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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

626-629

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Weiland, Maria

Titel/Untertitel:

Ästhetik gebrochener Gegenwart. Zur Bedeutung der repräsentativen Dimension sakramentalliturgischen Handelns im Gespräch mit Dieter Henrich.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2011. 448 S. = ratio fidei, 44. Kart. EUR 47,00. ISBN 978-3-7917-2376-1.

Rezensent:

Gregor Etzelmüller

Die am Freiburger Lehrstuhl für Dogmatik und Liturgiewissenschaft bei Helmut Hoping verfasste Dissertation von Maria Weiland lässt sich auf zweifache Weise lesen: zum einen als lesenswerte und gut verständliche Einführung in die systematische Philosophie Dieter Henrichs (93–262), die in den letzten Jahren zu einem gesuchten Gesprächspartner katholischen Fundamentaltheologie geworden ist, zum anderen als liturgieapologetische Arbeit, die »die Bedeutung, die Liturgie als ästhetische Vollzugsgestalt für die christliche Glaubensvergewisserung hat, vor der Vernunft offen […] legen und verantworten« will (341).
Die Philosophie Henrichs, in die W. ausführlich und detailliert einführt, ist für die katholische Fundamentaltheologie ein reizender Dialogpartner, weil Henrich die Möglichkeit einer spekulativen Metaphysik auf dem Grund der Subjektivitätstheorie behauptet. Henrich sehe es als Aufgabe der Philosophie, »dem Menschen die Möglichkeit einer wahrheitsfähigen Vergewisserung und Verortung seines Lebens offen zu halten« (98; vgl. 103). Denn das Subjekt sei genötigt, sein Leben zu deuten. Es existiere »im tastenden Entwerfen von Selbstbildern, die es auf ihre existentielle Bewährung im Leben erkundet« (145). Dabei stehe das menschliche Leben vor der Grundentscheidung, das eigene Leben entweder als (sinnloses) Ergebnis einer faktischen Notwendigkeit zu verstehen – oder aber als »durch eine Affirmation gedeckt, die nicht aus ihm selbst kommt« (Henrich; 149). Angesichts dieser Alternative suche Henrichs Philosophie »die Möglichkeit sinnerfüllten Daseins in der Haltung des Lebensdankes zu verantworten« (153 Anm. 521). Diese Möglichkeit sei freilich »mit den Erkenntnismitteln der zweck- und zielgerichteten Weltermächtigung nicht zu erreichen« (155), sondern stehe nur einem integrierenden Denken offen, das dem Leben nachdenke, um es im Ganzen zu erfassen. In der Form der Erinnerung schließe sich das eigene Leben »zu einem in sich kohärenten Ganzen« (156), angesichts dessen sich die Lebenshaltung der Dankbarkeit einstelle. »Ein Leben, welches dankbar ist im Wissen um den Grund, aus dem es hervorgeht und von dem her sich sein Gang in der Welt und durch die Welt ausbildet, ist über die Konflikte hinausgewachsen, von denen dieser Gang doch immer be­stimmt ist.« (Henrich; 159).
W. (und mit ihr auch andere katholische Theologen der Gegenwart) suchen den Anschluss an Henrich, weil dieser gegenüber den modernen Wissenschaften für das Recht einer integrativen Vernunft und damit letzter Gedanken plädiert. Insofern kann man Henrich als einen religionsaffirmativen Denker lesen. Da die integrative Vernunft nach Henrich auch in der Religion wirke, sei diese »eine natürliche und vernünftige Sache menschlichen Daseins« (213). Mit Henrich wird die Vernünftigkeit der Praxis religiöser Lebens- und Weltdeutung postuliert. Für Henrich freilich, er steht hier im Gefolge Hegels, ist in der Moderne die Religion in die Philosophie aufgehoben worden. Henrich selbst ist insofern der Tradition der aufhebenden Religionskritik zuzurechnen.
Doch auch wenn man meint, Henrich an diesem Punkt »nicht notwendig bis in die letzte Konsequenz folgen« zu müssen (222), ihn also als religionsaffirmativen und nicht als religionskritischen Denker verstehen zu können, stellen sich beim Anschluss an Henrichs Philosophie theologische Fragen: Insbesondere über die Figur der Dankbarkeit droht Religion auf Schöpfungsglauben und Kontingenzbewältigung reduziert zu werden. Die Religion der Dankbarkeit bleibt beim »sehr gut!« der Schöpfungsgeschichte stehen. »In der Dankbarkeit kann ein Mensch über das Ganze seines Lebens ein ›Es ist gut‹ sprechen.« (158). Die daraus resultierende Lebenshaltung, »die sich und die Welt annehmen kann« (159), steht zumindest in der Gefahr, dem Glauben seine kritisch-eschatologische Dimension zu nehmen. Dabei stellt sich nicht erst angesichts von menschlich verschuldetem Leiden, sondern schon angesichts der Ambivalenz der Schöpfung selbst die Frage, »welche Ruhe und welche Erfüllung ein Mensch in der Gegenwart seines Daseins allein aus der Leistung einer erinnernden Zusammenschau seines Lebens gewinnen kann« (254). Gerade im Blick auf die Not und Lebenskatastrophen der anderen (vgl. 253, Anm. 856, den Hinweis auf Henrichs eigene Warnung vor einer Überaffirmation des Daseins), aber auch auf eigene Leiderfahrungen, die sich nicht in ein Ganzes fügen, wird deutlich, dass angesichts des Weltganzen Dank nur dort möglich ist, wo man eine Hoffnung teilt, die auch der Vergangenheit noch Zukunft offenhält.
