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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

478–480

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ligniez, Annina

Titel/Untertitel:

Das Wittenbergische Zion. Konstruktion von Heilsgeschichte in frühneuzeitlichen Jubelpredigten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 336 S. = Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 15. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-03090-3.

Rezensent:

Andres Straßberger

Die Arbeit wurde im Sommersemester 2011 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen. Entstanden ist sie im Rahmen des von K. Tanner, J. Ulrich und U. Sträter geleiteten DFG-Projektes »Der Geist der Zeiten in den nachreformatorischen Ju­belfeiern«. Die Studie gliedert sich in einen Einleitungsteil (13–40), drei materiale Kapitel (1. Die Entwicklung und Konsolidierung des Wittenbergischen Zions von den Anfängen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts [43–160]; 2. Die Bewahrung und Weiterentwick­lung der heilsgeschichtlichen Geschichtskonstruktion im 18. Jahr­hundert [163–232]; 3. Der Niedergang des Wittenbergischen Zions im 19. Jahrhundert [235–270]) und ein Resümee (271–279). Ein An­hang mit Biogrammen (281–296), die üblichen Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie ein Orts- und Personenregister runden die Studie ab.

In den einleitenden Überlegungen gelingt es der Vfn. leider nicht, eine klare theologisch-historische Fragestellung zu entwi-ckeln und diese methodisch zu operationalisieren. Der Untertitel des Buches suggeriert, dass es um »Konstruktion von Heilsgeschichte in frühneuzeitlichen Jubelpredigten« geht. Doch finden sich nirgendwo substantielle Überlegungen zum frühneuzeitlichen Geschichtsbewusstsein, Zeitverständnis sowie darauf ge­richteten Konstruktionsbedingungen und -mechanismen. Die in diese Richtung zielenden Ausführungen zu »Geschichtsschreibung oder Gedächtnisdiskurs?« (32–34) müssen als unzureichend eingeschätzt werden. Sie gewinnen zudem keinerlei konzeptionelle Relevanz. Gleiches gilt von den sparsamen Ausführungen zur Theorie des kulturellen Gedächtnisses bei M. Halbwachs und J. Assmann (19 f.). Zwar versucht die Vfn., ihr Thema in der Einleitung predigt- (24 f.) und zeithistorisch (26–32) zu kontextualisieren, jedoch erfolgen die entsprechenden Ausführungen so allgemein und unspezifisch, dass sie für die Textinterpretation nur unzureichende Aussagekraft gewinnen.

Wenn die Vfn. ihr Vorgehen hingegen als »eine vorrangig theologisch geleitete Analyse der Ausdrucksgestalten der Reformationserinnerung« (15) ausweist, so hat sie damit noch nichts über ihr methodisches Vorgehen gesagt. Die an lutherisches Gottesdienst- und Abendmahlsverständnis orientierten Ausführungen zur »Erinnerung als elementare Kategorie des Glaubens« (17 f.) haben überwiegend praktisch-theologischen Charakter, was zwar ein möglicher Zugriff auf das Thema gewesen wäre, den die Vfn. dann aber hätte konsequenter ausformulieren müssen. Stattdessen erwecken die Ausführungen stellenweise den Eindruck, als lehne sich das Vorgehen an das Methodenarsenal der historisch-kri-tischen Exegese an (21: »diachrone Analyse«; 35: »diachrone Studien«; 36: »diachrone Herangehensweise«; 21 f.: »Intertextualität der Predigten«), was aber ohne methodische Stringenz erfolgt. Sofern es in der Arbeit daher um eine »motivgeschichtliche Herangehensweise« (15) gehen soll: Wäre es dafür nicht notwendig gewesen, das Motiv des »Wittenbergischen Zion« systematisch, im Kontext anderer, ähnlich gelagerter Zuschreibungen (»Evangelisches«, »Luthe-risches«, »Sächsisches«, »Meißnisches«, »Hamburgisches Zion« etc.) zu analysieren? Gewiss: Der Fokus der Untersuchung hätte dann über Wittenberg hinaus ausgeweitet, der Untersuchungszeitraum möglicherweise aus arbeitsökonomischen Gründen eingeschränkt werden müssen. Gleichwohl wäre es auf diese Weise möglich gewesen, das Allgemeine und das Besondere in der rhetorisch-homile-tischen Konstruktion des »Wittenbergischen Zion« transparent zu machen. So aber tragen die diesbezüglichen Aussagen überwiegend zufälligen bzw. thetischen und generalisierenden Charakter.

