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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

501–503

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kemnitzer, Konstanze Evangelia

Titel/Untertitel:

Glaubenslebenslauf-Imaginationen. Eine theologische Untersuchung über Vorstellungen vom Glauben im Wandel der Lebensalter.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 294 S. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03210-5.

Rezensent:

Friedrich Schweitzer

Diese Neuendettelsauer Habilitationsschrift von Konstanze Kemnitzer verfolgt ein Ziel, das sich mit drei Begriffen charakterisieren lässt: Lebenslauf, Imagination, Virtuosität. Untersucht wird, »wie der christliche Glaube sich selbst in seiner Verwobenheit mit dem menschlichen Lebenslauf als Ganzes und in seinen einzelnen Ab­schnitten zu verstehen vermag« (5), wobei dieses Verstehen nun als »Imagination« – als »bildliche Vorstellung« (24) – begriffen wird. Nach Auffassung der Vfn. stellt »jede wissenschaftliche Theorie das Ergebnis eines verdichtenden Imaginationsprozesses« dar (25). Die Diskussion der entsprechenden Bilder soll die praktisch-theolo­gische Fähigkeit für einen angemessenen (»virtuosen«) Umgang mit solchen Bildern steigern. Die Arbeit greift also die bislang eher mit dem Begriff des »Modells« geführte Diskussion über Darstellungen zu Religion in der Lebensgeschichte auf und versucht, sie mit Hilfe des Imaginationsbegriffs in einem ästhetischen Sinne weiterzuführen, wie es ihrem Verständnis von Praktischer Theologie als »ästhetischer Disziplin« (33) entspricht.

Von dieser Zielsetzung her erschließt sich die Arbeit in ihren fünf Hauptteilen. In einem Einleitungsteil (11–46) wird das Thema vorgestellt und werden die Grundbegriffe geklärt. Der zweite Teil, dem vom Umfang her das größte Gewicht zukommt (47–154), be­zieht sich auf »wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen« seit dem 18. Jh., die dann in der Gestalt eines »Bildpanoramas« gedeutet werden (141). »Alltagspraktischen« Vorstellungen ist der dritte Teil gewidmet (155–200), mit Schwerpunkt auf Geburtstagsgratulationen. Der vierte Teil thematisiert »historische Bildwelten« (201–242), ehe im letzten Teil der »virtuose Umgang mit Glaubenslebenslauf-Imaginationen« ins Zentrum treten soll (243–270).

Die Durchführung der Untersuchung in ihren verschiedenen Teilen kann hier im Einzelnen nicht wiedergegeben werden. Nur einige Fragen, die sich dem Rezensenten aufdrängen, können skizziert werden. Sie betreffen zunächst die Analyse der »wissenschaftlichen« Modelle zum Glauben im Lebenslauf. Hier schlägt die Vfn. vor, für den untersuchten Zeitraum seit etwa Mitte des 18. Jh.s (Rousseau steht dabei am Anfang) die Annahme einer »paradigmatischen Imagination« zu etablieren, die sie in die Formel fasst: »Der Mensch entwickelt sich wie die Menschheit« (47). Dies wird im Weiteren dann vor allem als »biogenetisches Gesetz« beschrieben (etwa 56), das also nicht erst – wie in der Literatur sonst (aus gutem Grund) angenommen – seine Wirkung ab etwa der Mitte des 19. Jh.s entfaltet hätte, sondern sich schon bei den früheren Autoren (Rousseau, Herder, Schleiermacher) fände. Im Einzelnen diskutiert werden besonders religionspsychologische Modelle des 20. Jh. (W. Gruehn, J. Piaget, E. H. Erikson) sowie die für die Gegenwart be­zeichnende Auseinandersetzung mit solchen Modellen. Ob es tatsächlich als stimmig gelten kann, alle diese Darstellungen vom »Paradigma« des »biogenetischen Gesetzes« geleitet und bestimmt zu sehen, erscheint dem Rezensenten eine zumindest offene Frage. Denn wie auch die Interpretation der Vfn. erkennen lässt, unterscheiden sich die Auffassungen schon der genannten Autoren doch durchaus erheblich und ist nicht davon auszugehen, dass im »biogenetischen Gesetz« ein gemeinsamer Nenner gefunden werden kann, der sie alle miteinander verbindet. Überzeugend hingegen ist der Versuch, das »Bildpanorama« nachzuzeichnen, das den Theorien – innerhalb des angenommenen »Paradigmas« – im genannten Sinne zugrunde liegt. In »sechs Bildtypen« (142 ff.) lasse sich das Panorama verdichten: »dreistufiger Podestbau«, »Baum«, »Treppenbogen«, »geschichtetes Diagramm«, »Spirale« und »korallenartiges Geäst«.