W. will, das ist das eigentliche Ziel ihrer Arbeit, mit Hilfe der Subjektphilosophie Henrichs die Vernünftigkeit sakramentalliturgischen Handelns darlegen. Sie greift dazu auf Henrichs Ästhetik und Kunsttheorie zurück (164–203). Nach Henrich kenne der Mensch neben der zweckrationalen Haltung der Weltaneignung auch »den zweckfrei auf den Dingen ruhenden Blick« (170). Wo der Mensch diese Haltung einnehme, werde er von sich selbst, nämlich von dem ihm eigenen alles auf sich beziehenden Weltzugriff, befreit. Der ästhetische Blick auf die Dinge liefere aber noch keine Deutung. Damit der Mensch zu einer sinnstiftenden umfassenden Wirklichkeitsbeschreibung gelange, bedürfe die ästhetische Haltung der Kunst, denn diese könne in einzigartiger Weise »dem Menschen in der Begegnung mit kunstvoll durchgestalteten Weltgehalten […] Aufschluss über sich selbst gewähren« (164; vgl. 265). So unterbreche Kunst »die selbstzentrierte Weise der Weltwahrnehmung« nicht nur zeitweise, sondern könne »zu einer nachhaltigen Verwandlung des Selbstverständnisses und der Weise des Selbstvollzuges« beitragen (310; vgl. 60).
Da die Liturgie »bezüglich ihrer Phänomenalität und ihrem Darstellungscharakter« eine ästhetische, anderen Kunstformen vergleichbare Größe ist (39), ermöglicht Henrichs Kunsttheorie eine Deutung der Liturgie, die deren Anspruch, Menschen zu verwandeln (354), nachvollziehbar macht.
Zunächst unterbricht die Liturgie wie jede Form der ästhetischen Weltwahrnehmung den zweckrationalen Zugriff auf die Welt (280). Sie zielt darauf, »einen einseitig chronometrischen Um­gang mit der Zeit zu unterbrechen, der Zeit und das eigene Leben vornehmlich als ökonomisch möglichst umfassend zu nutzende Ressourcen versteht« (375). Im Mitfeiern des liturgischen Formverlaufs werde der Mensch aber nicht nur von sich, sondern auch zu sich befreit, indem im »Nach- und Mitvollzug des Paschamysteriums Christi […] Erfahrungen des je eigenen Lebens aufgerufen und erinnert und im Licht des göttlichen Heilswillens« gedeutet werden (337; vgl. 374). Der Mensch wird in die Geschichte Jesu Christi eingezeichnet – und empfängt dadurch sein Leben als neu gedeutetes neu. So kann das liturgische Leben der Kirche, sofern Menschen sich, wie W. wiederholt betont, in ihrer Freiheit auf dieses einlassen (337; vgl. 325), zu einer »grundlegenden Haltung der Dankbarkeit führen« (320), in der Menschen ihr Leben als sinnvolles erfahren. »Die sichtbare, gegenständliche Realität, in der wir Menschen uns nur allzu leicht in einer selbstgenügsamen Totalität zu verschließen drohen, wird auf die sie tragende, unsichtbare personale Wirklichkeit aufgerissen und von dieser durchleuchtet.« (408)
In der Tat dürfte, wer der Kunst Sinnstiftung und Persönlichkeitsprägung zutraut, diese Wirkungen auch der kirchlichen Liturgie als einem anderen Kunstwerken vergleichbaren ästhetische Wahrnehmung lenkenden Formverlauf zutrauen. Die Besonderheit der Liturgie erkennt W. darin, dass ihr Formverlauf nicht Ausdruck individuellen menschlichen Fragens und Suchens ist, sondern seine Gestalt und Bedeutung »von der Proexistenz Jesu Chris­ti« her erhält (343; vgl. 39). Diese Einsicht, die am Anfang (im An­schluss an Josef Wohlmuth) und am Ende der Arbeit steht, sollte aber auch die im Gespräch mit Henrich gewonnenen fun­-damentalliturgischen Einsichten prägen. Neben den Schöpfungsdank würde dann die schöpfungstheologische Engführung korrigierend und der Feier der Eucharistie entsprechend sowohl die Erinnerung an die Nacht des Verrats und damit die Einsicht in die Erlösungsbedürftigkeit der Welt, ihrer sozialen Systeme (einschließlich der Religion) und der eigenen Existenz treten als auch die Ausrichtung auf den kommenden Herrn. Denn erst durch sein zurechtbringendes Kommen kann die Geschichte gut genannt werden, weshalb der Dank der Eucharistie etwa in der Göttlichen Liturgie des Johannes Chrysostomus nicht in der Gegenwart en-det, sondern die kommende Vollendung einschließt. Erst von der Zukunft Jesu Christi her kann das Leben dankbar angenommen werden.
W. hat eine beachtenswerte liturgieapologetische Arbeit vorgelegt, die das liturgische Handeln im Horizont neuzeitlicher Subjektivitätstheorie deutet. Im Blick auf den gegenwärtigen Diskurs weitet sie damit die philosophische Basis der liturgischen Ästhetik. Es bleibt aber die kritische Frage, ob es ihr gelingt, die Prägung der Liturgie durch die Proexistenz Jesu Christi im Gespräch mit der Subjektivitätsphilosophie Henrichs hinreichend zur Geltung zu bringen. Der von W. erschlossene neue Referenzrahmen liturgischer Ästhetik steht zumindest in der Gefahr, die Liturgie auf den Schöpfungsdank zu reduzieren.