Darüber hinaus muss das Quellentableau als selektiv und unvollständig bezeichnet werden. Projektbedingt liegt der Fokus auf Jubelpredigten anlässlich der Wittenberger Universitätsjubiläen 1602, 1702 und 1802 sowie der Reformationsjubiläen 1617, 1667, 1717, 1767 und 1817. Die entsprechenden Texte sind – soweit überliefert – vollständig analysiert. In einem Exkurs werden außerdem, durchaus nachvollziehbar, die Musterpredigten des Dresdner Oberhofpredigers Matthias Hoë von Hoëneggs (1617) einbezogen, allerdings ohne tiefergehende Analyse ihres historischen Kontextes. Ohne Bezug auf ein Reformationsjubiläum sind die acht Predigten Caspar Schmidts (1640), anhand derer der Eingang der »spezifisch Wittenbergischen Konstruktion der Heilsgeschichte« ins kollektive Gedächtnis der Gemeinde nachgewiesen werden soll (141–148, vgl. 274). Gänzlich zufälligen Charakter haben sodann zwei Reformationsfestpredigten Johann Georg Neumanns (1695, 1698), denen ein eigenständiges Teilkapitel gewidmet ist (148–153). In einem weiteren Exkurs kommen zwei Gedächtnispredigten aus Anlass des 200. Todesjahres Luthers in den Blick (212–220). Warum hier die Predigt Christian Friedrich Bauers (Das Ehren-Gedächtniß des seligen Vaters Lutheri […] Wittenberg 1746) übergangen wurde, erschließt sich dem Rezensenten nicht. Keinerlei Bezug zu einem Refor­-mationsjubiläum haben schließlich auch die zwei nach der Zerstörung der Schlosskirche und der Thesentür im Jahr 1760 gehaltenen Predigten (220–225). Insofern ist der Titel der Arbeit (»[…] in Jubelpredigten«) ungenau.

Bei einem derart umfangreichen Untersuchungszeitraum, wie ihn die Arbeit zum Gegenstand hat (1602–1817), kann es nicht ausbleiben, wenn die Vfn. über die kirchen- und theologiehistorischen Hintergründe der von ihr behandelten Sach- und Aussagezusammenhänge nicht gleichmäßig gut orientiert ist. Etliche Anspielungen und Bezüge in den untersuchten Texten werden missdeutet oder bleiben unerkannt, wie z. B. der Hinweis Salomon Gesners auf die mit »dem Namen ›Philipps‹« (64) verbundene kryptocalvinis­tische Phase der Leucorea (dementsprechend fehlt im Orts- und Personenverzeichnis [Melanchthon] auch ein Hinweis auf diese Stelle). Ä. Hunnius bedient sich für seine Jubelpredigt nicht der allegorischen Predigtweise (29), sondern der typischen (vgl. J. A. Steiger: In Figura: die geistlich-figürliche Auslegung der Heiligen Schrift und im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Ders.: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben: Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Leiden 2002, 145–216, bes. 201–208). Nicht nur im Falle Hunnius’ hätte es die Predigtinterpretationen befruchten können, sich mit der einschlägigen Theologie der jeweiligen Prediger zu befassen (z. B. Markus Matthias: Theologie und Konfession: der Beitrag von Ägidius Hunnius [1550–1603] zur Entstehung einer lutherischen Konfessionskultur. Leipzig 2004). Das sogenannte Merseburger Religionsgespräch zwischen V. E. Löscher und den Halleschen Theologen (1719) brachte keine Annäherung von Pietismus und lutherischer Orthodoxie (166), sondern führte vielmehr zum vollständigen Bruch (M. Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang: V. E. Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie. Witten 1971, 308–317). Ebenso wenig kann man die Einführung der Reformation in Wittenberg im Jahr 1525 zugleich für das albertinische Kursachsen behaupten (163). Die Bezeichnung Augusts des Starken als »Kurfürstenkönig« (275) ist unüblich.

Wie bereits angedeutet, klaffen in der Verarbeitung der Quellen- und Sekundärliteratur erhebliche Lücken. Über die genannten Desiderate hinaus bleibt es unverständlich, warum die thematisch einschlägige, zweimal aufgelegte, 800-seitige Publikation des Wittenberger Theologen Christoph Heinrich Zeibich (Das besondere Auffsehen Gottes auf sein erwehltes Lutherisches Zion. Leipzig 1718; 2. Aufl. 1727 u. d. T.: Die nöthigen Gründe jetziger Zeit wider das Papstthum. Leipzig 1727) nicht herangezogen wurde. Ebenso kann der Rezensent nicht verstehen, warum die »Wittenbergische Jubel-Geschichte« Christian Siegesmund Georgis, die anlässlich des 200. (nicht: 250.) Jubiläums des Augsburger Religionsfriedens 1756 (nicht: 1755) im Druck erschien und die den Zweck verfolgte, die »[z]um Preise des dreyeinigen Gottes, und zur Erweckung des Evangelischen Zions« in Wittenberg begangenen Feierlichkeiten zu beschreiben, nur beiläufig erwähnt (221 ohne explizitem Titelnachweis), nicht aber weiter analysiert wird. Unberücksichtigt geblieben ist auch ein Beitrag von Ernst Koch, der inhaltlich relevante Beziehungen zum Thema der Arbeit aufweist (E. Koch: »Zion im Feyerkleide«: die Festlichkeiten des Jubiläums des Augsburger Religionsfriedens im Jahre 1755 in Thüringen. In: Der Augsburger Religionsfrieden: seine Rezeption in den Territorien des Reiches, hrsg. von G. Graf u. a. Leipzig 2006, 165–179).

So muss resümiert werden, dass der thematisch interessanten Studie vor allem eine gründliche methodische Reflexion gutgetan hätte. Da die Arbeit zudem etliche handwerkliche Mängel aufweist, ist ihr genereller Nutzen für eine an religiöser Fest- und Erinnerungskultur interessierte Frühneuzeitforschung als eher gering einzustufen. Dem gegenüber steht der potentielle Gewinn, den ein fachkundiges Publikum insbesondere aus der Lektüre der referierten Quellen ziehen kann.