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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

581-583

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Waters, Guy

Titel/Untertitel:

The End of Deuteronomy in the Epistles of Paul.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. IX, 302 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 221. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-148891-7.

Rezensent:

Enno Edzard Popkes

Diese Studie von Guy Waters, die aus einer von Richard B. Hays betreuten Dissertation hervorgegangen ist, widmet sich einem zentralen Thema der Paulusforschung, nämlich der paulinischen Schrifthermeneutik. Sie folgt einer Zugangsperspektive, die in den themenspezifisch relevanten Diskursen seit geraumer Zeit sukzessive in den Vordergrund tritt. Hierbei handelt es sich um die Einsicht, dass die paulinische Schrifthermeneutik nicht angemessen erfasst werden kann, wenn man den Umgang des Heidenapostels mit seiner Heiligen Schrift nur generell betrachtet, sondern dass auch die unterschiedlichen Rezeptionsformen einzelner Schriften bzw. Schriftpassagen der jüdischen Bibel im Kontext paulinischer Argumentationen herausgearbeitet werden müssen (neben den einschlägigen Beiträgen von Hays sei exemplarisch verwiesen auf die Studien von Florian Wilk und Ross Wagner zur paulinischen Jesaja-Rezeption und von Richard Bell zu Dtn 32). Mit dieser methodischen Prämisse widmet sich W. einer Facette der paulinischen Tora-Interpretation, nämlich der Rezeption von Dtn 27–30 bzw. Dtn 32.
Die Studie ist in sechs Kapitel untergliedert, die jeweils eine klare Struktur und Argumentation erkennen lassen. Im Rahmen seiner thematischen und methodologischen Vorüberlegungen skizziert W. die wesentlichen Aspekte der Diskussionen zur paulinischen Schrifthermeneutik und begründet seine thematische Begrenzung auf die genannten Texte (1–28). Dtn 27–30.32 wird einerseits deshalb ausgewählt, weil sich in den paulinischen Briefen eine Vielzahl von Zitaten und Allusionen zu Facetten dieses Textbereiches erkennen lassen (zu ihrer Identifikation vgl. auch die Tabelle in der Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse 234–236). Andererseits können gerade die in diesem Kontext vorliegenden Ausführungen zur Bundestreue Israels bzw. zur Bedeutung der Gesetzesobservanz als mögliche Ansatzpunkte verstanden werden, auf welche etwaige Kontrahenten des Heidenapostels im Zuge einer Diskreditierung der paulinischen Theologie hätten rekurrieren können. Im zweiten Kapitel arbeitet W. zunächst die Stellung und Funktion von Dtn 27–30.32 im Kontext des deuteronomistischen Geschichtswerkes heraus (29–42), um daraufhin unterschiedliche Formen von Interpretationen bzw. Reformulierungen darzustellen, die diese Texte im Spektrum frühjüdischer Traditionsbildungen erfahren konnten (43–75). Vor diesem Hintergrund wendet sich W. in den folgenden Kapiteln den paulinischen Aufnahmen von Dtn 27–30.32 zu. Während Kapitel 3 bzw. 4 den Zitaten und Allusionen im Galaterbrief (Gal 3,1.13), dem 1. Korintherbrief (1Kor 10,20 bzw. [strittig] 1Kor 4,21) und dem Philipperbrief (Phil 2,15) gewidmet sind, werden in dem mit Abstand ausführlichsten Kapitel 5 die relevanten Züge im Römerbrief analysiert. Letzteres kann als das thematische Kernstück der Studie verstanden werden, da Paulus im Römerbrief sieben deutliche Rekurse auf Dtn 27–30.32 vornimmt, die an Schlüsselstellen seiner Argumentationen begegnen (vgl. die Bezüge zwischen Röm 10,8–10 und Dtn 30,11–14 [162–184], Röm 10,19 und Dtn 32,21a [185–198], Röm 11,8 und Dtn 29,4 LXX [199–205], Röm 11,11–16 und unterschiedlichen Motivaspekten von Dtn 32 [206–215], Röm 12,19 und Dtn 32,43 [216–223] sowie Röm 15,10 und Dtn 32,43 [231]). Abgeschlossen wird die Studie durch eine gut aufbereitete Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse (233–250) und konstruktive Hinweise, welche weiteren Aspekte der paulinischen Schrifthermeneutik angesichts der von W. herausgearbeiteten Thesen lohnend erscheinen (250–253 [diesbezüglich sei vor allem auf die Konvergenzen und Divergenzen zwischen den Rezeptionen von Dtn 27–30.32 in den paulinischen Schriften und dem Hebräerbrief hingewiesen, die W. zufolge die Frage aufwerfen, in welchem traditionsgeschichtlichen Verhältnis diese Konzeptionen standen]).
