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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

603-605

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Krieg, Gustav Adolf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Deutscher Kirchengesang in der Neuzeit. Eine Anthologie.

Verlag:

Berlin: Verlag der Weltreligionen im Inselverlag 2013. 986 S. Lw. EUR 54,00. ISBN 978-3-458-70040-1.

Rezensent:

Ruth Conrad

Seit einigen Jahren widmet sich der Verlag der Weltreligionen (im Insel Verlag) mit Förderung durch die Udo Keller Stiftung Forum Humanum der verdienstvollen Aufgabe, große, kanonische und traditionsbildende Texte der Weltreligionen einem breiteren Publikum zu erschließen und diese so auch in der öffentlich-kulturellen Wahrnehmung und Erinnerung präsent zu halten. Verdienstvolle Editionen sind in diesem Rahmen entstanden, die auch für den Bereich des Protestantismus Bedeutung beanspruchen dürfen. Dabei wurde die editorische Aufmerksamkeit völlig zu Recht auch auf bislang nicht im Zentrum der allgemeinen Wahrnehmung stehende Texte gelegt. Man denke an die Ausgabe von Schleiermacher-Texten durch Christian Albrecht oder an die hochgelobte Hymnen-Edition durch Axel Stock.
Es ist eine schöne Idee, in diese Reihe auch die Gattung des Gesangbuches aufzunehmen und eine Gesangsbuchanthologie vorzulegen (so der Untertitel; das »s« ist etwas uneindeutig). Denn einerseits ist hinlänglich bekannt, dass Gesangbuch und Kirchenlied zu den großen Kulturleistungen der abendländischen Kirchen, insbesondere der protestantischen Kirchen gehören. Andererseits aber führt trotz dieses unumstrittenen Sachverhaltes die Hymnologie innerhalb der Praktischen Theologie, speziell der (evangelischen) Liturgiewissenschaft zuweilen eher ein Randdasein. Dabei bietet gerade diese Disziplin große Möglichkeiten des interdisziplinären, speziell kulturwissenschaftlichen Anschlusses und damit der entsprechenden Öffnung der Liturgiewissenschaft. So lassen sich im Spiegel von Gesangbuch und Kirchenlied frömmigkeits- und mentalitätsgeschichtliche Entwicklungslinien und Perspektiven konturieren. Sie bilden gleichsam ein »Konzentrat christlicher Frömmigkeitsgeschichte« (595). Hier lassen sich Verbindungen von Theologie, Ästhetik und Literaturwissenschaften (vgl. den Titel »Das Kirchenlied zwischen Sprache, Musik und Religion«, BThZ 2/2011), die Transformationen religiöser Haltungen und Ge­schmackspräferenzen nachzeichnen und Perspektiven der Emotionalität von Frömmigkeit in interkonfessioneller Perspek­tive erheben. Das Gebiet der Hymnologie ist gut geeignet, die Liturgik sowohl mit historischen Perspektiven als auch gegenwartshermeneutisch-kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zu verknüpfen. Eine Anthologie könnte an dieser Stelle sowohl in­nerdisziplinär als auch im Blick auf eine breitere Öffentlichkeit profil- und wahrnehmungsschärfend wirken.
