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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

430–432

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Daniel, Anna, Schäfer, Franka, Hillebrandt, Frank, u. Hanns Wienold [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Doing Modernity – Doing Religion.

Verlag:

Wiesbaden: Springer VS (Verlag für Sozialwissenschaften) 2012. IV, 250 S. m. 4 Abb. u. 5 Tab. Kart. EUR 34,95. ISBN 978-3-531-18210-0.

Rezensent:

Yvonne Jaeckel/Gert Pickel

Der Sammelband präsentiert die thematischen Schwerpunkte und Ergebnisse der gleichnamigen Tagung, die im Dezember 2010 im Rahmen des Excellenzclusters »Religion und Politik« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattfand. Die Beiträge untersuchen jeweils das Verhältnis von Moderne, Säkularisierung und Religion vor dem Hintergrund der soziologischen Praxistheorie. Diese Soziologie der Praxis wendet sich gegen bestehende holistische Gesellschaftserklärungen, stellt heute ganz selbstverständlich genutzte modernisierungstheoretische Annahmen in Frage und rekonstruiert vergangene sowie gegenwärtige Praktiken der Realität auf Basis der Akteur-Netzwerk-Theorie. Für die Religionssoziologie ist diese Herangehensweise besonders interessant, da die Praxissoziologie auf einen universell gültigen Religionsbegriff verzichtet. Bis dato bestehende religionssoziologische Deutungsmodelle werden damit hinterfragbar. Um der Soziologie der Praxis und ihrem bislang wenig diskutierten Verhältnis zum Religiösen sowohl theoretisch als auch empirisch gerecht zu werden, untergliedert sich der Sammelband in vier thematische Blöcke.

Ein erster, theoretisch ausgerichteter Teil problematisiert deshalb zunächst das Religionsverständnis der Moderne und gibt Einblick in die Grundlagen der Praxissoziologie. So fragt David Krieger »Was ist aus der Religionskritik der Moderne geworden, nachdem die Moderne nicht stattgefunden hat?« (15 ff.) und dekonstruiert unter Rekurs auf die ethnographischen Untersuchungen Bruno Latours die Axiome der Moderne als Illusion. Religion könne demnach nicht systemtheoretisch verstanden werden, sondern existiere gemäß dem Verständnis der Akteur-Netzwerk-Theorie als Ebene von Kommunikation, wobei nicht das Inhaltliche als religiös zu beschreiben sei, sondern die Praxis dieser Kommunikation. Auf welche Weise Religion theoretisch und methodisch von der Praxissoziologie aufgenommen werden kann, präsentiert Frank Hille-brandt in seinem darauffolgenden Theorievorschlag. Hillebrandt leitet den Leser gut verständlich von den Grundlagen einer Soziologie der Praxis hin zu den daraus folgenden Konsequenzen für die Erfassung von Religion. Diese könne demnach nur als Formation regelmäßiger Einzelpraktiken verstanden werden, die sich unter bestimmten Bedingungen situativ ereignen. Um eine tiefgehende Interpretation religiöser Praxisformationen zu gewährleisten, fordert Hillebrandt eine methodische Weiterentwickelung der Situationsanalyse.

Der zweite Teil des Sammelbandes konzentriert sich auf Methoden zur Analyse religiöser Praxis, wie sie bei Pierre Bourdieu zu finden sind. Der Beitrag von Hanns Wienold und Franka Schäfer arbeitet die analytischen Elemente für das (europäische) religiöse Feld heraus und verknüpft diese mit den Axiomen der Praxissoziologie. Den religiösen Erfahrungen gehen dabei stets religiöse Praktiken, sogenannte »doings« und »sayings« voraus, die als Praxis des Glauben-Machens bezeichnet werden können. Da diese religiösen Praktiken allerdings mit anderen Praxisbereichen unbegrenzt kombinierbar sind, sei es folglich auch hier nicht möglich, ein Gesamtkonzept von Religion anzusetzen. Der empirischen Anwendbarkeit der Bourdieuschen Analysemethoden widmen sich Michael Kleinod und Boike Rehbein mit ihrem Artikel zur Entstehung eines religiösen Feldes am Beispiel von Laos. Was als religiöses Handeln zu interpretieren ist, lasse sich ihrer Meinung nach nicht ohne gesellschaftliche Theorie erörtern, so dass sie dafür plädieren, Makrotheorien mit spezifischen situativen Praktiken zusammenzudenken. Der Beitrag überprüft die empirische Nachweisbarkeit modernisierungstheoretischer Elemente wie Privatisierung, Ausdifferenzierung und Säkularisierung in Laos, kann diese aber nur in Teilen nachweisen. Um die Vielfalt der religiösen Praxis zu erfassen, schlagen Kleinod und Rehbein vor, den Begriffsapparat Bourdieus zu verfeinern.

