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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

510–511

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schratz, Sabine

Titel/Untertitel:

Das Gift des alten Europa und die Arbeiter der Neuen Welt. Zum amerikanischen Hintergrund der Enzyklika Rerum novarum (1891).

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2011. 562 S. = Römische Inquisition und Indexkongregation, 15. Geb. EUR 72,00. ISBN 978-3-506-77032-5.

Rezensent:

Benedikt Brunner

Der Erkenntnisfortschritt in der Erforschung der Geschichte der römischen Kurie ist in nicht geringem Maße von der Freigabe von Archivalien der päpstlichen Archive für die Benutzung abhängig. Dies zeigt die Studie von Sabine Schratz, die auf Grundlage ihrer Münsteraner Dissertation 2011 in der Reihe »Römische Inquisition und Indexkongregation« erschienen ist, auf eindrückliche Art und Weise. Beeindruckend ist vor allem die ungemein breite Quellengrundlage, die S., einschließlich erst seit einiger Zeit zugänglicher archivalischer Bestände, ausgewertet hat, wie auch ihre durchdachte und meist überzeugende Analyse der Quellen.

Nach einer ausführlichen Einleitung, die sowohl hinsichtlich ihres Umfangs wie auch des detaillierten Inhalts weit über das für eine Monographie übliche Maß hinausgeht, präsentiert S. drei Fragestellungen, die sie in ihrer Arbeit beantworten möchte. Erstaunlich ist, dies sei hier noch angemerkt, dass ihre Fragestellung erst nach einer 71-seitigen Einleitung expliziert wird. Diese Einleitung ist zwar, wie der Rest des Buches meist auch, gut geschrieben, allerdings ist der Rezipient nicht unbedingt in der Lage, die Zielsetzung ihres Inhalts angemessen zu antizipieren. In einem dann nur sieben Seiten kurzen Unterkapitel zu Fragestellung und Methode legt S. ihre Aufgabenstellung dar. Erstens sei die grundlegende Aufgabe ihrer Arbeit die Rekonstruktion dreier römischer Prozesse. Zweitens: Hierauf aufbauend will sie die Inhalte der Konflikte in Rom einerseits, in Nordamerika andererseits, analysieren und nach den »handlungsleitenden Motiven, tagespolitischen und programmatischen Rücksichtnahmen sowie doktrinären Fragestellungen« (73) fragen. Drittens schließlich untersucht sie, »wie die Prozesse die kuriale Positionierung in der sozialen Frage beeinflussten und ob Rerum novarum als direkte Antwort auch auf die Herausforderung von amerikanischer Seite zu lesen« (74) sei.

Ein erstes, äußerst umfangreiches Kapitel (77–210) erläutert die Relevanz der Knights of Labor, der wohl bedeutendsten Gewerkschaft in den USA im späten 20. Jh., und deren Beobachtung durch die Kurie und das amerikanische Episkopat. Das römische Lehramt hatte geheime Gesellschaften und Vereine, zu denen auch die Knights zählten, eindeutig verboten. Dennoch spaltete sich das amerikanische Episkopat in zwei Lager, die zu unterschiedlichen Bewertungen der Knights of Labor tendierten. In diesem Rahmen sind auch die folgenden Kapitel zu sehen. Kapitel 2 stellt den Priester und Sozialreformer Edward McGlynn und dessen Stationen der Auseinandersetzung mit dem römischen Lehramt von der Ermahnung bis zur Exkommunikation, respektive Häresie, in den Mittelpunkt (211–324). Dieser Prozess ist ebenfalls im engeren Vorfeld der Enzyklika Rerum novarum zu sehen. Nicht zu trennen sind die Differenzen, die das Verhältnis McGlynns mit dem kirchlichen Lehramt prägten, von seinem Enthusiasmus für die ökonomische Phi­losophie von Henry George, vor allem für dessen Idee eines single tax und dessen Kritik der Bodenrente. »Die Verurteilung der Lehre und Schriften von Henry George«, also die Verfahren vor der Indexkongregation und dem Sanctum Officium, stehen demnach im Mittelpunkt des dritten Kapitels. Zu kritisieren wäre, wie auch schon andernorts erwähnt (vgl. die Rezension von Michael Zöller in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 99, 2012, 255 f.), dass die Konturierung der Persönlichkeit Georges und seiner Ansätze nur sehr oberflächlich bleibt. Eine auch an anderen Stellen tiefergehende intellektuellengeschichtliche Analyse und Verortung hätte stellenweise weiterführende Ergebnisse hervorbringen können.

Das vierte Kapitel schließlich schildert das »Nachspiel«. Denn auch nach der Veröffentlichung von Rerum novarum 1891 beschäftigte sich das Sanctum Officium mit McGlynn und dessen Verteidiger Richard L. Burtsell. Diese Auseinandersetzungen dauerten bis 1905/06 an, als Burtsell endgültig seine Befürwortung der Thesen Henry Georges widerrufen musste, womit die amerikanischen Einflüsse auf die Diskussion der sozialen Frage in Rom zumindest zu einem vorläufigen Ende kamen. Die Beantwortung der oben vorgestellten Leitfragen gelingt S. insgesamt überzeugend.

S. versteht es geradezu meisterhaft, die Prozesse miteinander zu verweben und bis ins kleinste Detail theologische und kirchenrechtliche Argumentationen zu rekonstruieren. Dies bedingt stellenweise auch den Umfang einiger Textpassagen, die aber in der Anlage der Arbeit ihre Berechtigung haben. Bedauerlicher ist da schon, wie oben bereits angedeutet, dass die Analyse der intellektuellen Kontroversen und deren zeitgenössische Verortung in der Regel zu kurz kommen. In jedem Fall aber hat S. ein in vielerlei Hinsicht beeindruckendes Buch vorgelegt, das insbesondere hinsichtlich der Innen- und Binnenperspektive der Geschichte des römischen Lehramtes weitere Studien anregen wird.