Neben dem klaren Aufbau bieten detaillierte Register Hilfe bei der Erschließung der Studie. Kritisch anzumerken ist, dass die von W. wahrgenommene Forschungsliteratur sich vor allem auf englischsprachige Diskurse bezieht. Jüngere deutschsprachige bzw. sonstige nicht-englische Diskussionsbeiträge werden nur selektiv wahrgenommen. Zu bemängeln ist zudem, dass bei der Erstellung der Druckvorlage offensichtlich eine Fülle falsch gesetzter Spatii stehen geblieben sind (z. B. 4 [Abschnitt 1.2.1], 8 [Abschnitt 1.4.1], 19 etc.). Das behindert zuweilen deutlich den Lesefluss.
Nichtsdestotrotz kann die Studie als wichtiger Diskussionsbeitrag betrachtet werden. W. zufolge zeigt sich an der Rezeption von Dtn 27–30.32, dass Paulus die Texte seiner jüdischen Bibel nicht undifferenziert auf der Ebene der Rezeption wahrnahm, sondern dass er das Eigengewicht einzelner Texteinheiten erkannte und zur Geltung brachte. So zeige sich z. B. im Zusammenhang der Rekurse in Gal 3,10.13; Röm 10,6–8; 11,8, dass Paulus Dtn 27–30 als eine in sich geschlossene Aussageeinheit verstand (237 f.). Gleiches gelte für die Rezeption des sogenannten Moseliedes Dtn 32, dass W. zu-folge von Paulus ebenfalls als eigenständige Aussageeinheit angesehen wurde. Dieser Einschätzung entspricht nach W. auch das Phänomen, dass sich zu dem zwischen den genannten Texteinheiten angeordneten Kapitel Dtn 31 in den paulinischen Briefen keine Zitate bzw. Allusionen finden (238 f., ähnlich bereits Richard Bell in Bezug auf Dtn 32). Zudem erkennt W. in den paulinischen Rezeptionen von Dtn 27–30.32 einen Reflexionsfortschritt, der schließlich in den Schriftrekursen in Röm 9–11 zur heilsgeschichtlichen Stellung Israels seinen Höhepunkt erreicht (239). Adaptionen von Dtn 27–30.32 dienen Paulus jedoch nicht nur zur Reflexion bzw. Legitimierung seines theologischen Selbstverständnisses, sondern ebenso zur Instruktion und Ermahnung. Während er z. B. in Röm 12,19 in Rekurs auf Dtn 32,35 seine Adressaten dazu er­mahnt, erfahrenes Unrecht nicht zu vergelten (216 ff.), sondern Gott anheimzustellen, reflektiert er in Röm 15,10 anhand von Dtn 32,43 das gegenseitige Verhalten zwischen den sogenannten starken und schwachen Mitgliedern in den stadtrömischen Gemeinden (223 ff.).
Die skizzierten Strukturen der paulinischen Schrifthermeneutik fallen dabei keinesfalls aus dem Rahmen frühjüdischer Schrift­hermeneutik. Dies gilt einerseits dafür, wie Paulus Tora-Zitate mit weiteren Schriftzitaten kombiniert, die unterschiedlichen Kanonteilen zuzuordnen sind, zeigt sich aber auch an der Interpretation der Mose-Figur als einer prophetischen Gestalt bzw. an bundestheologischen Reflexionen, die auf Dtn 27–30.32 basieren (vgl. 75–77 bzw. 244–246). Besondere Beachtung verdient in diesen Zusammenhang das Urteil, dass die bei Paulus belegten Zitat-Kombinationen zwar strukturell mit zeitgenössischen frühjüdischen Zeugnissen übereinstimmen, aber nicht von frühjüdischen, geschweige denn von frühchristlichen Testimoniensammlungen ab­hängig sind. Gerade an seinen Zitat-Kombinationen zeige sich vielmehr, wie kreativ Paulus im Zeichen seiner theologischen Neuorientierungen mit seiner jüdischen Bibel zu argumentieren weiß. In dieser Hinsicht bestätigen die Arbeitsergebnisse von W. Einschätzungen, die in der jüngeren Paulusforschung, nicht zuletzt im Zuge der New Perspective on Paul bzw. in kritischer Auseinandersetzung mit ihr, herausgearbeitet wurden, vor allem, dass Paulus auch als Theologe des frühen Christentums von seinen jüdischen Wurzeln geprägt blieb.