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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

585-587

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Baring, Arnulf

Titel/Untertitel:

Der Unbequeme. Autobiografische Notizen. 2. Aufl.

Verlag:

München u. a.: Europa Verlag 2013. 397 S. Geb. EUR 21,90. ISBN 978-3-944305-12-7.

Rezensent:

Martin Greschat

Arnulf Baring, Journalist, Politikwissenschaftler, Zeithistoriker und weit über die Grenzen seiner Fachgebiete hinaus bekannt als unentwegter Kommentator insbesondere der deutschen Szenerie, möchte mit diesem Buch »in autobiografischen Skizzen politische Ansichten zur Diskussion« stellen (7). Das geschieht in sechs Kapiteln, in denen sich durchgängig der Bericht über seinen Lebensweg mit politischen Reflexionen mischt. Bereits im 1. Kapitel (»Die deutsche Wunde«, 20–92) wird der Ton angeschlagen, der die gesamte Darstellung durchzieht: Neben der Schilderung seines familiären Hintergrunds, der Beschreibung des Infernos des Un­tergangs Dresdens und der Schrecken des Kriegsendes im Osten steht die – angeblich erst durch die Studentenbewegung bewirkte– Klage über die Preisgabe eines gesunden deutschen Nationalbewusstseins. Die Frage der Schuld habe damals viele Menschen nur am Rande bewegt, erfahren wir über die Nachkriegszeit (»Mangeljahre, geistig anregend«, 93–158). Man war schlicht mit den Schwierigkeiten des Überlebens beschäftigt! Treffend charakterisiert B. ein Grundgefühl jener Generation: das Wissen, dass der heutige Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist (91 f.); und Dankbarkeit gegenüber den Amerikanern, die damals das Überleben der Westdeutschen sicherten (128). Als besonderes Geschenk erfuhr B. zwei jeweils einjährige Studienaufenthalte in den USA und in Frankreich.
Im Mittelpunkt des 3. Kapitels (»Kurswechsel unter vollen Se­geln«, 159–211) steht seine Abkehr von der Jurisprudenz, die Tätigkeit als Journalist beim WDR und die Hinwendung zur Zeit-geschichte, verstanden als das Bemühen, mit Zeitgenossen und Zeitungen »ein lebendiges Bild zeitgenössischer Politik« zu entwerfen (167) – wobei die Gestalt des Bundeskanzlers Konrad Adenauer ein Lebensthema wurde. Von der zerstörerischen Verwirrung der Berliner Studentenbewegung ist dann die Rede, aber auch vom Reichtum der Westberliner Geselligkeit. Das Kapitel endet mit einer Würdigung Sebastian Haffners: »Bei ihm lässt sich lernen, was zu bedenken, vor allem aber, was zu unterlassen ist, wenn wir in Europa konstruktiv wirken wollen.« (209 f.)
Um »Politik, aus der Nähe gesehen« geht es im folgenden Kapitel (212–273). B. schildert sein Engagement in der Wählerinitiative für Willy Brandt und dessen gehemmte Einsamkeit, charakterisiert Herbert Wehner und lobt Walter Scheel, berichtet von seiner Entdeckung der mitteldeutschen Landschaft und Kultur, beschreibt seine Freude über die Wiedervereinigung und stellt schließlich im Blick auf seine Studenten fest, »dass wir ein Volk ohne Geschichte, ohne Wurzeln sind« (255). Um diese Thematik kreist ausführlich das 5. Kapitel (»Was mich bewegt«, 274–344). B. beklagt hier einmal mehr den fehlenden deutschen »Nationalstolz« und geißelt mit harten Worten die deutsche »Schläfrigkeit (275), »Denkfaulheit« (326) und »kommunikative Verwahrlosung« (330) aufgrund des sklavischen Bemühens um politische Korrektheit. Ausführlich ist von der Krise des Sozialstaats die Rede und vollends von der Misere Europas sowie des Euros. Originell sind diese Darlegungen nicht, sie erheben sich kaum über das Niveau des verbreiteten Räsonierens in der deutschen Gesellschaft. Das gilt aufs Ganze gesehen auch für die Ausführungen des letzten Kapitels (»Glaube, Liebe, Hoffnung«, 345–389). Am Ende ist ausführlich von Ehe, Familie und Freundschaft die Rede, von der Liebe und B.s Ich. Vorangestellt sind Überlegungen des »Protestanten im Zweifel« (345–351). Sie erscheinen mir bemerkenswert: nicht, weil sie außergewöhnlich, sondern weil sei so weit verbreitet sind. Ein Wissen um ein Gehaltensein durch eine höhere Macht, ein Leben der Verantwortung in der Welt sowie die Sehnsucht nach schweigender Verbundenheit mit Gott nennt B. als den Grundbestand seiner protestantischen Herkunft. Doch auch gemessen an diesen Kriterien kommen bei ihm die evangelische Kirche und Theologie schlecht weg. Ihnen fehlen, erfahren wir, die Rituale, die Dimension des Meditativen. Und als vollends negativ gilt die Hochschätzung des Wortes. So urteilt ein Journalist, ein Hochschullehrer, ein Intellektueller, dessen Handwerkszeug und Medium doch gerade das Wort ist! Natürlich gibt es im Protestantismus den Missbrauch des Wortes, auf der Kanzel, neben und unter ihr! Aber es ist doch wohl eine kaum zu Ende gedachte Auffassung, dass die Konzentration auf das Wort »einen Geburtsfehler des Protestantismus« ausmacht (350). Es ist hier nicht der Ort, gewichtige Gegenbeweise auszubreiten. Erst recht muss jetzt nicht entfaltet werden, dass mangelnde Lebensfreude oder gar »düstere, verbiesterte, dogmatische Bösartigkeit im Kampf besonders linker Gruppen« wesentlich auf den Protestantismus zurückzuführen seien (361). Wie gesagt, solche Vorurteile haben nur begrenzt Anhalt an der Wirklichkeit, aber sie sind nichtsdestoweniger in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Ihnen zu begegnen, dürfte eine wichtige Aufgabe für die evangelische Kirche und Theologie sein. B. spricht hier jedenfalls auch in dieser Hinsicht weniger unbequeme Wahrheiten aus als vielmehr weit verbreitete und eben darum als wahr und richtig angesehene Überzeugungen.