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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

634–636

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Whiterington II, Ben

Titel/Untertitel:

The Acts of the Apostles. A Socio-Rhetorical Commentary.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans; Carlisle: Paternoster Press 1998. XLVIII, 875 S. m. Abb., 1 Kte gr.8. Kart. $ 50.-. ISBN 0-8028-4501-0.

Rezensent:

Gottfried Schille

Der Autor ist Professor für Neues Testament am Asbury Seminary in Wilmore, Kentucky. Er hat sich bereits durch einen sozio-rhetorischen Kommentar zu den beiden Korintherbriefen ausgewiesen. Aus einer versteckten Notiz am Schluß der Einleitung (97) erfährt man, daß sein Buch nicht nur für Experten, sondern auch für den breiteren Kreis von Laien geschrieben wurde. Es handelt sich um eine ausgewogene und gekonnt vorgetragene Arbeit, die ziemlich hohe Ansprüche an den Leser stellt. Etwas bemängeln wird man die Anlage; die am oberen Zeilenrand angebrachten Hinweise reichen nicht für eine rasche Auffindung bestimmter Textstellen. So wird der kommentargemäße Gebrauch des Werkes nicht eben erleichtert. Auf Vorwort (sehr knapp) und Bibliographie (34 engbedruckte Seiten) folgen eine breitere Einleitung (1-102), der Kommentar (105-816) und zwei Appendices (zur Galater-Frage 817-820 und zur lukanischen ganzheitlichen Soteriologie 821-843), endlich die Indices der modernen Autoren und der Schriftstellen und eine Karte zu den Paulusreisen. Die (angenehm-maßvolle) Diskussion mit anderen Forschern ist in der Regel in die Fußnoten verwiesen, während Sachfragen (wie die gelegentliche Erörterung der Textkritik) oben im Text abgehandelt werden. Eine große Anzahl zusätzlicher Fragen beantwortet W. in Exkursen (überschrieben a clooser look). Eingestreute Bilder von römischen und vor allem palästinensischen Ausgrabungsbefunden runden den Eindruck eines modernen Werkes ab. Wie man dem Literaturverzeichnis entnehmen kann, wird vor allem die angelsächsiche Forschung zusammengefaßt, während mitteleuropäische Publikationen mehr in Auswahl (und Arbeiten aus dem Osten, etwa der ehemaligen DDR, gar nicht) begegnen. Das gleiche Bild erhält man bei der Prüfung der Fußnoten. In der Diskussion sind die Anfragen der Deutschen kaum aufgegriffen, ausgenommen die in Übertragung vorliegenden. Das bedauert man deshalb besonders, weil W. deutlich über den angelsächsischen Wissensstand hinausstrebt.

