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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

587-589

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Chaillot, Christine [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Orthodox Church in Eastern Europe in the Twentieth Century.

Verlag:

Bern: Peter Lang 2011. XVIII, 464 S. Kart. EUR 59,40. ISBN 978-3-0343-0709-3.

Rezensent:

Erich Bryner

Ziel des Buches ist es, eine Einführung in die Geschichte der Orthodoxen Kirchen im 20. Jh. in den 19 Ländern Europas zu geben, in denen sie als eigenständige Kirchen etabliert sind. Die Artikel stammen von Vertretern ihrer Kirchen, die meisten in englischer Sprache. Die Geschichte der Kirchen wurde in engem Kontext zur politischen Geschichte dargestellt.
Metropolit Andreas Nanakis, ein ausgewiesener Kirchenhistoriker aus Kreta, verfasste die Ausführungen über das Patriarchat Konstantinopel. Sie bringen die Grundzüge und viele Einzelheiten über die politischen und kirchenpolitischen Hintergründe in der Geschichte des Patriarchates. Theologische Entscheidungen wie die Aufhebung des Bannes von 1054 unter Athenagoras I. und Papst Paul VI. werden nur sehr knapp erwähnt oder – wie die ökumenische Initiative von 1920, die Kirchen sollten einen Kirchenbund analog zum Völkerbund bilden – überhaupt nicht. Deutlich wird, dass das Patriarchat Konstantinopel mit seinen heute nur noch etwa 4000 Kirchengliedern in der Türkei seit dem Vertrag von Lausanne 1923 sehr schwere Zeiten durchzumachen hatte.
Die griechische Kirche durchlief ebenfalls eine komplizierte Geschichte, die von großen politischen Konflikten wie dem griechisch-türkischen Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, von Phasen der Demokratie und von drei Diktaturen geprägt war, wie Archimandrit Grigorios Papathomas (Athen) ausführt. Häufig stand die Kirche im Streit mit der Staatsregierung. Die Statuten von 1977 definierten die Rollen der beiden Parteien. Probleme gab es dennoch bis in die neueste Zeit hinein, z. B. durch die Forderung der Europäischen Union, die Religionszugehörigkeit in den Personalausweisen zu streichen. Unter den wichtigsten theologiegeschichtlichen Er­eignissen werden u. a. die Einführung des neuen Kalenders 1922, der 1. Athener Theologenkongress 1936, die neusten ökumenischen Kontakte mit Rom seit dem Besuch von Papst Johannes Paul II. 2001 in Athen genannt. Die Rolle der Bruderschaften wird gewürdigt.
Die Artikel über die bulgarische, serbische und rumänische Kirche zeigen die komplizierten Entwicklungen der Kirche in den Monarchien der Zwischenkriegszeit, der kommunistischen Jahrzehnte und in den Jahren nach der Wende auf. Bemerkenswert sind die präzisen Angaben über die Unterdrückung der Kirche in den kommunistischen Jahrzehnten im Rumänien-Artikel des Altmeisters der rumänischen Kirchengeschichte Mircea Păcurariu, in dem er aufzeigt, dass keine religiöse Manifestation stattfinden konnte ohne die Zustimmung und die Überwachung durch die Securitate. Einschneidende Jahre der Verfolgung waren 1948/49 und 1958/59. Demgegenüber bleibt der Artikel über die serbische Kirche, verfasst von Predrag Puzovi, an der Oberfläche. Der Autor geht den heiklen theologischen und kirchenpolitischen Problemen in den ersten Jahren der kommunistischen Zeit und im Balkankrieg der 1990er Jahre aus dem Weg. Von Todor Sabev hätte man über die Kirchenverfolgungen in Bulgarien nach dem Zweiten Weltkrieg und die Spannungen innerhalb der Kirche nach der Wende gerne Genaueres erfahren.
Eindrücklich ist das Kapitel über Albanien, das Metropolit Anastasios (Yanoulatos), das Oberhaupt der Albanischen Orthodoxen Kirche, persönlich beigesteuert hat. Er bezeichnet die Religionsverfolgungen in der kommunistischen Zeit als »die brutalsten, die je eine Kirche zu erdulden hatte« (138). 1967 erklärte Parteichef Enver Hoxha sein Land zum »ersten konsequent atheistischen Staat der Welt«. Alle Kirchen waren geschlossen, es gab kein offizielles liturgisches Leben mehr und jede noch so bescheidene Äußerung von religiösem Glauben wurde hart bestraft. Nach der Wende wurde der erste orthodoxe Gottesdienst im Dezember 1990 in einem südalbanischen Dorf gefeiert, doch es war niemand mehr da, der den Wiederaufbau der Kirche vom Nullpunkt an hätte in die Hände nehmen können. Deswegen beauftragte der Patriarch von Konstantinopel den griechischen Theologen Anastasios mit dieser Aufgabe; er beschreibt aus persönlicher Sicht, mit welchen Schwierigkeiten er konfrontiert war.
