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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

52–55

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd u. Dagmar Winter

Titel/Untertitel:

Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. XII, 348 S. gr.8 = Novum Testamentum et Orbis Antiquus, 34. Lw. DM 98,-. ISBN 3-7278-1129-3 u. 3-525-53936-3.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Die Auseinandersetzung mit dem historischen Jesus ist für Christen ein zentrales Thema. Soll sie sinnvoll und vernünftig verlaufen, so muß sie bereits im Vorfeld ihre methodischen Voraussetzungen und Möglichkeiten kritisch reflektieren. Die vorliegende Studie will Anleitung zu solcher Methodenreflexion geben. Sie ist eine Gemeinschaftsarbeit von Gerd Theißen und seiner Schülerin Dagmar Winter, einer anglikanischen Theologin. Diese Kooperation gibt schon äußerlich der Tatsache Ausdruck, daß die einst als Domäne deutscher Wissenschaft geltende Jesusforschung in den letzten zwei Jahrzehnten ihren Schwerpunkt in englischsprachige Länder verlegt hat.

Zwischen beiden Autoren gab es eine klare sachliche Aufgabenteilung, wenn auch ihre Beiträge im Aufriß formal ineinander verschränkt erscheinen. Von Th. stammen die Gesamtkonzeption sowie die als methodenkritische Grundsatzstudie angelegten Teile I, III und IV. Der Beitrag von W. - ursprünglich eine Heidelberger Dissertation - ist als Teil II dazwischengeschaltet und bietet eine forschungsgeschichtliche Untersuchung.

Th. unterscheidet vier Phasen in der Jesusforschung seit der Aufklärung. Der ersten, deren Hochblüte in der liberalen Theologie des 19. Jh.s lag, ging es um "die Darstellung eines historisch wahren Lebens Jesu, das theologisch als kritische Potenz gegenüber kirchlicher Christologie fungierte" (1). Bestimmend für die zweite Phase war das Bündnis von Kerygmatheologie und Formgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jh.s, das zu einer Krise des historischen und theologischen Interesses an Jesus führte und das Kerygma von Jesus für allein theologisch relevant erklärte. Als Protestbewegung dagegen entwickelte sich in den 50er Jahren in einer dritten Phase die sogenannte "neue Frage" ("New Quest"), deren Interesse sich auf die Kontinuität zwischen dem historischen Jesus und dem nachösterlich geglaubten Christus der Kirche konzentrierte. Eine vierte Phase zeichnete sich schließlich seit 1980 im angelsächsischen Sprachraum ab. Dort hatte sich - trotz A. Schweitzer und R. Bultmann - das Interesse am historischen Jesus ungebrochen durchgehalten. Es war wohl nicht zuletzt ein Zeichen des gewachsenen Selbstbewußtseins gegenüber der deutschen Theologie, daß man hier "erst recht" das "in deutschen Fachkreisen vermiedene Thema des historischen Jesus" behandelte (5). Für diese als "dritte Frage" ("Third Quest") bezeichnete Phase, war einerseits die Distanz zu kirchlich-dogmatisch motivierten Fragestellungen, andererseits das Bemühen um eine Ortung Jesu im Kontext der Real- und Sozialgeschichte Palästinas kennzeichnend.

Welche Kriterien spielten in diesen vier Phasen der Jesusforschung eine Rolle? Dies ist die Ausgangsfrage der Untersuchung. Die Antwort Th.s in Teil I läßt sich in den folgenden vier Thesen zusammenfassen:

1) Obwohl es auf den ersten Blick den Anschein hat, als hätten sich mindestens drei Kriterien, nämlich Quellenwert-, Differenz- und Kohärenzkriterium, als allgemein anerkannt und gleichwertig durchgesetzt, so erweisen sich diese bei näherem Zusehen keineswegs als gleichrangig. So ist der Quellenwert kein echtes Kriterium. "Quellenwertargumente beurteilen die Auswertbarkeit von Quellen (oder ihre Wertlosigkeit) für eine Rekonstruktion der Geschichte, führen aber deren Auswertung nicht selbst durch" (12). Sie sind nicht direkt als positive Echtheitskriterien einsetzbar, allenfalls als negative Unechtheitskriterien. Was das Kohärenzkriterium anlangt, das den Umfang des echten Jesusgutes ausweitet, indem es (aufgrund sachlicher, biographischer und traditionsgeschichtlicher Erwägungen) Stoffe für echt erklärt, die mit dem als authentisch erkannten Überlieferungskern übereinstimmen, so erweist es sich eben von einer vorgängigen Entscheidung über diesen Überlieferungskern abhängig. Diese Entscheidung aber wurde aufgrund des Differenzkriteriums getroffen, das jenes Jesusgut für authentisch erklärte, das sich weder aus dem Judentum, noch aus demUrchristentum ableiten ließ. Somit erweist sich das Differenzkriterium real als das einzige Kriterium.