Nun kann sich der europäische Leser nicht so recht vorstellen, was unter "sozio-rhetorisch" zu verstehen sei. Er wird daher besonders hierauf achten. Und in der Tat hat das vorliegende Werk seine Besonderheiten. Das ist am einfachsten auf der soziologischen Ebene zu erkennen. W. strebt immer wieder eine präzisere Bestimmung der sozialen Schichtungen an, denen die in den Texten Benannten zugerechnet werden können. Sein Ergebnis ist allerdings relativ einschichtig. Barnabas und Paulus (bes. 430 ff.), die Maria von Apg 12 und Lydia usw., sie alle weisen in eine eher gehobene Mittelschicht, die des Lesens kundig und in den Grundlagen der Rhetorik eingeübt war. Das gilt dann rückschließend natürlich auch für Lukas: "our author is a well-traveled retainer of the social elite, well educated, deeply concerned about religious matters, knowledgeable about Judaism, but no prisoner of any subculture in the Empire" (56). Sein Doppelwerk richte er an die Adresse zwar nicht dieser Schicht, wohl aber des Theophilus, der eben dieser Schicht zuzurechnen ist. Dabei müsse man seine Sicht der Publikationspraxis vielleicht noch ein wenig korrigieren, insofern der "Patron" nicht etwa für die Vervielfältigungen sorgen sollte, wie man bisher gern annahm, sondern eher privatim über das Beschriebene informiert werden sollte. W. nennt die Apostelgeschichte folgerichtig eine Apologie für new insiders (810) mit Respekt vor Rom (811 f.). Ihr Inhalt wäre "a historical manifesto about missions and the unstoppable word of God, following the historical and rhetorical conventions of this day" (812). Die weitere Verbreitung müßte man sich dann als einen zunächst nicht vorgesehenen Akt vorstellen; der Patron müßte das Empfangene weitergereicht haben, so daß allmählich eine Art Publizität entstand. So möchte sich W. erklären, warum die Apostelgeschichte erst im vierten Jahrhundert etwas öfter im Gottesdienst gebraucht wurde. Doch hier melden sich die ersten Bedenken: Gilt das auch für das Lukas-Evangelium? Hatte dies nicht Marcion zu einer Säule seines Kanons erhoben, lange Zeit vorher? Und ist die Apostelgeschichte etwa ähnlich wie heute nie in den breiteren gottesdienstlichen Gebrauch genommen worden, so daß noch heute die gleichen Differenzen zwischen Evangelium und ihr bestehen wie im vierten Jahrhundert? Um gleich die zweite Rückfrage anzuschließen: Darf man sich die lukanischen Werke wirklich zunächst statt für die Abschrift als für den Vortrag gedacht vorstellen, also als rhetorische Gabe an Theophilus? Das würde ja bedeuten, daß der Patron einer stundenlangen Vorlesung unterworfen worden wäre, an deren Ende man sich Szenen wie Apg 20,9 würde gut denken können. Da W. jedoch nicht ähnlich wie A. Sievers in den zwanziger Jahren vorhat, das Rhetorische bis in die Wendungen hinein zu verfolgen (Sievers glaubte bekanntlich, aus den rhetorischen Schwüngen die unterschiedlichen Erstredner erkennen zu können), bleibt es bei ihm dann bei der ständig wiederholten Erinnerung an Theophilus als Ersthörer.

Noch eine zweite Auswirkung des rhetorischen Ansatzes kann man beobachten: W. legt sein Schwergewicht auf die Rede-Partien der Acta (116 ff.). Hier findet er bestimmte Topoi der antiken Rhetorik wieder. Doch er tut dies maßvoll. Man behält den Eindruck, es handle sich um eine Randfrage, während der Ton auf einer anderen, der theologischen Ebene, liegt, indem Lukas seine weithin christologische (147 ff.) Botschaft an alle Menschen richtet (36 f. "it is not a defense of a particular ethnic group"). Das zeigt sich vor allem am offenen Schluß Apg 28,31 (809); Lukas sei es weniger um "the life and death of Paul but the rise and spread of the gospel and of the social and religious movement" gegangen. Dabei würde W. die lukanische Rhetorik eher auf der Ebene "of the more serious earlier Greek historians" (Polybius statt Livius, 43 und 117) sehen.

