Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2014

Spalte:

432–434

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schmid, Hansjörg

Titel/Untertitel:

Islam im europäischen Haus. Wege zu einer interreligiösen Sozialethik.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2012 (2. Aufl. 2013). 599 S. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-451-32557-1.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Gesellschaftliche Islamdiskurse werden nicht selten mit Leitbegriffen wie »Feindbild Islam« oder »Islamophobie« begleitet. Zu erinnern ist an Kontroversen um den Bau von Moscheen, die Rolle der Frau und die Deutung von Gewalt. Auf der anderen Seite sind Konfliktfelder Orte, an denen weiterführende sozialethische Reflexionen entstehen. Die vorliegende Habilitationsschrift von Hansjörg Schmid, die an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München angenommen wurde, stellt den Versuch einer solchen sozialethischen Reflexion dar, ja ist – in Analogie zum »interreligiösen Dialog« – der Versuch einer »interreligiösen Sozialethik«. Der Terminus »interreligiös« soll dabei zum Ausdruck bringen, »dass der eigene Rahmen als Ausgangspunkt bestehen bleibt« (20), also nicht »aus einer übergreifenden Perspektive auf die Religionen in Europa« (19) geblickt wird. Ziel ist es, »den Rahmen für ein neues Forschungsfeld abzustecken und anhand exemplarischer Vertiefungen zu erproben. Interreligiöse Sozialethik wird in der christlichen Sozialethik und im gesellschaftlichen Kontext verortet, me­thodisch konturiert und exemplarisch durchgeführt« (22).

Das ehrgeizige Ziel wird in zwei großen Schritten verfolgt: einem Grundlagen- und einem Vergleichsteil (25–249 und 251–531). Im Grundlagenteil wird zunächst (25–91) der wissenschaftliche und gesellschaftliche Bezugsrahmen der Sozialethik abgesteckt und von der katholischen Soziallehre zur ökumenischen Sozialethik hin zur interreligiösen Sozialethik erweitert. In dieser Erweiterung werden zwei zentrale Unterschiede zwischen christlicher und interreligiöser Sozialethik festgehalten. Zum einen sind die »theologischen Erkenntnisquellen verschieden. »Während eine ökumenische Sozialethik sowohl auf der Bibel als auch auf der Christologie […] aufbauen kann, fehlt dies als Grundlage einer interreligiösen Sozialethik.« (46) Zum anderen sind die Ziele verschiedene. In der Ökumene wird entsprechend neutestamentlichen Einheitsvorstellungen »an dem Ziel festgehalten, eine volle und sichtbare Einheit der Kirchen und Konfessionen (wieder-) herzustellen. Eine solche Einheit kann nicht das Ziel des interreligiösen Dialogs und einer interreligiösen Sozialethik sein.« (46) An die Stelle einer vermeintlich »sichtbaren Einheit« müsse die »Verständigung zwischen voneinander getrennten Religionen« treten (47). Zu solcher Verständigung finden sich Anhaltspunkte auch im Dialog mit dem Islam. Zu Recht weist S. darauf hin, dass der Koran sich diskursiv an Juden und Christen richtet, etwa in Sure 2,113. (Die überragende Funktion von Sure 2 für diesen diskursiven Charakter hat der Jenaer Religionswissenschaftler Bertram Schmitz in seinem – bei S. nicht erwähnten – Korankommentar herausgearbeitet.) Zusammenfassend wird auf Sure 5,48 als »ethisches Modell des Zueinanders der Religionen« verwiesen. Hier werde eine »von Gott gewollte Einheit in Pluralität beschrieben, die nicht aufzuheben, sondern in einem ethischen Wettstreit auszutragen ist« (49).

Fallstudienartig wird im Nachfolgenden (92 ff.) die zu entfaltende interreligiöse Sozialethik in mehrfacher Hinsicht eingegrenzt. Zum einen auf den Kontext Europa als gesellschaftlichen Bezugsrahmen (mit Schwerpunkten auf Bosnien und Großbritannien); weiter mittels Positionen von fünf in Europa wirkenden muslimischen Wissenschaftlern, unter ihnen auch der aus Ägypten stammende Nasr Hamid Abu Zaid; schließlich durch sieben Leitkriterien (154 ff.), auf die hin Positionen islamischer und christlicher Sozialethik im zweiten Teil der Untersuchung verglichen werden: Kontext (251 f.), Methode (277 f.), Säkularisierung (312 f.), Religionsfreiheit (354 f.), Zivilgesellschaft (399 f.), historischer Wandel und Einheit (439 f.).

