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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

455–457

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Keith, Chris, and Anthony Le Donne[Eds.]

Titel/Untertitel:

Jesus, Criteria, and the Demise of Authenticity.

Verlag:

London: T & T Clark International (Bloomsbury) 2012. XVII, 230 S. Kart. US$ 34,95. ISBN 978-0-567-37723-4.

Rezensent:

Eckhart David Schmidt

Es geht um Authentizitätskriterien in der historischen Jesusforschung, und der Anspruch des vorliegenden Buches ist hoch: Die Herausgeber, die beide in früheren Veröffentlichungen bereits vehement Skepsis nicht nur an dem einen oder anderen Kriterium, um einen »historischen Jesus« zu finden, ausgedrückt haben, sondern an dem gesamten aus diesen Kriterien gebildeten Kollektiv des criteria-approach (vor allem durch Chris Keith; vgl. programmatisch: 5), künden nichts Geringeres, als dass »business as usual in Jesus research is over« (Klappentext). Dafür haben sie Beiträger und eine Beiträgerin gewonnen, deren Namen sich lesen wie ein Querschnitt aus einem Who’s-Who der gegenwärtigen Jesusforschung: Dale C. Allison, M. Goodacre, S. McKnight, R. Rodríguez, J. Schröter, L. Stuckenbruck und D. Winter. Nach dem Lesen des Bandes wird der Jesusforscher – sollten die Inhalte bei ihm Zustimmung finden– das große Kapitel der historisch-kritischen Jesusforschung, das einst mit Reimarus begann, ein für alle Mal schließen müssen. Ein roter Faden, der sich durch die meisten Beiträge zieht (Ausnahmen: Goodacre und Stuckenbruck), ist die ausdrück­liche révérence an M. Hooker, die bereits in den 1970er Jahren den Nutzen vor allem des Differenzkriteriums massiv in Frage gestellt hatte. Dies war jedoch, laut Keiths Nachwort, nicht Teil des Buchkonzeptes, sondern ergab sich erst im Laufe der Arbeit. Hooker hat konsequenterweise ein Vorwort zum Band verfasst.

Der Hauptteil des Bandes besteht aus drei Abschnitten: Nach drei einleitenden Beiträgen problematisieren im größten, mittleren Abschnitt fünf Autoren jeweils eines der geläufigen Authentizitätskriterien; zwei systematisch bzw. autobiographisch gehaltene Beiträge stellen den dritten Abschnitt; von Keith stammt noch ein kurzes Nachwort.

Abschnitt I: Die ersten drei, eher grundsätzlichen Beiträge des Bandes beziehen sich alle stark auf den Einfluss von Bultmanns Formgeschichte zur Etablierung des nun zu überwindenden »criteria-approach«: Anthony Le Donne be­schwört das Ende der positivistischen historischen Jesusforschung und legt die geistesgeschichtlichen Hintergründe zur Entwicklung eines »Jesus-Positivismus« dar (3–21): in Europa sei hierfür das (neo-)romantische Interesse an Genie, Originalität und damit Authentizität zentral gewesen, in (Nord-)Amerika der Biblizismus des »Second Great Awakening«, in dem die Bibel als »authentisch« galt, insofern sie als göttlich inspiriert angesehen wurde. Bultmann habe dann Weiss’ und Schweitzers Bild von Jesus als eschatologischem Propheten zum entscheidenen Auswahlkriterium gemacht; daraus hätten sich infolgedessen auch die anderen Kriterien entwickelt. – Chris Keith setzt diese Stoßrichtung fort (25–48). Er kritisiert scharf die Weiterschreibung historischer Differenzierungskriterien auf der Grundlage von Bultmanns Formkritik, ob­wohl dessen Grundannahmen für diese selbst längst aufgegeben seien. Der wichtigste Todesstoß gegen die Suche nach einem »historischen Jesus« seien jedoch die Erkenntnisse der Gedächtnisforschung, die besagen, dass es eine uninterpretierte, »authentische« Jesustradition ohnehin niemals gegeben habe. Etliche Jesusforscher würden diese Einsicht zwar prinzipiell akzeptieren, aber dennoch den »criteria approach« weiterführen. Keiths Aufsatz liest sich am deutlichsten von allen des Bandes als Tribut an M. Hooker. – Auch für Jens Schröter (49–70) ist Bultmann ein Meilenstein für die Entwick­lung des »criteria-approach«. Er erinnert gleichzeitig an Droysens Erkenntnis, dass historische Kritik nicht zu historischen »Fakten« führt, sondern immer einen subjektiven Interpretationsaspekt beinhaltet – und dass darin kein Schaden liegt: »[T]he past can only become present relevant for the present by interpreting it from the present viewpoint and with the knowledge and epistemological standards of our time« (62). Die vorhandenen literarischen und nichtliterarischen Quellen regulieren die möglichen Interpretationen zu einem größeren Gesamtbild dahingehend, dass sie zwar nicht zu der einen zutreffenden führen, manche falsche aber ausschließen.

