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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

610–612

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lyke, Larry L.

Titel/Untertitel:

King David with the Wise Woman of Tekoa. The Resonance of Tradition in Parabolic Narrative.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1997. 211 S. gr.8 = Journal for the Study of the Old Testament, Suppl.Series 255. Lw. £ 40.-. ISBN 1-85075-826-3.

Rezensent:

Uwe F. W. Bauer

Larry L. Lykes Buch ist eine leicht überarbeitete Fassung seiner Dissertation, mit der er 1996 an der Harvard University promovierte.

In der Introduction (11-23) nennt L. sein Ziel und seine These. Sein Ziel ist es, 1. zu zeigen, daß die Erzählung in 2Sam 14,1-20 "a complex accumulation of overlapping biblical topoi" (12) repräsentiert, und 2., ein methodologisches Modell zu entwickeln, das der "pluriform and polysemous quality of the Tekoite’s mashal and narrative" (16) gerecht wird. Seine These lautet, daß der postmodernen Multiinterpretabilität der gleichnishaften Erzählung ("narrative mashal") deren langer Entstehungssprozeß innerhalb der Volksgemeinschaft (Gunkel) entspricht; dieser Prozeß zeichne sich durch die multiple Verschmelzung von diversen Positionen und Neuinterpretationen als Teil einer interdependenten Traditionsbildung aus. Als Schlüssel zur Erreichung seines Ziels biete sich daher das Phänomen der Intertextualität der Hebräischen Bibel (als des Niederschlags besagter Traditionsbildung) an; Intertextualität begegne als "resonance" (= beiläufige Assoziation) und "allusion" (= intendierte Assoziation); zu untersuchen sei, welche beiläufigen und intendierten Assoziationen zwischen der gleichnishaften Erzählung der weisen Frau von Tekoa und anderen Texten der Hebräischen Bibel bestünden.

Neben der Einleitung enthält das Buch drei Kapitel und eine Schlußausführung (sowie eine Bibliographie und einen Index der behandelten Stellen und angesprochenen Autoren).

In Kap. 1, "Your Maidservant had Two Sons" (25-89), geht L. von 2Sam 14,6 aus; der Vers enthalte vier Schlüsselelemente des Topos Geschwister- bzw. Bruderstreit (s. u.), anhand derer L. in Genesis alle Erzählungen und deren frühe Interpretation (Midrasch) untersucht, in denen der Topos ausgearbeitet sei: primär Kain/Abel, Ismael/Isaak, Jakob/Esau und Josef/seine Brüder. Er setzt sie in Beziehung zu entsprechenden Erzählungen des Thronfolgekomplexes: namenloser Sohn/Salomo (2Sam 12), Abschalom/Amnon (2Sam 13), Salomo/Adonija (1Kön 1 f.). Das Ergebnis ist: V. 6 "functions as a synecdoche for the topos of sibling rivalry and brings with it an accumulation of related traditions that comprise an ongoing process of rumination on the notion of chosenness and its consequences" (84). Konkret ließen die vier Schlüsselelemente folgende Motive des Topos assoziieren: 1. "Und deine Magd hatte zwei Söhne" -> zwei streitende Brüder (z.B. Ismael/Isaak, Amnon/ Abschalom); 2a. "sie stritten sich beide" -> Usurpation des jeweils jüngeren Sohnes (z. B. Jakob, Abschalom); 2b. "auf dem Feld" (zus. mit Dtn 22,23-27) -> Tötung (Abel, Amnon), Vergewaltigung (Schwester Abels durch Kain [Midrasch], Tamar); 3. "und da kein Retter zwischen ihnen war" -> Intervention zugunsten des erwählten Sohnes durch Mütter (z. B. Rebekka, Batseba) bzw. Festhalten an dem nichterwählten Sohn durch Väter (z. B. Jakob, David); 4. "schlug der eine seinen Bruder nieder und tötete ihn" -> Brudermord als schwerwiegendster Fall (Kain, Abschalom).

Ausgehend von 2Sam 14,1-11 möchte L. in Kap. 2, "Help, O King" (90-126), den Topos "woman with a cause" umreißen und zeigen, wie sich Davids Situation von diesem Topos her erhellt. Dazu analysiert er die Assoziationen zwischen 14,1-11 und Dtn 25,5-10; Gen 38 und Ruth einerseits (Leviratsehe) sowie zwischen 14,1-11 und 1Kön 3,16-28; 2Kön 6,24-30; Ester, 1Sam 25,23-35 und besonders 1Kön 1 andererseits (Frauen, die am Hof eine Entscheidung zugunsten geliebter Personen suchten; "women at court"). Hinsichtlich der zuerst genannten Assoziationen (Leviratsehe) ergebe sich, daß David das Leben seines Sohnes schonen solle, um die Genealogie zu wahren (obwohl er damit ironischerweise den Usurpator stütze) und daß er - an Tamar und Ruth erinnert, die Garant seines eigenen Stammbaumes gewesen seien - einen zusätzlichen Impuls dazu erhalte. In bezug auf die zuletzt genannten Assoziationen ("women at court") träten - neben dem Impuls, Abschalom zu schonen - im wesentlichen die Motive "Weisheit (bzw. deren Mangel) des Königs", "weise Frau" und "Verpflichtung zur Bewahrung des Feindes des Königs (Usurpator)" hervor. Betrachte man die Topoi "Bruderstreit" und "woman with a cause" nicht isoliert, zeige sich in 2Sam 14,1-11 ihre Überschneidung.

