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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

460–463

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nikolakopoulos, Konstantinos

Titel/Untertitel:

Das Neue Testament in der Orthodoxen Kirche.Grundlegende Fragen einer Einführung in das Neue Testament.

Verlag:

Berlin u. a.: LIT Verlag 2011. 317 S. = Lehr- und Studienbücher Orthodoxe Theologie, 1. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-10869-2.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Seit 1995 besteht an der Ludwig-Maximilians-Universität München eine wissenschaftliche Ausbildungseinrichtung (vorher seit 1984 Lehrstuhl bzw. Institut) für Orthodoxe Theologie, die derzeit der Katholisch-Theologischen Fakultät angegliedert ist. Sie bietet Studiengänge zum Diplom, zur Promotion sowie im Nebenfach an und kooperiert in Lehre und Forschung sowie im Münchner »Zentrum für ökumenische Forschung« mit beiden Theologischen Fakultäten der LMU. Konstantin Nikolakopoulos, Autor des zu besprechenden Buches, ist Professor für Biblische Theologie an dieser Einrichtung und war bis 2011 ihr Vorsitzender. Mit dem hier vorliegenden Lehrbuch wird eine Reihe von »Lehr- und Studien­büchern Orthodoxe Theologie« eröffnet, die für deutschsprachige orthodoxe Studierende bestimmt ist. In Anbetracht der nicht zu unterschätzenden Präsenz orthodoxer (insbesondere griechischer, russischer, rumänischer, serbischer und bulgarischer) Kirchen und Gemeinden im deutschsprachigen Raum kann man dieses Unternehmen zur akademischen Ausbildung von orthodoxen Geistlichen, Religionslehrern und Katecheten nur begrüßen und wird es mit hoher Aufmerksamkeit und in ökumenischer Verbundenheit begleiten.

Das Lehrbuch lässt sich am ehesten mit Einführungen in das Neue Testament vergleichen, wie sie derzeit in größerer Zahl von evangelischen und katholischen Autoren bzw. Herausgebern vorliegen. Den Anspruch einer »Einleitung« im klassischen Sinne, also einer wissenschaftlich begründeten Gesamtdarstellung zu den neutestamentlichen Schriften mit philologischen, historischen, literargeschichtlichen, textkritischen und kanongeschichtlichen Schwerpunkten, erhebt das Buch nicht. Geboten werden vielmehr in 15 Kapiteln einführende Überblicke zu Text- und Kanongeschichte, Sprache und ausgewählten Begrifflichkeiten zum Neuen Testament als Ganzem sowie ein Durchgang durch dessen einzelne Schriften. Am Ende steht ein »Exkurs« zur orthodoxen Hermeneutik in ihrem Verhältnis zur historisch-kritischen Methodik.

Teil I behandelt knapp den Begriff »Neues Testament« sowie Probleme und Epochen der Geschichte der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft und verzeichnet zahlreiche Einleitungswerke von orthodoxen Autoren. Teil II bespricht Grundfragen der Textgeschichte und Textkritik, angefangen bei der Handschriftenkunde über Methoden der textkritischen Beurteilung von Varianten und Texttypen der handschriftlichen Überlieferung bis hin zu den alten Übersetzungen und den Kirchenväterzitaten. Es folgen Teil III mit Ausführungen zur Kanongeschichte, auch unter Be-­rücksichtigung des Verhältnisses zwischen Altem und Neuem Testament, sowie Teil IV zur sprachlichen Eigenart der neutestamentlichen Schriften. Sehr knapp geht Teil V auf außerkanonische Schriften zum Neuen Testament und auf außerkanonische Jesuslogien ein.

Der Durchgang durch die Schriften des Neuen Testaments wird in Teil VI eingeleitet mit einem Überblick über die vier Evangelien. Dabei kommen neben der überlieferten kanonischen Reihenfolge auch die Bedeutung des Begriffs »Evangelium« sowie das Verhältnis der Evangelien zueinander und zu Jesus zur Sprache, und es wird kurz auf die seit Irenäus belegten und auf Ez 1,10; 10,14 zurückweisenden Symbole für die vier Evangelisten verwiesen. Die synoptische Frage wird hier nur erwähnt, später aber in einem eigenen Kapitel behandelt: Teil XI benennt das Ausgangsproblem von Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den Synoptikern in Stoff und Wortlaut und verweist auf Lösungsversuche, die schon seit der Zeit der Alten Kirche gesucht wurden. Anschließend werden die klassischen Lösungsvarianten der neuzeitlichen Bibelwissenschaft referiert, unter denen am Ende die Zwei-Quellen-Theorie, etwas missverständlich zu einer Vier-Quellen-Theorie erweitert (gemeint ist das Sondergut bei Matthäus und Lukas), favorisiert wird.

