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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

434–436

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Blum, Matthias, u. Rainer Kampling [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zwischen Aufklärung und Ultramontanismus. Neutestamentliche Exegeten der »Katholischen Tübinger Schule« im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die katholische Bibelwissenschaft.

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012. 271 S. m. Abb. u. Tab. = Contubernium, 79. Geb. EUR 52,00. ISBN 978-3-515-10199-8.

Rezensent:

Christof Landmesser

Auch die in Tübingen praktizierte katholische Theologie des 19. Jh.s hat eine anhaltende Wirkung. Strittig ist, wie eine »Katholische Tübinger Schule« zu bestimmen und wer ihrer Tradition zuzurechnen wäre. Dieser Band stellt Tübinger Exegeten vor, um dieser Frage näherzukommen.

Ina Ulrike Paul beschreibt die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und katholischer Kirche in Württemberg im 19. Jh. Sie skizziert die komplexen Verhältnisse, zu denen auch die Ansiedlung der katholischen Theologie an der Universität in Tübingen im Jahr 1817 gehört. Vor dem Hintergrund des Kulturkampfes und des Ultramontanismus bildete sich ein durchaus konstruktives Verhältnis von württembergischer Politik und Kirche aus.

Ulrich Köpf beschäftigt sich mit der Reichweite der Bezeichnung »Katholische Tübinger Schule«. Er begründet die These, dass dieser Ausdruck Mitte der 1830er Jahre den Tübinger katholischen Theologen noch nicht als Selbstbezeichnung diente, sondern erst durch Paul Schanz 1898 vornehmlich auf Tübinger systematische Theologen bezogen worden sei (60 f.). Die Verwendung der Selbstbezeichnung von Theologen des 20. Jh.s übergehe die historisch-exegetischen Disziplinen, aber auch die so bezeichneten systematischen Theologen repräsentierten nicht eine »Schule« in einem aussagekräftigen Sinn (61). Dies werde deutlich an der Subsummierung von Theologen wie Drey, die der Aufklärung verpflichtet gewesen seien, und Möhler, die eher zum Ultramontanismus neigten. Auf den Ausdruck als Schulbegriff sollte deshalb verzichtet werden, was die Bedeutung der katholischen Theologen in Tübingen seit 1817 nicht schmälere (65).

Für Albert Franz wird die Rede von der »Tübinger Schule« zum »hermeneutischen Schlüssel« für ein Verständnis der theologischen Diskussionen des 19. Jh.s, die bis heute anhielten (68, Anm. 4). Die Tübinger Theologie habe sich als »fundamental zeitbezogen« verstanden (70), was auch eine Anknüpfung an damalige philosophische Reflexion und Betrachtung der Geschichte außerhalb der Theologie bedeute. Dies versucht Franz an Texten von Drey und Staudenmaier zu zeigen. Diese hätten Theologie als »Ganzheitstheologie« verstanden (76). Die Offenbarung treffe nicht von außen auf den Menschen, sie habe ihren Ort auf der »Ebene der Subjektivität« (ebd.). Insofern der Mensch sich von Gott und sich selbst entzweit, bedürfe es zur Rettung des Menschen einer »erneuten Offenbarung«, die geschichtlich situiert und nicht rational deduzierbar sein müsse (79). Die Theologie erweise sich als eine auf Offenbarung ausgerichtete kritische Wissenschaft. Ansätze historisch-kritischer Exegese seien bereits zu erkennen (81).

Norbert Wolff SDB stellt den Neutestamentler Peter Alois Gratz (1769–1849) als ersten neutestamentlichen Bibelwissenschaftler der »Katholischen Tübinger Schule« vor. Als Schüler von Johann Michael Sailer konnte er an dessen Unterscheidung von »erbauender Schriftbetrachtung« und »gelehrtem Schriftforschen« anschließen (86). In seinen Arbeiten zu den Evangelien erweise sich Gratz als ein kritischer Exeget, der die Freiheit der Bibelforschung betonte (91). Historische Kritik und apologetische Interessen bestimmten Gratz’ Theologie gleichermaßen. Die Tübinger Theologie sei von den Ideen dieses Mitbegründers der Theologischen Quartalsschrift auch geprägt worden.