Die fünf islamischen Theologen werden als Referenzpunkte einer interreligiösen Sozialethik herangezogen und kommen je unter den genannten Leitkriterien zur Sprache. So wird etwa Abu Zaid eingeführt unter dem Stichwort »Koranhermeneutik«, was unter dem Leitkriterium »Methode« oder »Kontext« wichtig werden wird. Im Kontext islamischer Theologie schließt er sich der mu’tazilitischen Position an, die den Koran als erschaffen begreift. Auch seien Spuren der Mystik in seiner Theologie erkennbar, die S. auf seine Verarbeitung des um 1200 n. Chr. wirkenden Ibn Arabi zurückführt. Im Kontext moderner Sprachwissenschaft und Hermeneutik lässt sich dann im Hinblick auf die Methode Übereinstimmendes feststellen. »Wie bei Ibn Arabi findet sich bei Gadamer eine Interaktion zwischen Text und Rezipient und damit auch von Subjektivität geprägtes Wahrheitsverständnis, das Abu Zaid übernimmt.« (207) Unter dem Kriterium »Kontext« hält S. fest, dass Kontextualität im europäischen Islam oft stärker bewusst ist wegen des Kontextwechsels, »der wiederum Anlass zur Kontextreflexion bietet« (277). Am Beispiel der Eheschließung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen (nach Sure 2,221 verboten, nach Sure 5,5 erlaubt) zeigt S. auf, wie Abu Zaid methodisch vorgeht: »historische Auslegung des Korantextes, dann die Applikation, die Frage nach dem Aussagewert des Korans für heute« (279). Am Beispiel argumentiert Abu Zaid: »Da der Koran in einem patriarchalen Kontext entstand, richtet er sich an Männer und erlaubt ausschließlich ihnen, auch Frauen aus der Schrifttradition zu heiraten. Geht man heute von der Gleichheit der Geschlechter und der individuellen Freiheit aus, kann man nach Abu Zaid zu einem anderen Ergebnis gelangen und Fragen der Religionszugehörigkeit wie der Eheschließung als Entscheidungen des Einzelnen betrachten.« (280) Als Kriterien solcher (dekonstruierender) hermeneutischer Koraninterpretation arbeitet S. für eine interreligiöse Sozialethik heraus (vgl. 281): »Weiterden ken im Sinne der Ursprungsbedeutung«, »Menschenrechte als übergeordnetes Kriterium«, »Wandel der Interpretation und Ideologiekritik« (sprich: ideologisch-politische Instrumentalisierungen von aus dem Koran abgeleiteten juristischen Festsetzungen).

Kritisches zur vorliegenden Studie ließe sich an vielen Stellen anbringen: angefangen von der grundsätzlichen Frage, ob durch den Bezug auf vorwiegend im europäischen Exil lebende muslimische Theologen die Stimme des faktisch wirksamen Islam, der sich in Kairo und an anderen Ort artikuliert, hinreichend berücksichtigt ist, über methodischen Fragen nach der Kohärenz der Leitkriterien (von »Kontext« und »Methode« z. B. ist häufig auch außerhalb der Leitkriterien die Rede, dass man einen äquivoken Sprachgebrauch mutma ßen könnte) bis hin zu inhaltlichen Einzelfragen – etwa, ob die mu’ta­zilitische Position von der Erschaffenheit des Korans nicht deutlicher als Außenseiterpositionen hätte gekennzeichnet werden können. Schließlich haben und hatten die Traditionalisten gegenüber den Rationalisten die Weichen der Koranauslegung gestellt.

Bei einem Entwurf wie dem vorliegenden sollte unbedingt die positive Würdigung am Schluss stehen. Es handelt sich ganz eindeutig um einen großartigen, ja visionären Versuch, Wege zu einer interreligiösen Sozialethik aufzuzeigen. Es ist im europäischen und besonders im deutschen theologischen Kontext dringend ge­boten, solche Pionierarbeit aufzugreifen und als ein Stück längst überfälliger Grundlagenforschung im islamisch-christlichen Dialog zu würdigen.