Gern abnehmen wird man ihm die Beobachtung, daß in antiken historiographischen Werken der Stoff häufg nach einer "ethnographic and region-by-region perspective" geordnet wird, wie man das besonders in den Acta beobachten kann (439). In Abwehr anderer Thesen macht W. weiter geltend, die antike Historienrhetorik pflege beim Erzählstoff erheblich weniger Spuren zu hinterlassen. Das ist zunächst eine Schutzthese (gegen R. I. Pervo, 376 ff.), die man einmal genauer überprüfen sollte. W. meint, man könne daher die erzählenden Partien nirgends als freie Erfindungen bezeichnen. Vielmehr müsse man hier mit einer starken Sachbindung rechnen. Was ist darunter zu verstehen? W. verfolgt die Frage nach Umfang und Art des von Lukas verwendeten Quellenmaterials (trotz des Exkurses 165-173) nirgends methodisch. In dieser Hinsicht bleibt er weit hinter dem heute Möglichen zurück. Aber gelegentlich stiehlt sich dann doch, ähnlich wie bereits im Kommentar von Haenchen, das Wort "Quelle" in den Text. Hier rächt es sich, wenn man die linguistische Frage nach dem vorliegenden Text allzu einseitig auf die Frage nach der Kontextaussage (auf das Synchrone) beschränkt. Im Notfall ist man dann gezwungen, längst überholte Antworten zu wiederholen, vielleicht in ein etwas moderneres Kleid gewickelt. Bei W. wird aus dem Paulus-Itinerar von Dibelius eine Art Gedankenprotokoll des zeitweilig mitwandernden Lukas (172): "It is not hard to imagine Luke composing such a hypomnema during his travels with Paul", besonders bei dessen dritter Reise, in Caesarea und in Rom. So kommt das "Wir" zu alten Ehren, gäbe es doch in der antiken Historiographie nirgends ein Anzeichen ähnlicher Art, ohne daß auf die Erlebnisechtheit verwiesen werde. "For the Greek historian the hallmark of true istoria was personal observation (autopsia) and participation" (27). Das soll der linguistische Tatbestand untermauern, daß Stil, Grammatik, Vokabular usw. der Wir-Stoffe von der lukanischen Diktion in keinerlei Hinsicht abweichen (53). Allerdings läßt sich dieses Argument nur gegen die Annahme einer Quellenschrift aus anderer Hand auswerten, nicht auch als Beweis für die Erlebnisechtheit. Gegen die Gedanken von Dibelius, daß Paulus-Itinerar sei für spätere Reise-Wiederholungen gedacht gewesen, spricht auch, daß die sogenannten Reisenotizen im lukanischen Paulusbericht gerade dort am trefflichsten sind, wo es nichts zu wiederholen gibt, man denke nur an die "Reise" Apg 20 nach Jerusalem und die Gefangenschafts"reise" nach Rom. Lukas müßte also schon unterwegs mit Paulus so etwas wie einen Plan zu seinem Werk im Hinterkopf gehabt haben, wenn man W. folgen möchte. Im übrigen sollten wir jeden Text aus sich selbst und nicht aus den Gebräuchen der sonstigen Historiographen erklären, deren Abstand zum modernen Historiker W. korrekt sieht (29), das ist in unserem Fall aus dem Anliegen des Evangelisten Lukas. Der Hauptunterschied zu den Historiographen der Zeit lag aber zweifellos nicht in der Rhetorik, sondern in den Inhalten, insofern Lukas ein Missionsbuch schrieb, also über einen Gegenstand, mit dem die antiken Historiker nicht einmal eine blasse Vorstellung verbanden. Anders ausgedrückt, genau dort, wo W. zu fragen aufgehört hat, müßte die Weiterarbeit ansetzen, wenn wir über das heute Übliche hinauswollen. Mit den herkömmlichen Methoden erzielt man doch nur herkömmliche Ergebnisse.

Ich nenne nur noch die Chronologie der Paulusreisen und -briefe (445 ff.); die Aufrechnung der Chronologie 81 ff. enthält dann wieder die Annahmen einer Freilassung in Rom, einer Spanienreise und der Hinrichtung des Apostels unter Nero (vgl. auch 815). Evangelium und Apostelgeschichte stammen vom gleichen Autor (21), in dem man möglicherweise den Arzt (gehobener Mittelstand!) und zeitweiligen (Begründung: he had not clearly or at least adequately understood Paul’s message, 59) Paulusbegleiter Lukas-Lukios (57 ff.) der neutestamentlichen Zeugnisse sehen dürfe. Die Apostelgeschichte sei, da im Lukas-Evangelium auf den Jüdischen Krieg Bezug genommen werde, in den siebziger oder frühen achtziger Jahren geschrieben worden (61 f.).

W. kennt die Nähe zu Josephus und diskutiert die von Haenchen genannten Stellen, die eine Entstehung Mitte der neunziger Jahre anzunehmen nahelegen. Vielleicht sind seine Angaben als ein erster Schritt zu werden, aus dem angelsächsischen Antwortraster auszubrechen und mit der europäischen Forschung ins Gespräch zu kommen. Auf jeden Fall besitzt der europäische Student und Forscher, wenn er sich über die angelsächsische Acta-Forschung informieren will, mit dem vorliegenden Werk eine schätzenswerte Informationsquelle.