Die von dem Bonner Theologen und Hymnologen Gustav Adolf Krieg herausgegebene Anthologie mit dem Haupttitel »Deutscher Kirchengesang in der Neuzeit« präsentiert aus 65 evangelischen und katholischen Gesangbüchern insgesamt 418 Kirchenlieder. Der gut tausendseitige Band ist in zwei Hauptabschnitte gegliedert: In einem ersten Abschnitt werden »Gesangbücher von der Reformationszeit bis zum 19. Jahrhundert« dokumentiert, der zweite große Abschnitt bietet umfangreiche Kommentare. Diese umfassen einen ausführ-lichen erläuternden Essay zu Bedeutung und Geschichte der präsentierten Gesangbücher und der Kirchenliedentwicklung, ferner editorische Hinweise, Kurzkommentare zu den einzelnen Liedern und ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Leider sind im Ergebnis dieses Aufbaus die verschiedenen zusammengehörenden Hinweise und Informationen bspw. zu einem bestimmten Gesangbuch oder einem Lied über das gesamte Buch verteilt und man muss diese einigermaßen umständlich zusammensuchen. Hier hätte man sich mehr Be­nutzerfreundlichkeit gewünscht.
Dokumentation und erläuternde Darstellung setzen ein mit dem Reformationsjahrhundert. Da das Gesangbuch in seiner breitenwirksamen Präsenz als »Kind der Reformationszeit« gelten kann und hymnologische Gattungen, die bereits im Mittelalter präsent waren, im Kommentar teils vorgestellt werden und auch in der dokumentierenden Auswahl Berücksichtigung finden, ist diese Abgrenzung plausibel. Vorgestellt werden die bekannten Gesangbücher im Umfeld Luthers, lutherische Sondergattungen, die Entwicklungen bei den Böhmischen Brüdern und in der oberdeutschen und Genfer Reformation sowie die in dieser Phase entstehenden katholischen Gesangbücher von Michael Vehe, Johann Lei­sentrit und Caspar Ulenberg. Ein nächster großer Abschnitt umfasst Gesangbuch und Kirchenlied der Gegenreformation und des Konfessionalismus. Hier findet man erwartungsgemäß Ge­sang­bücher aus dem Umfeld der Jesuiten, dann Friedrich Spee, Johannes Scheffler (Angelus Silesius) sowie auf Seiten des Protes­tantismus u. a. Philipp Nicolai, Johann Heermann und Johann Rist sowie sehr ausführlich die Gesangbücher von Johann Crüger. Bei der Darstellung des Pietismus liegt ein Schwerpunkt auf den Ausgaben des Geist=reiche[n] Gesangbuch[es] aus Halle sowie den Gesangbüchern der Herrnhuter Brüdergemeine. Aber auch darüber hinaus kann man hier einiges entdecken: die Etablierung einer hymnologischen Jesusfrömmigkeit (vgl. z. B. das Dialoglied von Andreas Gotter zwischen der Seele und Jesus, Nr. 236) oder die ausführliche Präsentation der in späteren Gesangbüchern ge­tilgten Blut-und Wundenmetaphorik in Texten von Zinzendorf (vgl. z. B. die Umdichtung von Wie schön leuchtet der Morgenstern in Wie schön leuchtet der Wundenstern, unter Nr. 276, insbesondere Str. 2). Unter einer weiteren Rubrik wird die Entwicklung in der Aufklärungsepoche dargestellt – Gellert und Klopstock werden eigens gewürdigt sowie die bekanntlich einschneidenden Veränderungen in den landeskirchlichen Gesangbüchern sowie derer einzelner Stadtgemeinden wie das Christliche Gesangbuch zur Beförderung öffentlicher und häuslicher Andacht (Bremen 1812). Dazu tritt hier wieder die Entwicklung im katholischen Bereich. Am Beginn des 19. Jh.s bricht mit Ernst Moritz Arndt und Joseph Mohr die Dokumentation ab, denn, so der Herausgeber, mit dem frühen 19. Jh. beginne »die Gegenwart der Gesangbuchliteratur« (813) und diese ist offensichtlich nicht mehr Gegenstand der Darstellung und dann wohl auch nicht mehr Teil der »Neuzeit«. Dieser »Abbruch« wirkt abrupt und bleibt argumentativ wenig überzeugend. Ge­wiss, der Platz ist beschränkt und 1000 Seiten sind schon mehr als genug, aber wenn beinahe 200 Jahre völlig ausgeblendet werden, so führt das zu Verzerrungen und markante Entwicklungen verschwinden gleichsam in einem schwarzen Loch. Es ist nun eben doch nicht so, dass nach