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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

610-612

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hartung, Gerald, Köchy, Kristian, Schmidt, Jan C., u. Georg Hofmeister [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Naturphilosophie als Grundlage der Naturethik. Zur Aktualität von Hans Jonas.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2013. 296 S. = Physis, 1. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-495-48565-1.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Dieser Sammelband geht zurück auf eine gemeinsame Tagung der Universität Kassel, der Hochschule Darmstadt, der FEST in Heidelberg und der Evangelische Akademie Hofgeismar im Jahr 2011. Es geht hier darum, das Werk Hans Jonas’ bezüglich des Verhältnisses von Naturphilosophie und Naturethik in Erinnerung zu rufen, da Hans Jonas in letzter Zeit sehr zu Unrecht aus dem Fokus geraten ist. Da an diesem Sammelband mehr als zehn Autoren mitgewirkt haben, kann es in einer so kurzen Rezension nur darum gehen, einen allgemeinen Eindruck zu vermitteln.
In einem einleitenden Artikel beschreibt der Philosoph Kristian Köchy, ohne zu werten, das Verhältnis von Naturphilosophie und Naturethik bei Jonas. Insgesamt eine sehr wichtige, komprimierte Darstellung, um alles Wesentliche beieinander zu haben.
Es werden dann verschiedene Aspekte von Jonas’ Überlegungen näher beleuchtet. Francesca Michelini z. B. ortet Jonas’ Naturteleologie im mittleren Bereich zwischen bloßer Teleonomie und einer Natur als Handlungssubjekt. Den naheliegenden Einwand des Anthropomorphismus kontert sie mit Jonas so, dass er in manchen Bereichen nicht nur unvermeidlich, sondern sogar fruchtbar sei. Bei ihr, wie in zahlreichen anderen Beiträgen, wird immer wieder betont, dass das Lebendige durch eine an Hegel gemahnende realteleologische Dialektik zwischen Mangel und Befriedigung ge­kennzeichnet sei. Ebenfalls wird immer wieder – ebenfalls zu Recht – die Verwandtschaft von Jonas’ Schichtenontologie mit der von Aristoteles, Scheler und Hartmann hervorgehoben.
In dem Band fehlt auch der theologische Aspekt nicht. Udo Lenzig bringt ihn ein bezüglich des Begriffs der Freiheit, der bei Jonas nicht auf den Menschen beschränkt bleibt. Schon im Stoffwechsel der einfachsten Lebewesen zeige sich eine gewisse Autonomie als ein Beginn von Freiheit. Man könne die Evolution insgesamt als stufenweise Verwirklichung der Freiheit lesen im Sinn eines echten Fortschritts. – Man bedenke, dass die klassischen Darwinisten diesen Begriff eliminiert hatten, ohne dass er deshalb aus der wissenschaftstheoretischen Diskussion verschwinden konnte.
Die meisten Beiträge dieses Sammelbandes verteidigen Jonas gegen sehr naheliegende Einwände. Nicht so der Philosoph Chris-toph Hubig. Er sieht Jonas’ Werk kritisch von einem anthropozentrischen, antiontologischen Standpunkt her. Insbesondere bräuchten wir keinen kategorischen Imperativ des Überlebens, der dann auch noch naturalistisch begründet würde.
Der Darmstädter Philosoph Jan C. Schmidt verteidigt Jonas gegen die Vorwürfe des Alarmismus, der Apokalyptik, der ungenügenden Zeitdiagnose, der schlecht begründeten Metaphysik usw. Jonas’ Konzept sei nach wie vor »unüberholt« (183).
Es werden dann weiter Jonas’ Grundsatzüberlegungen in den Zusammenhang heutiger Diskussionen hineingestellt. Der Ethiker Micha H. Werner z. B. fragt, ob die Tatsache, dass Menschen werten können, ihrerseits ein unbedingter Wert sei, und verneint dies, indem er zugleich auf ähnliche Überlegungen bei Christine Korsgaard und Alan Gewirth verweist. Peter Kunzmann bezieht Jonas’ Konzept auf die heutige Diskussion um die »Würde der Kreatur«, indem er sich auf das Buch »Prinzip Verantwortung« stützt.
Sehr interessant ist auch der Beitrag des Technikphilosophen Stefan Gammel. Er handelt über den Gegensatz zwischen sogenannten »Transhumanisten«, die die technologische »Verbesserung« des Menschen ins Extrem treiben, und ihren Gegnern, den Biokonservativen. Jonas’ Position habe das Unfruchtbare dieses Ge­gensatzes bereits gesehen. Gammel unterschreibt ganz selbstverständlich, wie so viele Autoren dieses Bandes, die These, wonach wir die Naturethik aus einer Metaphysik der Natur ableiten sollten. In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf Jonas’ Argument verwiesen, dass der neugeborene Mensch einen Sollensanspruch an uns stellt, dass also das Sollen im Sein begründet ist. Aber man sieht, dass dies eine Überinterpretation sein muss. Es ist speziell die Verletzlichkeit des Neugeborenen, die uns moralisch in Anspruch nimmt, nicht etwa das Sein im Allgemeinen, wie die Neuplatoniker argumentiert hätten. Wenn man Jonas’ These un­terschreibt, wonach die Naturphilosophie die Grundlage der Na­turethik sein soll, dann vertritt man eine Naturrechtslehre. In der Tat ist in den Texten zuweilen davon die Rede, dass unser Sollen in »der Natur der Dinge« grundgelegt sei. (235)
Der Standardeinwand gegen eine solche Naturrechtslehre läuft darauf hinaus, dass sie mit dem Autonomiedenken der Moderne unverträglich sei. Dies mag zutreffen oder nicht, aber man hätte sich doch vielleicht gewünscht, dass wenigstens einer der Autoren auf diesen gewichtigen Einwand reagiert hätte. Dies umso mehr, als dass man zweifeln kann, ob Jonas wirklich seine Moral aus der Natur gewinnt und nicht vielmehr umgekehrt seinen Naturbegriff aus der Moral. Mehrere Autoren betonen zu Recht, dass Jonas in Wahrheit vom Menschen ausgehe (das Neugeborene war ein Sonderfall davon) und dass er von dort her die Natur teleologisch denke, so z. B. Kristian Köchy (34), Gerald Hartung (76), Ralf Becker (120), Peter Kunzmann (229) u. a. Das heißt: Der Mensch ist für Jonas ein ontologisches Maximum, von dem her das natürliche Sein reduktiv bestimmt wird. Aber dann macht es keinen Sinn mehr, die Moral aus der Natur abzuleiten, und faktisch geschieht das, wie gesagt, auch nicht bei Jonas. Abzüglich dieses einen Kritikpunktes ist aber dieser Sammelband sehr nützlich, wenn es darum geht, Jonas erneut in der heutigen philosophischen Situation zu verorten, und allein, dass er existiert, ist zu begrüßen.