Die Kapitel zu den neutestamentlichen Schriften müssen hier nicht im Einzelnen besprochen werden. Sie folgen in der Regel einem gleich bleibenden Aufbau: Am Anfang wird das Profil der Schrift charakterisiert. Es folgt eine Zusammenstellung altkirchlicher und moderner orthodoxer Kommentare. Dann werden die altkirchlichen Zeugnisse zu den Verfassern gesammelt. Nach einer gegliederten Inhaltsübersicht werden historische Fragen zu Entstehung, Verfasserschaft, Adressaten, Zeit und Ort der Schriften sowie philologische bzw. literaturgeschichtliche Probleme behandelt. Eigene Berücksichtigung finden jeweils auch die theologischen Charakteristika der Schriften, ihr liturgischer Gebrauch in der altkirchlichen und heutigen orthodoxen Tradition und – speziell mit Blick auf die Synoptiker und die Apostelgeschichte – ihr Geschichtswert.

Die Kapitel zur Briefliteratur und zur Johannes-Offenbarung sind insgesamt deutlich kürzer als die zu den erzählenden Schriften. Beim Corpus Paulinum wird immerhin schon im einführenden Abschnitt (neben Bemerkungen zur Paulus-Biographie und zur Epistolographie) auch die Frage der Pseudepigraphie zur Sprache gebracht, die speziell mit Blick auf Epheser/Kolosser und die Pastoralbriefe sowie bei den Katholischen Briefen noch jeweils näher diskutiert wird. Hinsichtlich der Johannes-Offenbarung werden auch die Probleme der späten Kanonisierung der Schrift im Osten und orthodoxe Vorbehalte ihr gegenüber angesprochen.

Das eigenständige Profil des Lehrbuches besteht weniger in den darin vertretenen exegetischen und historischen Positionen, sondern eher in seiner Ausrichtung auf die Zielgruppe von Studierenden der Orthodoxen Theologie in einem westlichen akademischen Kontext im 21. Jh. Die damit verbundenen Herausforderungen liegen zum einen in der neuzeitlich-westeuropäischen Wissenschaftstradition akademischer Theologie mit ihrer seit der Aufklärung stark historisch-hermeneutischen Ausrichtung und ihrer vorwiegend idealistischen und individualistischen philosophischen Basis. Zum andern ergeben sie sich aus dem akademischen Kontext einer modernen europäischen Universität, in der die Theologie als Wissenschaft wenn überhaupt, dann nur wahrgenommen wird, wenn sie von sich aus das Gespräch mit anderen Disziplinen über den Kreis ihrer ›natürlichen Verwandten‹ wie Philosophie oder Klassischer Philologie hinaus sucht. Beide Herausforderungen sind für die orthodoxe akademisch-theologische Tradition, die bis heute weitgehend in innerkirchlichen institutionellen und oft auch spirituellen Kontexten verankert ist, neu.

Was die Rezeption historischer und philologischer Problemstellungen und Ergebnisse der modernen Bibelwissenschaft betrifft, so gibt sich das vorliegende Lehrbuch gemäßigt offen. Echtheits- und Einheitlichkeitsfragen zu einzelnen neutestamentlichen Schriften werden immer wieder angesprochen, altkirchliche Zeugnisse auch in ihrer bisweilen offen zutage liegenden Unsicherheit und Widersprüchlichkeit nicht von vornherein harmonisiert oder ignoriert, theologische und historische Spannungen, etwa zwischen den vier Evangelien oder zwischen den Paulusbriefen und der Apostelgeschichte, nicht verschwiegen. Bei dem brisanten Problem der Pseud­epigraphie entscheidet sich der Vf. in den Briefkorpora meist für eine ›Sekretärshypothese‹ (so bei Eph, Kol, Past), lässt aber beim 2. Petrus- und beim Judasbrief sowie bei den Johannesbriefen ge­genüber der kirchlichen Tradition deutlich seine Präferenz für eine kritische Beurteilung aus historischen Gründen erkennen. Anregend für Neutestamentler aller Konfessionen ist es, wenn solche historischen Fragen immer auch als theologische begriffen und unter Berücksichtigung verschiedener Antwortversuche der Kirchen- und Theologiegeschichte bedacht werden. Ein hermeneutisch naives sola scriptura führt in solchen historischen Fragestellungen ja nur zur Ausblendung der Vielfalt von Antwortmöglichkeiten, für die gerade die Kirchenväter nicht selten mehr Sinn hatten als manche modernen Exegeten.