In Kap 3, "Like Water Poured Out on the Ground" (127-185), arbeitet L. anhand eines Vergleichs von 1Kön 20,35-43; Ri 9,6-20 und 2Sam 12,1-12 implizit sechs Merkmale der Gattung "gleichnishafte Erzählung" heraus: 1. Grundsätzlich enthalte die Gattung drei Hauptelemente, "the mashal proper, the response, and the application" (156). 2. Die eigentlichen Gleichnisse (mashal proper) seien zwar sorgfältig, aber nicht hunderprozentig in ihre jeweilige Erzählung integriert und böten 3. die Möglichkeit multipler Identifikation durch diejenige Person, an die sich richteten. 4. Gleichnishafte Erzählungen wiesen wichtige Assoziationen zu ihrem engeren sowie 5. zu ihrem weiteren literarischen Kontext auf und seien 6. mehrdeutig.

Diese Gattungsmerkmale wendet L. anschließend auf 1Sam 14,1-20 an. Zu 1.: Der Text enthalte alle drei Hauptelemente, V. 1-7(4-7) (mashal proper), V. 8-11 (response) und V. 12-20 (application). Zu 2.: Die Witwe im eigentlichen Gleichnis z. B. habe zwei Söhne, während David außer Abschalom und Amnon noch weitere Söhne habe. Zu 3.: David könne sich mit der Tekoaiterin (Mitleid mit dem lebenden Sohn) oder deren Familie (Rache für den getöteten Sohn) identifizieren. Zu 4.: Mittels des Wortspiels lba (= fürwahr) in V. 5 und lba (= trauern) in V. 2 und 1Sam 13,37 z. B. sei die gleichnishafte Erzählung mit der vorhergehenden Erzählung verbunden. Zu 5.: V. 2-3 z. B. verwiesen auf die weiter entfernten Erzählungen in 2Sam 20 u. 1Kön 1. Zu 6.: V. 13-14 z. B. ließen David drei Optionen offen: a) Abschalom zu töten, b) ihn nach Jerusalem zurückzuholen oder c) ihn im Exil zu lassen.

In seinem empfehlenswerten Buch wird L. seiner Aufgabenstellung im wesentlichen gerecht: 1. 2Sam 14,1-20 wird mittels der Analyse der assoziativen Beziehungen zu anderen Texten des engeren und entfernteren literarischen Kontextes der Hebräischen Bibel als komplexes Gebilde aus sich überlappenden Topoi (resonance of tradition) und multiinterpretabiler Qualität verständlich. 2. Insbesondere wird das Profil der Topoi "Bruderstreit" und "woman with a cause" sowie, zumindest im Umriß, die Gattung "gleichnishafte Erzählung" erkennbar.

Kritisch anzumerken wäre folgendes: 1. Die Tatsache der vielfältigen Assoziationen zu anderen Texten, die 2Sam 14,1-20 eröffne, zeigt L. zufolge, daß der Text nicht von einem individuellen Autor/Redaktor stammen könne. L.s Hinweis, es sei unwahrscheinlich, daß ein Individuum einen solch hohen Grad an Intertextualität herstelle (20), wie es der Zusammenfluß vielfältiger narrativer Traditionen in einem langen Prozeß mit sich bringe, ist jedoch nur eine unbewiesene - und m. E. auch unbeweisbare - Behauptung. Damit kommt L.s Hauptthese - deren Betonung für die Analyse von 2Sam 14,1-20 m. E. gar nicht notwendig ist -, nämlich die gleichnishafte Erzählung bzw. gleichnishafte Erzählungen im allgemeinen seien das Ergebnis eines langen Prozesses interdependenter Traditionsbildung, auf schwache Füße zu stehen.

2. Die mangelnde Korrespondenz der eigentlichen Gleichnisse mit den Erzählungen, deren Teil sie bilden, zeige, daß erstere unabhängig von letzteren entstanden sein müßten. Die mangelnde Korrespondenz der Gleichnisse mit den Erzählungen kann jedoch ein bewußtes gestalterisches Mittel eines Autors/Redaktors sein (z. B. eine List, vgl. 13, wo L. die Position Rosts wiedergibt); außerdem besteht das Charakteristische eines Gleichnisses ja in der Vergleichbarkeit, nicht in der Identität zweier Bereiche; eine völlige Entsprechung wäre langweilig. Kurz: gleichnishafte Erzählungen können durchaus das Werk kreativer Autoren gewesen sein.

3. L. charakterisiert seine Methode zugleich als synchron und diachron. Außer der vagen Feststellung, daß die Gleichnisse/die gleichnishaften Erzählungen in einem langen interdependenten Traditionsbildungsprozeß entstanden sind ("diffuse origins" [192]), erfährt man in diachroner Hinsicht jedoch nichts Konkretes.

4. Die angekündigte Unterscheidung zwischen beiläufigen und intendierten Assoziationen (Intertextualität) erfolgt nicht bzw. erweist sich in der Praxis als undurchführbar (193); sie sollte deshalb nicht als Aufgabe genannt werden (18 f.). - 5. Die Textbasis für die Erarbeitung einer Gattung "gleichnishafte Erzählung" ist ziemlich schmal; entsprechend äußert sich L. hinsichtlich der Kriterien auch nur implizit (vgl. jedoch 156 f.) und nennt keinen klar definierten Katalog von Gattungsmerkmalen. Zudem ist die Mehrdeutigkeit als ein Kriterium der gleichnishaften Erzählungen fraglich. Auch reine Erzählungen sind mehrdeutig, wie M. Sternberg eindrucksvoll am Beispiel von 2Sam 11(-12) gezeigt hat ("Gaps, Ambiguity, and the Reading Process", The Poetics of Biblical Narrative, 1985, 186-229) - der Verweis auf Sternberg als Vertreter einer eindeutigen Interpretation [20] ist deshalb nicht am Platz.