Matthias Blum stellt Andreas Benedikt Feilmoser (1777–1831) vor. Dieser Tübinger Exeget sei als aufklärerisch kritisiert worden, er habe von der Inspiration der Heiligen Schrift abgesehen (110). Er erweise sich als kritischer Theologe, der den von Seckler behaupteten Merkmalen der Katholischen Tübinger Schule (Wissenschaftlichkeit, Gegenwartsbezogenheit, mündige Kirchlichkeit) entspreche. Dies zeige sich an seinem historisch-kritischen Umgang mit den Texten des Neuen Testaments. Aus der Sicht des Lehramtes könne die historische Tradition kritisch befragt werden, solches Fragen sei im eigentlichen Sinne Theologie (130).

Ebenfalls zur »Katholischen Tübinger Schule« gehört nach Christoph Heil Martin Joseph Mack (1805–1885). Dieses Urteil ist überraschend, weil Heil zuvor Mack als »Möhlerianer« und »Ultramontaner« darstellt (133), der in seinen exegetischen Arbeiten wohl wissenschaftlich akribisch vorgehe, der aber vor allem mit diesen die katholische Lehre verteidigen wollte. Mack verlor 1839 sein Amt als Rektor der Universität und seinen Lehrstuhl. Er positionierte sich auch gegen das »Leben Jesu …« von Strauß. Exegetisches Können und konfessionelle Orientierung kennzeichnen den konservativen und den Texten gegenüber kaum kritischen Theologen Mack.

Michael Theobald erinnert an den akademisch wenig wirksamen Moraltheologen und Neutestamentler Joseph Gehringer (1803–1856). Gehringer war nur wenige Jahre Mitglied der Tübinger Fakultät (1841–1849), bevor er auf eine Pfarrstelle wechselte. Er publizierte u. a. eine »Liturgik« und eine »Theorie der Seelsorge«, womit er sein pastorales Interesse zeigte. Forschungsgeschichtlich interessant ist seine griechische Evangeliensynopse, die zugleich eine Harmonie darstellt (170). Trotz der harmonisierenden Absicht lässt Gehringer zur Quellenfrage Vorstellungen erkennen, die bislang nicht mit katholischen Zeitgenossen in Verbindung gebracht wurden. Theologisch hat Gehringer den Willen, das pastorale Handeln an Jesus zu orientieren unter den je gegenwär­tigen Zeitbedingungen.

Rainer Kampling bietet eine Skizze zu dem Neutestamentler Moriz von Aberle (1819–1875), einem gemäßigten Ultramontanisten. Aberle beschäftigte sich vor allem mit den Evangelien, die er primär als apologetische Schriften wahrnahm. So versuche Aberle historische Ungenauigkeiten zu erklären. Er wird als »früher Vorläufer der Redaktionskritik und des Autorenmodells« vorgestellt (196).

Markus Thurau erörtert das Verständnis der Exegese des Neutestamentlers und Dogmatikers Paul Schanz (1841–1905). Dieser verfolgte eine wissenschaftlich orientierte Exegese, die er im Anschluss an das I. Vatikanische Konzil konsequent als katholische Exegese verstand. Er unterschied Theologie und andere Wissenschaften, wodurch die kirchliche Tradition gewahrt und die historische Erforschung der neutestamentlichen Texte ermöglicht werden sollte. In seinem Werk zeigen sich Spannungen der wissenschaftlich vorgehenden, aber konfessionell gebundenen Exegese.

Thematisch und sachlich fremd wirkt der für das komplexe Thema allzu knappe Beitrag von Robert Vorholt zur »Inspiration der Bibel«.

Den Abschluss der Aufsatzsammlung bildet der Text von Otto Weiß, der noch einmal Tendenzen und Strategien katholischer Theologie im 19. Jh. kommentiert.

Der Band lässt Entwicklungen in der katholischen Exegese Tübinger Provenienz deutlich werden. Ob die Zuordnung der einzelnen Theologen zu einer Katholischen Tübinger Schule und deren Existenz plausibel ist, ist kaum entscheidend. Die Texte sind für ein besseres Verständnis der neutestamentlichen Exegese im 19. Jh. hilfreich, auch im Gespräch mit der protestantischen Theologie.