Weniger überzeugend sind demgegenüber die Ausführungen zum Verhältnis zwischen orthodoxer Hermeneutik und historisch-kritischer Methode (Teil XV). Hier wird leider weithin mit einem ganz pauschalen Bild von »der« westlichen Kirche, Theologie und Exegese im Unterschied zu »der« Orthodoxie gearbeitet. Die Entgegensetzung eines westlichen Wissenschaftsbegriffs, der »im Großen und Ganzen analytisch [arbeite], während die östliche Schriftauslegung mehr einen synthetischen Charakter besitzt« (306), dürfte den großen theologischen Synthesen evangelischer Theologie im 16. oder in der ersten Hälfte des 20. Jh.s ebenso wenig gerecht werden wie etwa den Entwürfen scholastischer Theologie im Mittelalter. Die angebliche Gefahr westlicher Theologie, »dass die ausschließliche Gewichtung auf die Historizität den Horizont einer notwendigen Vergegenwärtigung des damals Geschehenen verschwinden lassen kann« (305), dürfte von Barth über Bultmann bis hin zu Ratzinger schon klarer und differenzierter gesehen und reflektiert worden sein, als es orthodoxe Theologiestudenten aus der plakativen Etikettierung im vorliegenden Lehrbuch lernen können. Auch die Empfehlung, »der Westen sollte etwas ›traditioneller‹, der Osten ›moderner‹ werden« (304), bleibt weit hinter den inzwischen erreichten Verständigungen zwischen orthodoxen und ›westlichen‹ (evangelischen wie römisch-katholischen) Theologen, auch Bibelwissenschaftlern, zurück. Dass es dazu schon seit Jahr zehnten intensive Kontakte zwischen orthodoxen und ›nicht-orthodoxen‹ Theologen auf der Ebene ökumenischer Dialoge oder bibelwissenschaftlicher Konferenzen und Projekte gibt, wird in dem vorliegenden Lehrbuch an keiner Stelle ersichtlich.

Nicht nachvollziehbar ist zudem, dass in einem für den akademischen Unterricht bestimmten Lehrbuch ausschließlich Kommentare von orthodoxen Autoren aufgelistet werden, wo doch die in den einzelnen Kapiteln dargestellten Sachfragen ganz gewiss nicht nur in Werken orthodoxer Verfasser behandelt werden. Das ist besonders dann problematisch, wenn der Vf. sich erkennbar mit Positionen »westlicher« Neutestamentler auseinandersetzt, diese aber nur verkürzt und zum Teil einseitig wiedergibt, um dann umso klarer seine orthodoxe Sicht davon abzugrenzen (z. B. 174 ff. zur Verfasserfrage beim Johannesevangelium oder 228 ff. zur literarischen Einheitlichkeit der Korintherbriefe). Auch in den insgesamt sparsamen Fußnoten begegnen nur ganz selten und in kaum nachvollziehbarer Auswahl Hinweise auf aktuelle Sekundärliteratur der »westlichen« Bibelwissenschaft, und unter den zitierten orthodoxen Autoren sind fast nur Griechen. Was sollen orthodoxe Studierende der Theologie heute aus einer solchen Literaturauswahl lernen? Sollen sie schlicht darauf vertrauen, dass der orthodoxe Lehrbuchautor schon wissen wird, was aus der »westlichen« Bibelwissenschaft für sie geeignet ist und was nicht? Das ist ganz gewiss kein akademischer Standard!

Auch im Einzelnen zeigt sich das Lehrbuch nicht durchweg auf der Höhe aktueller Bibelwissenschaft. In gewisser Weise symptomatisch ist der ungeschützte Gebrauch des Begriffs »Spätjudentum« für das antike Judentum zur Zeit des Neuen Testaments (z. B. 75.265.290. 297 f.), der aus guten Gründen inzwischen aus der Exegese verschwunden ist. Überhaupt spielen religionsgeschichtliche Fragen in dem Lehrbuch kaum eine Rolle, ebenso wie sozial- oder kulturgeschichtliche (abgesehen von den Ausführungen zur Sprachgeschichte). Gleichwohl soll der Beitrag des Lehrbuchs zur Profilierung Orthodoxer Theologie im deutschen akademischen Kontext ebenso wie für das Gespräch der Theologien miteinander nicht geringgeschätzt werden. Die Münchner Ausbildungseinrichtung hat für dieses Ge­spräch eine Pilotfunktion, und die hier in Angriff genommene Lehrbuchreihe sollte mit Aufmerksamkeit weiter verfolgt werden.