf.s, dass die Texte vor allem als Kommunikationsprozess aufzufassen sind (10). 3.) »Analysis of participants«, d. h. die Untersuchung der Position der im Text Beteiligten, welche sich in dieser Studie auf Zion/Jerusalem konzentriert. – In Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung auf diesem Gebiet stellt der Vf. einzelne Vertreter unterschiedlicher Zugänge zu Jes 40–55 vor (Rosenbaum, »A Functional Perspective«; Leene, »A Semantic Approach«; Korpel und De Moor, »A Structural Analysis«), diskutiert sie kritisch und schärft dabei das Profil seiner eigenen Herangehensweise.
Im Hauptteil untersucht der Vf. nach dem zuvor entwickelten Schema die zwölf Texte in Jes 40–55, die explizit oder mittelbar auf Zion/Jerusalem zu beziehen sind (Kapitel 2 Linguistic Analyses), und wertet sie anschließend im Querschnitt unter verschiedenen Perspektiven aus (Kapitel 3 The Participant Zion/ Jerusalem). Die Textanalysen präsentiert der Vf. nach einem einheitlichen Schema: Nach einer kurzen Einführung wird unter der Überschrift »textual hierarchy« die »discourse structure«, d. h. die Verteilung des Texts auf einander untergeordnete Ebenen dargestellt (62). Diese Auf-listungen sind leider unkommentiert, so dass sie nicht immer nachvollziehbar sind. Es folgt eine Diskussion der Syntax klärungsbedürftiger Stellen, darauf die »discourse analysis«, d. h. die Untersuchung von Sprechern und Adressaten im Text. Als letzter Schritt schließt sich eine Auswertung im Hinblick auf Zion/Jerusalem an.
Der Vf. entfaltet in der Analyse der Einzeltexte nach und nach die These, dass Zion und Jerusalem zwei verschiedene Frauengestalten bezeichnen (128.173 u. ö.) oder zumindest für zwei deutlich unterscheidbare thematische Linien stehen: die der Rückkehr der Exilierten nach Zion und die des Wiederaufbaus der Stadt Jerusalem (170). Auch deren Kinder lassen sich in zwei unterschiedliche Gruppen aufteilen: die Kinder Zions, die nach Zion eilen (s. 49,17 f.), und die Jerusalems, die nicht zur Stelle sind (s. 52,11 f.). Die Verbindung beider Linien wird in Jes 54 deutlich, wo die beiden Anliegen eng verknüpft sind: »Two Sides of the same coin« (Kapitel 3.3). Ich stimme dem Vf. zu, dass manche Texte (z. B. Jes 52 und 54) tatsächlich solche unterschiedlichen Deutungen Zions und Jerusalems zulassen und dass ein bewusster Einsatz der beiden Bezeichnungen an manchen Stellen anzunehmen ist. Doch überzeugt seine Argumentation an anderen Stellen weniger, da dort die parallelen Äußerungen zu Zion und Jerusalem sowie eine enge Verschränkung seiner thematischen Linien gegen eine Trennung sprechen (z. B. 41,27; 52,1–2).
Für die Interpretation von Jes 40–55 halte ich den methodischen Zugang der CLA, der auf exakte Kategorisierung und Einordnung Wert legt, nur für bedingt geeignet. Denn die Polyvalenz der Texte entzieht sich solch trennscharfer Analyse an vielen Stellen. Das gilt hinsichtlich des Inhalts auch für die Trennung der zwei thematischen Linien für Zion und Jerusalem: Die bildhaften und metaphorischen Aussagen in den Jesajatexten können dadurch in ihrer Mehrschichtigkeit nicht erfasst werden. Die Stärke der Arbeit liegt in der Darstellung des corpus-linguistischen Zugangs als Methode für die Exegese des Alten Testaments. Für alle, die sich um methodische Klarheit in synchronen Zugängen bemühen, bieten sich hier interessante Einblicke. Die detaillierte linguistische Analyse der Zion/Jerusalem-Texte in Jes 40–55 liefert eine Materialfülle, auf der andere aufbauen können.
Beide Veröffentlichungen setzten sich mit aktuellen Theorien aus der Sprach- und Literaturwissenschaft auseinander und bereichern durch ihre interdisziplinären Ansätze die Diskussion um die Weiterentwicklung der exegetischen Methodik für das Alte Testament. Die Verbindung diachroner und synchroner Zugänge in dieser Diskussion ist nicht ihr Thema, bleibt aber weiterhin eine Aufgabe für die alttestamentliche Exegese.