Abschnitt II: Eingangs problematisiert Loren T. Stuckenbruck das Vorgehen, Aramaismen oder Hebraismen in der Evangelienüberlieferung leichtfertig als Authentizitätskriterium für Jesusworte zu werten (73–94). Zu diesem großen philologischen Feld diskutiert er zahlreiche Vorstudien (ausführliche Anmerkungen!), führt konkrete Beispiele an und kommt zu einem klaren Schluss: Für das Sprachumfeld in Galiläa/Samaria/Judäa zur Zeit Jesu sei von überaus komplexen gegenseitigen Beeinflussungen der in den unterschiedlichen sozio-ökonomischen und religiösen Räumen verwendeten Sprachen in Wort und Schrift, teils zu »Mischsprachen«, auszugehen (z. B. auch durch den Einfluss der LXX oder durch sekundäre Semitisierung der griechischen Tradition). Sprachanalyse könne daher nicht als Leitprinzip zur Identifizierung einer authentischen Tradition genutzt werden, sondern, wenn überhaupt, dann nur kombiniert mit anderen Kriterien angewendet werden. – Anthony Le Donne unterscheidet zwei Versionen des Kohärenzkriteriums (95–114): eine, die eine logische Fortsetzung des Differenzkriteriums sei, und eine andere, die auf »generally accepted assumptions« (107) aufbaue und Aussagen unterstütze, die mit diesen übereinstimmen. Die erste sei bereits an denselben Gründen wie das Differenzkriterium selbst gescheitert, die zweite sei ebenfalls höchst problematisch, weil sie ein simplifiziertes Bild der Rezeptionskontexte des Wirkens Jesu voraussetze (z. B. »jüdisch-palästinisch« oder »frühchristlich«). Auf der Basis der Gedächtnisforschung müsse jedoch von der Jesustradition »as a long continuum of many mnemonic contexts, each overlapped and networked within a matrix of social frameworks« (111) ausgegangen werden. Wenn es allerdings gelänge, Erinnerungsprozesse in dieser Komplexität darzustellen, könne das Kohärenzkriterium in diesem Sinne ein nützliches Werkzeug sein, »the most plausible narrative« (113) darzustellen. – Dagmar Winter führt die Kritik am »doppelten Differenzkriterium« fort, die sie schon 1997 gemeinsam mit G. Theißen ausgeführt hat, und die mittlerweile unter den »Third-Questers« auch breit rezipiert ist (115–131). Sie führt zunächst in die Gründe für die Karriere des »doppelten Differenzkriteriums« ein, die sie zuerst in der Abkehr vom christlichen Dogma der Aufklärungszeit, dann in der Stilisierung Jesu zum romantischen Genie, vor allem aber in einem durchgängig antisemitischen Unterton sowie der mangelnden Kenntnis des Frühjudentums sieht, die dieses Kriterium begleitet habe. Sie fordert daher dessen Aufgabe zu Gunsten eines Plausibilitätskriteriums. Von allen in diesem Band gesammelten Kritiken an Einzelmethoden ist es diese, die das Konzept des Gesamtbandes am wenigsten vorantreibt, da Winter für den Ersatz eines bestimmten Kriteriums durch ein anderes plädiert – und dafür auch in bereits breit geebneten Spuren schreitet –, nicht aber die kollektive Kritik am »criteria approach« insgesamt stützt. – Rafael Rodríguez hat eine Kritik zum Kriterium der Tendenzwidrigkeit (»embarrassment«) geschrieben (132–151). Er identifiziert dieses zwar als eines der in der Forschung als am zuverlässigsten betrachteten und dementsprechend genutzten Kriterien, doch läge dessen Unzuverlässigkeit darin, dass die Identifizierung eines solchen tendenzwidrigen Elementes in Jesu Leben von der zuvor bestimmten Tendenz, d. h. einer allgemeinen, umfassenderen »historical narrative« abhängig sei: »[T]he criterion of embarrassment renders a historical datum embarrassing; it does not authenticate already-embarrassing historical data« (146). Sein wichtigstes Beispiel ist das der Kreuzigung Jesu, die bereits von Paulus als Skandalon bezeichnet, und dennoch theologisch in überragende Stellung gebracht werde: »Nothing was so difficult for early Christian theology […] but nothing was so fruitful for early Christian theology« (147). Wie nun sollte das Kriterium der Tendenzwidrigkeit nützlich sein, die Taufe Jesu oder die Glaubensdefizite der Jünger zu authentifizieren, wenn gleichzeitig die Kreuzigung als historisch akzeptiert werde? – Mark Goodacre vertritt die Ansicht, dass das Argument der Mehrfachbezeugung zwar auf Einsteigerniveau als Beispiel für geschichtswissenschaftliche Methodologie nützlich, zur Quellenauswertung für einen »historischen Jesus« jedoch letztlich unbrauchbar sei (152–169). Denn die dafür vorauszusetzende Unabhängigkeit der relevanten Quellen voneinander (Mk, Q, Mt, EvTh, Lk, SMt, SLk, Joh) stünde schlicht nicht fest. Zusätzlich stünde dieses Kriterium im Widerspruch zu dem der Tendenzwidrigkeit. Wenn überhaupt, könne man möglicherweise für einzeln und en passant überlieferte Jesustraditionen in Paulusbriefen Unabhängigkeit vermuten. Goodacre betritt damit das große und gegenwärtig wieder kontrovers geführte Feld der Synoptischen Frage bzw. der Evangelienüberlieferungen überhaupt.