Im dritten Teil des Sammelbandes liegt der Schwerpunkt der Beiträge auf einer diskursanalytischen Näherung an das Religiöse und fokussiert sich stark auf die Praxis des Glauben-Machens. Ausgehend vom Orientalismusdiskurs der Postcolonial Studies fragt Anna Daniel, ob der Islam heute dem modernen Europa noch im­mer als Kontrastfolie dient. Ziel ihres Beitrags ist es, den Zusam­menhang zwischen einer diskursiv erzeugten Beschreibung der »anderen« Religion und der daraus resultierenden »Verteidigung der Moderne« (145) darzustellen. Ein zweiter Beitrag von Hanns Wie­nold und Franka Schäfer widmet sich dem Weltreligionsdis­kurs. Vor dem Hintergrund des Pluralismus stellen sie eine Verschiebung vom Begriff der Religion hin zu einem Begriff des Religiösen fest, der maßgeblich in einem Konzept der religiösen Erfahrung zu beschreiben ist. Durch die Verschiebung der Be­wertungskriterien von Modernitätsfähigkeit zu Globalisierungsfähigkeit werden dogmatische Inhalte und Organisationsstrukturen der Weltreligionen zugunsten ihres Spiritualitätsgehaltes in den Hintergrund gerückt. Dass es neben dem Rückgang institutionalisierter Religiosität auch zur Etablierung neuer religiöser Praktiken kommt, zeigen die Beiträge des letzten Teils des Sammelbandes. Marcus Gamper und Julia Reuter stellen ihre empirischen Befunde zur in den letzten Jahren angestiegenen Pilgerpraxis vor, die als religiöse »Rekombination unter spätmodernen Bedingungen« (229) zu interpretieren sei. Abschließend widmet sich Thomas G. Kirsch dem praktischen Umgang mit religiöser Wahrheit und Konsensualität am Beispiel des religiösen Feldes in Südsambia. Der dort vorherrschende religiöse Pluralismus führe entgegen der naheliegenden Annahme nicht zu einem konflikthaften Nebeneinander, sondern vielmehr zu einer stets reproduzierten Konsensualitätspraxis.

Der Sammelband bietet mit seiner breiten Aufstellung an Beiträgen einen gelungenen Einstieg in das Feld der Praxissoziologie. Leider wird diese Breite nicht in einem abschließenden Beitrag zusammengeführt. Eine konkrete Einbettung der verschiedenen Beiträge in die religionssoziologische Forschung bleibt damit verwehrt. Eine grundsätzliche und diskussionswürdige Problematik bleibt aus Sicht der Religionssoziologie die Verwendung oder eben auch Nicht-Verwendung eines Religionsbegriffs. Die aus der praxissoziologischen Theorie hervorgehende Frage nach der praktischen Anwendbarkeit für die Erfassung des Religiösen schlägt sich dann auch in der Methodenvielfalt der einzelnen Beiträge nieder. Hier verschwimmen für den Leser die zuvor so gut dargestellten praxissoziologischen Axiome, weil teilweise nicht ersichtlich wird, woraus sich das Religiöse der untersuchten Handlungen ergibt, wenn doch das Inhaltliche keine Referenzkategorie bildet. An mehreren Stellen des Sammelbandes werden auch Prognosen wie die »steigende Nachfrage nach […] religiösen Sinnangeboten« (207) oder die »Wiederbelebung von Typen religiösen Glaubens« (113) angeführt, welche anderen, vornehmlich quantitativen Studien deutlich entgegenstehen. Alternative Formen des Religiösen werden durchaus auch in quantitativen Studien erforscht, erlangen aber mengenmäßig mitnichten eine Größe, durch welche eine ganzheitliche gesellschaftliche Entwicklung plausibel gemacht werden könnte.

Prinzipiell ist die implizite Kritik des Sammelbandes, dass der Religionsbegriff nicht nur die großen Religionsgemeinschaften oder in seiner ethnozentrischen Form die christliche Religion be­trachten darf, durchaus nachvollziehbar. Allerdings fragt es sich, wie zielführend eine Erforschung von Religion sein kann, wenn sie den Untersuchungsgegenstand nicht definiert. Dabei könnten die qualitativen und hier vornehmlich praxissoziologischen Forschungsergebnisse für die Erforschung der multiplen Struktur von Religiosität fruchtbar gemacht werden, da sie auch quantitative Sichtweisen für eine eventuell fehlende Berücksichtigung be­stimmter Facetten des Religiösen öffnen könnten. Etwas schwieriger könnte die »Praxis des Glauben-Machens« (64) dem christlichen Theologen erscheinen, weil er neben dem qua immer auch nach dem quae creditur fragen wird. Zu empfehlen ist der Sammelband deshalb all denjenigen Interessierten, die sich von gegenwärtigen Denkkategorien befreien wollen.