2) Das Differenzkriterium ist in sich nicht einheitlich. Es handelt sich vielmehr um "zwei grundsätzlich verschiedene und auch verschieden zu begründende Kriterien" (19), für die Th. die Kürzel DKC und DKJ einführt: Das DKC bezieht sich auf die Differenz zwischen Jesus und der nachösterlichen christlichen Geschichte, das DKJ hingegen auf das Judentum und die jüdische Umwelt Jesu.

3) Beide Varianten des Differenzkriteriums gehen auf prinzipielle hermeneutische Vorentscheidungen zurück. So gründet das DKC in der dogmenkritischen Haltung der Jesusforschung des 18. und 19. Jh.s. Der historische Jesus, den man suchte, war ein Jesus, der in Differenz zum Christus der kirchlichen Quellen stand. Bei der Entwicklung des DKJ spielte eine individualisierende Sicht auf die Einmaligkeit und Größe geschichtswirksamer Persönlichkeiten zusammen mit dem traditionellen kirchlichen Antijudaismus: Um die Individualität Jesu zum Leuchten zu bringen, bedurfte es des Judentums als des dunklen Hintergrundes.

4) Das Differenzkriterium hat, obwohl es seine programmatische Formulierung erst im Rahmen der "neuen Frage" nach dem historischen Jesus durch E. Käsemann erfuhr, faktisch die gesamte neuere Jesusforschung beherrscht. Erst die "dritte Frage" leitete einen fundamentalen methodischen Umbruch ein. In ihrem Bereich nämlich kam es "zur schleichenden Erosion des Differenzkriteriums" (6), die sich vor allem in einer Inversion des DKJ auswirkte: insofern nunmehr die Annäherung an die Gestalt Jesu auf dem Weg über das zeitgenössische Judentum erfolgte.

Th., der sich bereits durch seine bisherigen Veröffentlichungen zum historischen Jesus als Vertreter der "dritten Frage" ausgewiesen hat, zieht in Teil III aus diesem Umbruch methodologische Konsequenzen, indem er vorschlägt, das Differenzkriterium durch das "Kriterium historischer Plausibilität" zu ersetzen. Dieses soll die bisher durch das Differenzkriterium vertretenen berechtigten Fragestellungen zwar aufnehmen, aber sie aus den bisherigen Engführungen herauslösen und sie so erweitern, "daß ein theologisch und geschichtswissenschaftlich plausibles Konzept erreicht wird" (26). An die Stelle von Abgrenzung soll eine "sachliche Verhältnisbestimmung Jesu zu seinem Kontext und zu seiner Wirkungsgeschichte" treten, "in der sowohl Übereinstimmungen als auch Nichtübereinstimmungen, Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten herausgearbeitet werden" (176). Genau genommen handelt es sich also um einen Verbund mehrerer Unterkriterien.

So soll hinsichtlich des Verhältnisses Jesu zum Christentum die Frage nach der historischen Wirkungsplausibilität das DKC ablösen. Diese wiederum differenziert sich aus zwei Aspekten. Der Aspekt der Tendenzwidrigkeit sondert Überlieferungselemente aus, die zum generellen Überlieferungstrend querständig sind und darum historische Plausibilität beanspruchen können (z. B. die Taufe und der Kreuzestod Jesu). Der Aspekt der Quellenkohärenz wertet das gemeinsame Auftauchen von Zügen von Jesu Worten und Taten in unterschiedlichen Überlieferungskomplexen als Historizitätsindiz. Dabei wird das Anliegen des klassischen Kohärenzkriteriums zwar aufgegriffen, aber aus der Umklammerung eines vorgängig angewandten Differenzkriteriums gelöst und damit auf eine neue Basis gestellt.

Für die Bestimmung des Verhältnisses Jesu zum Judentum schlägt Th. das Kriterium der historischen Kontextplausibilität vor, das ebenfalls zwei Aspekte umfaßt: Der Aspekt der Kontextentsprechung besagt: "Je besser eine Überlieferung in den konkreten jüdischen Kontext Palästinas und Galiläas paßt, um so mehr hat sie Anspruch auf Authentizität" (183). Damit wäre das traditionelle DKJ auf den Kopf gestellt, allerdings nur fast; denn einschränkend wird gesagt: "Was innerhalb dieses jüdischen Kontextes ein eigenständiges Profil zeigt, werden wir eher Jesus als einem seiner jüdischen Anhänger zutrauen" (183). Der Aspekt der kontextuellen Individualität schließlich nimmt individuelle Züge Jesu im Rahmen des damaligen geschichtlichen Kontextes in den Blick.