»Alltagspraktische« Vorstellungen, Thema des dritten Teils der Arbeit, werden anhand von Geburtstagsgedichten aus dem Internet erschlossen. Hier werden »Ambivalenzen« erkennbar, die sich als »lebensrelevante Spannungsfelder« verstehen lassen (191), wobei allerdings zu bedenken wäre, dass bei dem gewählten Vorgehen nur Textprodukte untersucht werden (können) und also nicht beispielsweise die biographischen Kontexte, auf die sie sich beziehen. Die Vfn. zieht aus ihren Befunden den Schluss, dass sich die Praktische Theologie jedenfalls nicht auf »dynamisch-lineare Bilder« beschränken dürfe, wenn sie nicht an »einer großen Zahl profaner Vorstellungen vom Glaubenslebenslauf« vorbeigehen will (200).

Die Aufnahme »historischer Bildwelten« (Teil IV) bezieht sich nun ausdrücklich auf »vormoderne« Vorstellungen (201). Ihre Me­thode bezeichnet die Vfn. hier als »mediävistik-kunsthistorisch gestützte heuristische Interpretation« (202). Bei der Bildanalyse findet die Vfn. »ontologisch-metaphysische und aristotelisch-to-pische Ordnungshierarchien«. Die (Bild-)Autoren sortieren demnach ihr Thema »nicht in die Abfolge einer dem Erforschten selbst innewohnenden Genetik« (204), was den entscheidenden Unterschied zu neuzeitlichen Darstellungen ausmache. Die – sehr knapp gehaltenen – Bildinterpretationen werden in der These zusam­men­gefasst, dass hier die »Lehre einer als gesetzt anerkannten Schöpfungsordnung« greifbar werde (239).

Den eigentlichen Ertrag für die Praktische Theologie findet die Vfn. (Teil V) in dem Versuch, »ein spezifisch ›ästhetisches Denken‹ im Blick auf Glaubenslebenslaufmodelle zu entwickeln« – als Grundlage der angestrebten »praktisch-theologischen Virtuosität« (243 f.). Dazu werden verschiedene Vorstellungsbilder thematisiert, jeweils in der polaren Spannung von »Ästhetik« und »Anästhetik«, als Darstellung eines »Repertoires von Glaubenslebenslauf-Imaginationen« (»separierende«, »individualisierende«, »fragmentierende«, »relativierende«, »zentrierende« und »determinierende« Bilder, 243 ff.). Als Konkretion und Abschluss wird eine Darstellung zum »generationenübergreifenden Abendmahl« geboten, gehalten in der Form einer »Etüde«, was noch einmal die ästhetische Ausrichtung der Untersuchung illustrieren soll.

In der Darstellung wird immer wieder deutlich, dass die Vfn. die größte Herausforderung in der Vorstellung eines »biogenetischen Gesetzes« mit linearen Entwicklungsverläufen sieht. Geradezu dramatisch formuliert sie: »Religionspädagogik und Theologie stehen am Scheideweg« (140). Sie sollen sich entscheiden und sich vom neuzeitlichen Erbe der »phylo- und ontogenetischen spirituellen Entwicklung« verabschieden (141). Auch wer beispielsweise der alternativ diskutierten »Transpersonalen Psychologie« (Ken Wilber, 136) und der Idee »spirituellen Wachstums« nicht ohne Weiteres zuzustimmen vermag, wird dem – freilich nicht mehr ganz neue n– Plädoyer für eine Modellvielfalt im Blick auf Religion in der Lebensgeschichte zustimmen können. Allerdings berücksichtigt die Vfn. bestimmte Diskussionslagen nicht (um nur ein Stichwort zu nennen: die »Verleugnung des Kindes« in der evangelischen Pädagogik), weshalb auch nicht deutlich wird, warum es unerlässlich bleibt, nicht nur »generationenübergreifend« zu denken, sondern auch nach Möglichkeiten zu fragen, Kindern und Jugendlichen mit ihren besonderen Weltzugängen gerecht zu werden. Eine praktisch-theologische »Virtuosität« wird nur überzeugen, wenn auch diese Perspektive einbezogen wird.