den Publikationen von Arndt und Mohr (Nr. 590–592) keine Gesangbücher von Relevanz und von spezifischer Aussagekraft entstanden, die sich umstandslos unter »Vorgeschichte« verrechnen ließen. Auch das Kirchenlied hat entscheidende Weiterentwicklungen erfahren: Neue Themen verschafften sich Raum, Impulse z. B. aus der Ökumene wurden rezipiert und verarbeitet, neue Geschmacksrichtungen haben sich Geltung verschafft und sind dann auch wieder verschwunden (z. B. Singbewegung, Wandervogel). Dass all dies fehlt, bleibt rätselhaft.
Die ausführlichen Erläuterungen machen den Leser mit dem charakteristischen Verschiebungen in der Rubrizierung und im Aufbau der Gesangbücher vertraut, stellen ihm die Liederdichter, Herausgeber, Verleger und Motivationen wie Intentionen in der gebotenen Kürze vor. Hier erweist sich Krieg als Kenner des hymnologischen Stoffes. Über die Entwicklungslinien der Gesangbuchkultur wie des Liedschaffens wird ein kulturell interessierter Leser hier gut informiert. Gelegentlich stolpert man im gesamten Kommentarteil über die Neigung zum saloppen, manchmal auch etwas undifferenzierten Urteil, z. B. das Urteil, Luther habe als »politisch Konservative[r] auch musikalisch ständischer gedacht als seine Rede vom allgemeinen Priestertum vermuten läßt« (617), oder wenn der Text von Heinrich Chr. Hölty Üb immer Treu und Redlichkeit ohne nähere Begründung als »klischeehaft, […] aber lange ungemein volkstümlich« (Lied Nr. 350, 916) qualifiziert wird.
Insgesamt bleibt das Auswahlprinzip der Lieder etwas uneindeutig. Dass eine Dokumentation, die beabsichtigt, die heterogene Welt der Gesangbücher zu erschließen, deren Liedgut präsentieren muss, leuchtet unmittelbar ein. Auch dass zu diesem Zweck ausgewählt werden muss, steht nicht zur Debatte. Und auch, dass wer auswählt, Entscheidungen treffen muss, Entscheidungen, die andere anders treffen würden, ist hinlänglich bekannt. Auch dass die Textgrundlage wenn möglich nach der Erst- oder einer zeitlich nahestehenden Folgeauflage erfolgt, liegt nahe. Freilich erschließt es sich dem Leser nicht durchgängig, nach welchem inhaltlichen oder methodischen Prinzip die Lieder aus dem jeweiligen Gesangbuch ausgewählt wurden. Bewusst sollte keine »Hitliste« vorgelegt werden, sondern es sollten Kirchenlieder präsentiert werden, die epochenrepräsentativ und damit immer auch epochenspezifisch sind. So bietet der Band zahlreiches heute nicht mehr bekanntes Liedgut. Nicht immer aber ist einsichtig und selbsterschließend, warum der Leser dieses oder jenes zu Recht vergessene Lied zur Kenntnis nehmen muss. Im wissenschaftlichen Diskurs kann und muss man sich mit diesen Texten auseinandersetzen. Ob freilich eine Anthologie, die die kulturprägende Kraft des Kirchenliedes zu würdigen beabsichtigt, für eine Präsentation solcher Texte der richtige Ort, ist zumindest eine offene Frage. Man kann sich hier gelegentlich des Eindrucks der Beliebigkeit und Zufälligkeit nicht erwehren, auch was die nur partielle Beigabe der Melodien betrifft. Zwar sind die Fundorte der Melodien angegeben, aber diese sind nicht jedem Benutzer umstandslos zugänglich. Vermutlich wäre eine Entscheidung entweder Kirchenlied- oder Gesangbuchanthologie hilfreich und klärend gewesen.
Dennoch: Das Signal ist gesetzt – aus der Dokumentation und dem Diskurs religiöser Texte im interreligiösen Horizont ist das Kirchenlied nicht auszuklammern.