Jesusforschung ist - wie Th. immer wieder betont - nur als Suche nach einem Worte und Geschichte Jesu umfassenden Gesamtbild sinnvoll. Denn nur durch den Aufweis, daß sich durch die Kohärenz verschiedener Elemente im Leben Jesu (und nicht etwa nur seiner rekonstruierten Sprüche) eine einmalige Konstellation im Kontext des Judentums und zugleich ein sinnvoller wirkungsgeschichtlicher Zusammenhang mit dem entstehenden christlichen Glauben ergibt, läßt sich Plausibilität evozieren. Freilich darf sich ein solches Gesamtbild nicht zum Kriterium verselbständigen, das als solches ausscheidend auf bestimmte Inhalte wirkt. Es bedarf immer neuer kritischer Überprüfung anhand der einzelnen Überlieferungen (214). Verstehe ich Th. recht, so setzt er damit das klassische Modell des hermeneutischen Zirkels in sein Recht (freilich ohne diesen Begriff zu gebrauchen).

Abschließende hermeneutische Überlegungen gelten - wie könnte es anders sein? - der Frage nach Lessings "breitem Graben". Historische Jesusforschung kann diesen Graben zwischen hypothetischem Wissen und unbedingtem Glauben nicht überspringen, da alles in ihr mehr oder weniger hypothetisch ist. Aber sie kann und darf in ihn - und damit in die Flut von Hypothesen - getrost hineinspringen und in ihm zu schwimmen versuchen, im Vertrauen auf Gottes Gnade, die auch unsere hypothetischen Versuche akzeptiert.

Nicht nur für diesen beherzigenswerten Rat gebührt Th. Dank, sondern vor allem für die durch langen intensiven Umgang mit der Problematik geschärfte gedankliche Präzision, mit der er das Feld der Jesusforschung durchpflügt hat. Als methodenkritisches Exerzitium erschließt diese Studie forschungsgeschichtliche Zusammenhänge, eröffnet weiterführend Perspektiven und lädt zum kritischen Weiterdenken ein.

Der von W. beigesteuerte Teil II ("Das Differenzkriterium in der Geschichte der Jesusforschung") ist insofern eine willkommene Bereicherung, als er umfangreiches forschungsgeschichtliches Anschauungsmaterial zur Begründung von Th.s Kritik am Differenzkriterium beisteuert. Er ist schwerpunktmäßig konzentriert auf die Analyse von vier für ihre Entstehungszeit repräsentativen Jesusbüchern, in denen das Differenzkriterium in je unterschiedlicher Weise eine Rolle spielt. So erscheint es bei W. Bousset als DKJ, indem es die Differenz Jesu zum - als legalistisch abgewerteten - Judentum herausstellt und damit zugleich Raum für ein vom individualistischen Persönlichkeitskult beeinflußtes Persönlichkeitsbild Jesu schafft. R. Bultmann betont hingegen, Impulse der dialektischen Theologie aufnehmend, im Sinne des DKC die Differenz Jesu zum Urchristentum, um freilich zugleich Jesus als Abschluß und Erfüllung bzw. als Überwinder des Judentums darzustellen. G. Bornkamm erscheint insofern als typischer Vertreter der "neuen Frage", als er sich um eine Neuentdeckung des für den christlichen Glauben relevanten historischen Jesus bemüht und dabei die Differenz Jesu zum Judentum wieder stärker betont. Als Repräsentant der "dritten Frage" wird J. H. Charlesworth (Jesus within Judaism, 1988) herangezogen, der die Korrespondenz mit dem Judentum betont, das DKC jedoch beibehält.

Allerdings bietet dieser Abschnitt nicht nur unnötige Doppelungen zu den Ausführungen von Th., sondern auch in sich einigen sachlichen Leerlauf. Der vorherrschende lockere Erzählton geht weithin auf Kosten sprachlicher und gedanklicher Präzision. So hätte man sich manche Urteile (z. B. 141 über G. Bornkamm; 145 über L. Goppelt) etwas differenzierter gewünscht.

Eine hilfreiche Ergänzung bietet der Anhang in Gestalt einer chronologisch angeordneten, von M. Luther (1521) bis J. Becker (1996) reichenden Sammlung von Zitaten zur Thematik des Differenzkriteriums.