Abschnitt III: Nach den Kapiteln zur Kritik an einzelnen Methoden nimmt Scot McKnight in Auseinandersetzung vor allem mit D. Allison eine dezidiert kirchliche Perspektive ein (173–185). Er teilt zwar nicht die prinzipielle Skepsis an historischen Auswahlkriterien (»I think we can get behind the Gospels to a ›historical‹ Jesus or a historian’s Jesus or a Jesus as can be reconstructed through historical methods«, 174), nur habe der »authentische« oder »historische« Jesus für die Kirche keinen Nutzen. Denn a) Geschichtsschreibung heiße Sinnbildung; die Evangelien stellten jedoch bereits diejenige Interpretation der Ge­schichte dar, die in 2000 Jahren Kirchengeschichte als sinnbildend gewirkt habe; b) historische Jesusprojekte seien so uneinheitlich, dass sie über gewisse Kreise von gleichgesinnten Akademikern hinaus keine Breitenwirkung entfaltet hätten und nun insgesamt in einer Vertrauenskrise steckten; c) der »memory-approach« dämpfe das Zutrauen in die Konstruierbarkeit eines historischen Jesus, doch »the remembered Jesus […] is the church’s Jesus« (184); d) historische Jesusbilder seien von Generation zu Generation, von Autor zu Autor zu wechselhaft. Im Anschluss an Kähler hält McKnight daher daran fest, dass »the church’s faith is rooted in the historic biblical Christ« (184 f.). – Ebenfalls nicht ein einzelnes Kriterium im Visier hat Dale Allison (186–199). Allison hat in seinen Jesusbüchern selbst eine deutliche methodologische Entwicklung durchschritten (Jesus of Nazareth, 1998; Resurrecting Jesus, 2005; The Historical Christ and the Theological Jesus, 2009; Constructing Jesus, 2010). In diesem Beitrag hält der Autor selbstkritisch Rückschau über die Entwicklung seines Denkens, wie er, angefangen von Impulsen durch Hooker sowie durch bessere Quelleninformation, im Laufe der Zeit Abstand zum »criteria-approach« gewonnen habe. Die Kriterien, gleich welche es im Einzelnen sind, hätten sich forschungsgeschichtlich als unergiebig erwiesen und könnten je nach Forschungsinteresse der Autoren mit beinahe beliebigen Ergebnissen angewandt werden.

Keith und Le Donne haben ein überaus spannendes und streitbares Buch mit einer Menge von Diskussionsanstößen herausgegeben, die allesamt große Themen und Forschungsgebiete betreffen und die teilweise auch noch vertieft zu werden verdienten. Dem Rezensenten scheint es, dass es gegenwärtig nicht viele Bücher zur ak­tuellen Jesusforschung gibt, die gleichzeitig auf so vielen Gebieten derart anregend und weiterführend sind. Wie Keith selbst in den Schlussbemerkungen schreibt, sind auch die Positionen der Beiträger nicht immer in allen Details aufeinander abgestimmt: Umso besser!, denn umso lebhafter kann die Diskussion sein, die dieses Buch entfachen mag. Das Buch schürt Spannung auf den weiteren Gang der »historischen Jesusforschung«, in welchem Gewande sie auch immer auftreten mag. Sollten sich die Anliegen und Kritiken des vorliegenden Buches auf breiter Front durchsetzen, wird es tatsächlich zu einer fundamental neuen Phase in der Jesusforschung kommen müssen. Die Frage ist: Werden sie sich durchsetzen? Der Hut ist in den Ring geworfen!