Auch die Orthodoxen der weißrussischen Eparchien hatten schreckliche Zeiten durchzumachen, wie Feodor Krivonos von der Theologischen Akademie Minsk in seiner nüchternen und faktenreichen Übersicht zeigt. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte ein Teil des heutigen Weißrussland zur Sowjetunion, ein Teil zur Republik Polen. Die Verfolgungen im sowjetischen Teil waren dermaßen heftig, dass dort vom Sommer 1939 an nirgends mehr offiziell Gottesdienste stattfanden; in Polen hatten die Orthodoxen unter massiven Repressionen, verbunden mit Kirchenschließungen durch die römisch-katholischen Behörden zu leiden. Unter der Besetzung der Nationalsozialisten wurden Kirchen, Klöster und theologische Schulen geöffnet, danach unter strenger Aufsicht ge­duldet, unter Chruschtschew zumeist wieder geschlossen. Ein religiöser Frühling und ein Wiederaufbau der kirchlichen Strukturen setzten mit der Perestojka 1987 ein. 2005 verfügte die zum Patriarchat Moskau gehörende autonome orthodoxe Kirche in Weißrussland über 1220 Gotteshäuser, 1325 Kirchgemeinden und mehrere theologische Lehranstalten.
Ebenso dramatisch, aber strukturell noch komplizierter waren die Verhältnisse in der Ukraine, wie Sophia Senyk, Dozentin am Istituto Orientale in Rom, zeigt. Mit der Eingliederung der Ukraine in die Sowjetunion begann eine Zeit grausamer Verfolgung. Im »Reichskommissariat Ukraine« 1941–1944 wurde es der Kirche erlaubt, Gotteshäuser, Klöster, geistliche Schulen wieder aufzubauen und ein geordnetes kirchliches Leben zu gestalten, doch danach folgten auch in der Ukraine – nach einer Zeit relativer Duldung – scharfe administrative Maßnahmen gegen die Kirchen mit dem Ziel, das religiöse Leben auszulöschen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte sich die Orthodoxe Kirche wieder aufbauen, die Kirche brach aber in drei Jurisdiktionen auseinander.
Der Beitrag über Russland stammt aus der Feder von Michail Škarovskij, Professor an der Universität St. Petersburg und Direktor des zentralen Staatsarchivs St. Petersburg. Die Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche zu Beginn des 20. Jh.s und in der Sowjetunion ist ausführlich dargestellt und sehr gut dokumentiert. Die atheistische, antikirchliche Politik der Sowjetbehörden wird in ihren verschiedenen Phasen präzis nachgezeichnet. In den Jahren des Stalinterrors wurden dermaßen viele Geistliche verhaftet und ermordet, dass die Kirche als Organisation 1938 praktisch vernichtet war. Nach einer gewissen Wiederbelebung in den 1940er und 1950er Jahren folgten die massiven Kirchenschließungen unter Chruschtschew, die Stagnation unter Breschnew und die Perestrojka unter Gorbatschew. Diese und die 1990er Jahre werden nur noch sehr kurz behandelt Die Wiedererstehung der Kirche nach 70 Jahren harter Verfolgung und die damit verbundenen Probleme hätten eine ausführlichere Darstellung verdient. – Auch die Artikel Zypern, Moldawien, Ungarn, Tschechien und Slowakei, Polen, die Baltischen Staaten und Georgien zeigen das komplizierte Geflecht von Staat und Kirchen auf.
Die meisten Artikel sind sehr instruktiv, doch sie sind recht uneinheitlich ausgefallen. Wahrscheinlich waren die redaktionellen Vorgaben zu weitläufig. In allen Beiträgen, in denen von den Kirchenverfolgungen in kommunistischer Zeit die Rede ist, wird deutlich, wie Fedor Krivonos bemerkte, »dass selbst die glühendsten Verfolgungen, die von den atheistischen Autoritäten entfesselt worden waren, den Willen nicht vernichten konnten, den zu erkennen, der auf Erden Mensch geworden ist« (321). Das Gesamtbild ist informativ, differenziert, wissenschaftlich zuverlässig und in weiten Passagen sehr eindrücklich.