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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

454–455

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ebel, Eva, u. Samuel Vollenweider [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wahrheit und Ge­schichte. Exegetische und hermeneutische Studien zu einer dialektischen Konstellation.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012. 185 S. = Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments, 102. Geb. EUR 36,90. ISBN 978-3-290-17578-8.

Rezensent:

Marius Reiser

»Viel Erfundenes wissen wir zu sagen, das dem Wirklichen gleichsieht, / doch wissen wir auch, wenn wir wollen, Wahres zu künden.« Dieses Berufsgeheimnis verraten die Musen dem künftigen Dichter Hesiod (Theog. 27 f.). Es ist die älteste erhaltene Aussage zum Thema des Sammelbands, und sie steht bereits auf der Höhe des Problembewusstseins. Sie wird im Band einmal erwähnt (92), aber leider nicht zitiert oder besprochen, obwohl man ihn als weitere Anmerkung zu dieser »dialektischen Konstellation« verstehen kann: Erfundenes, das dem Wirklichen gleichsieht, auf der einen Seite, und Wahres, d. h. Realität und tatsächlich Geschehenes, auf der anderen. Im 19. Jh. glaubte man noch, das eine ließe sich vom anderen reinlich trennen. Seither ist man da skeptischer geworden. Jede Darstellung von Geschehenem ist auch schon Deutung. Und neuerdings sagt man statt Deutung gern: Konstruktion. Ja, man ist geneigt anzunehmen, dass es den Musen, selbst wenn sie wollen, nicht möglich ist, »Wahres zu künden«. Das gilt zumindest von den Exegeten, die sich in diesem Sammelband zu Wort melden ( J. Schröter, J. Zumstein, Claire Clivaz, K. Backhaus). Nach Pierre Bühler gibt es »keinen direkten Zugang zur Wahrheit in der Geschichte« (111); deshalb kann die Geschichte auch nicht Wahrheit werden, und Joh 14,6 ist nur ein »Wahrheitsangebot« (115 f.).

Am vorsichtigsten argumentiert noch Jens Schröter, aber sein Ergebnis wirkt banal: »Wahrheit in einem qualifizierten theolo­gischen Sinn kann im Blick auf den historischen Jesus dann so beschrieben werden, dass die neutestamentlichen Quellen über das Wirken und Geschick Jesu verlässliche Zeugnisse sind, deren Wahrheitsanspruch darin besteht, dass sie mehr über die Person Jesu sagen, als sich auf der Grundlage historischen Wissens darüber sagen lässt.« (32) Damit wird lediglich der Offenbarungsanspruch formuliert. Claire Clivaz möchte die neutestamentlichen Quellen als eine Reihe von verzerrenden Spiegeln verstehen, in denen auch emotionale Sprache ihr Recht hat. Knut Backhaus meint, die antike Geschichtsschreibung habe einen »weichen« Wahrheitsbegriff ge­habt, den er zu beschreiben versucht. »Wahr im beschriebenen Sinn ist eine Erzählung, wenn ihr Plot dem Selbstbewusstsein der Gruppe (bzw. deren normativer Elite) entspricht, es entfaltet, vertieft und anleitet« (91). Antike Geschichtsschreibung »ist die in der Tiefe der Vergangenheit verankerte Form des aktuellen Selbstbewusstseins einer Erinnerungsgemeinschaft« (93). Ihre Aufgabe ist nicht das Erfinden, sondern das narrative Ordnen des Überlieferten durch Inszenieren, Komprimieren, Arrangieren, Kolorieren und passendes Hinzuerfinden; nicht Rekonstruktion, sondern »rhetorisch, eidetisch und intentional ordnende Reimagination« (98). Dieses Modell findet er auch im lukanischen Doppelwerk wieder. Die Zuverlässigkeit, die Lukas in seinem Proömium dem Theophilus verspricht, ist nicht in seiner Recherche begründet, sondern darin, dass sein Doppelwerk »jene Ordnung konfiguriert, die der ›Sache‹ des Evangeliums am ehesten entspricht (vgl. Apg 26,25)« (107 f.). Der Beitrag schließt mit dem Satz: Lukas »hat der christlichen Erinnerungskultur jene Meistererzählung geboten, derer sie in ihrer Sattelzeit bedurfte, um sich in der Geschichte zurechtzufinden« (108). Bedarf die christliche Erinnerungskultur heute vielleicht einer ganz anderen Meistererzählung?

Der Beitrag von Philipp Sarasin behandelt »Wahrheit und Ge­schichte im Lichte Darwins« (121–134). Dazu bietet Hans Weder ein kritisches Votum (135–138). »Perspektiven eines engen Wahrheitsbegriffs« behandelt Konrad Haldimann (139–154). Er setzt sich darin auch mit einem früheren Beitrag von J. Schröter über »Konstruktion von Geschichte« kritisch auseinander (141–146). Einen schönen Beitrag, der aus dem Rahmen der übrigen fällt, bietet zum Abschluss Hans-Ulrich Rüegger: »Versuchen, in der Wahrheit zu leben« (155–182). Er bezieht sich auf Antigone, Sokrates und den Jesus des Markusevangeliums. Für ihn gehört zur Wahrheit auch die existentielle Dimension. Wahr sein bestimmt er in dieser Hinsicht als echt und authentisch sein, als wahrhaftig und ehrlich sein (182).

Der Rezensent ist der Meinung, dass weder die Absicht noch die reale Leistung der antiken Geschichtsschreibung in diesem Band richtig erfasst und gewürdigt sind. Und er befürchtet, dass von solchen Ansätzen her historische Forschung überhaupt als überflüssig erscheinen muss. Historisch-kritische Exegese jedenfalls ist das alles nicht mehr. Deutlich ist, dass in dieser Exegese philosophische Sichtweisen eine gewichtige Rolle spielen. Deshalb am Schluss noch eine Literaturempfehlung: H. Steinthal, Was ist Wahrheit? Die Frage des Pilatus in 49 Spaziergängen aufgerollt, Tübingen 2007.